Swan von KleinMim ================================================================================ Kapitel 9: Es kann auch zu leicht sein -------------------------------------- Die erwartete Antwort kommt erst am nächsten Vormittag. Nathan sagt, er sei ein wenig im Stress, da er bald Prüfungen in Informatik hätte, und er klingt auch so, denn in der Nachricht hält er sich kürzer als sonst. Aber das Gute ist, dass er einem neuen Treffen zustimmt. Er sagt, dass diesmal ruhig er das Stückchen in meine Stadt fahren könnte und dass ich doch etwas vorschlagen soll. Jetzt bin ich am Überlegen, ob ich bei ihm anrufen soll. Mir ist der Gedanke schon gekommen, nachdem ich die Mail geschrieben habe, aber dann habe ich mir gedacht, dass es ein bisschen aufdringlich wäre, nach dem Mailen sofort auch noch anzurufen. Jetzt bietet es sich zwar an, aber wenn er im Stress ist, weiß ich nicht, ob er ein Telefonat auch noch gebrauchen kann. Mit dem Gedanken an meinen Versuch vor zwei Jahren entscheide ich mich dafür, dass ich es ruhig machen kann. Ich werde eben einfach fragen, ob ich ihn im Moment störe und später noch einmal anrufen soll. Es ist doch eigentlich kein Problem, ich mache es nur zu einem, wenn ich zu lange zögere. Und falls er diesmal wieder nicht ans Telefon gehen sollte, wie das erste, letzte und einzige Mal, als ich versucht habe, ihn anzurufen (das eine Mal nicht mitgerechnet, als er mich letzte Woche aus dem Bett geklingelt hat und ich dann zurückgerufen habe), werde ich nicht demotiviert sein wie damals. Ich werde es einfach ein anderes Mal wieder probieren. In den weiteren zwei Jahren hat sich nämlich noch mehr geändert. Ich habe mir Nathans Nummer aufgeschrieben, als ich ihn vergangene Woche zurückgerufen habe. Sie steht auf einem einfach gelben Post-It, das an der Heizung im Flur klebt. „Nathan Grean“ habe ich dazugeschrieben, und eigentlich hätte es auch ein einfaches „Nat“ getan. Aber ich dachte mir, unter der Flut von ausgeschriebenen Namen, die sich da schon sammeln (es ist fast ein halber Block Post-Ist), sähe es seltsam aus. Zu differenziert von den anderen. Ich wähle und stelle fest, dass ich überhaupt nicht nervös bin. An das Telefonieren habe ich mich schon seit langer Zeit gewöhnt und an Nat mittlerweile ebenfalls. Es ist keine so große Sache mehr. Nicht mehr so ein nervöses Prickeln, das mich minutenlang überlegen lässt, ob ich das auch wirklich machen soll, ob ich denn auch weiß, was ich sagen kann. Jetzt, wo sich das Gefühl eingestellt hat, vermisse ich es fast ein wenig. Manchmal ist es ganz nett, ein wenig aufgeregt zu sein, denn die Freude steigert sich dadurch, und selbst Entäuschungen werden abgeschwächt, da man sich dann zumindest nicht mit der gefürchteten Situation konfrontieren muss und sie noch ein bisschen hinauszögern kann. Diesmal ertönt das Freizeichen, natürlich. Und nachdem ich es viermal läuten lassen habe, hebt Nathan ab. „Nathan Grean.“, meldet er sich. „Nat. Ich bin’s, Olivia.“, antworte ich. „Ah, Liv.“ Ich höre ein Lächeln in seiner Stimme. „Wie geht es dir?“ „Gut.“ Ich überlege, ob ich das noch weiter ausführen kann, aber mir fällt nichts ein. Dass heute noch nicht viel bis gar nichts passiert ist, muss ich ihm ja wohl nicht erzählen. „Und dir?“ „Auch gut, danke.“ „Also, ich glaube, du kannst dir denken, wieso ich anrufe... wir wollten uns doch noch mal treffen.“, erinnere ich. „Aber ja, natürlich. Und diesmal werde ich das Stückchen fahren, wie gesagt.“, beteuert er noch einmal. „Ja, das ist mir Recht.“, sage ich belustigt. „Wie wäre es mit dem ‚Pharao’? Das ist nicht mehr so voll wie früher, aber immer noch mein Lieblingslokal.“ Es war eines der ersten, die ich besucht habe. Ich war bereits mit sechzehn dort, als es verraucht war, auf jedem Tisch ein Grüppchen Jugendlicher mit Wasserpfeife saß und die Musik viel zu laut und nebenbei auch vom Stil her eher Lärm war. Das alles hat sich im Laufe der Jahre verändert, und das „Pharao“ ist für Jugendliche out geworden. Für mich war es immer genau richtig, es ist sozusagen mitgewachsen. Als Nathan zustimmt (viel wird ihm ja nicht übrigbleiben, man schließt ein Lokal ja nicht von vorneherein nur wegen dem Namen aus und mehr weiß er ja doch nicht davon), erkläre ich ihm die Buslinie und den Weg von dort zum Lokal, der leider ein bisschen komplizierter ist als der, den ich gehen musste, aber ich traue ihm schon zu, dass er sich nicht gleich verirren wird. Heute ist Freitag, wir verabreden uns für morgen um halb neun. Ich sage Nathan noch, dass ich wahrscheinlich meine Freundinnen mitbringen werde, und schlage ihm vor, dass er das ruhig auch machen kann. Ich weiß nämlich, dass sich momentan wahrscheinlich sowieso nicht viel zwischen Nat und mir ergeben wird, und selbst wenn, können wir uns immer noch zurückziehen, seine Freunde werden sich schon mit meinen verstehen. * Bis zum Freitag Abend passiert nicht viel – es passiert sogar erschreckend wenig. Ich rufe irgendwann noch Sammy, Gemma und Meredith an, die sich alle drei die Zeit nehmen wollen. Das wundert mich auch absolut nicht, meine Vermutungen: Gemma, weil sie neugierig ist, Sammy, weil sie nett ist und Merry, weil sie gute Aussichten wittert, wenn Nathan seine beiden Freunde mitbringt. Der Nervositätskontrast zwischen Mittwoch und heute, auch wenn nur zwei Tage dazwischen liegen, ist verheerend und fast unglaublich. Es ist wie wenn man vor einem Erlebnis steht, das man sich fürchterlich vorstellt, und nachdem man gemerkt hat, dass es das gar nicht ist, ist man beim nächsten mal gelassener. Nur, dass ich mir ein Treffen mit Nathan weder am Mittwoch noch heute in irgend einer Weise furchtbar vorstelle. Ich ziehe ohne besonders langes überlegen ein schwarzes Shirt im Empireschnitt, das mit pinkfarbenen Kirschen bedruckt ist, und meine Röhrenjeans an. Dann ziehe ich wegen der lausigen Kälte draußen noch einen schwarzen, weichen Wollpullover mit weitem Rollkragen an. Es ist erst kurz vor acht, als ich aus dem Haus gehe, und ich bin in fünf bis zehn Minuten drüben beim „Pharao“. Ich habe mit Meredith, Samantha und Gemma ausgemacht, dass wir uns früher treffen, allerdings ohne einen besonderen Grund dafür zu haben. „Heeey, Liv.“, werde ich schon beim Eintreten empfangen. Gemma, die erste, die ich dort antreffe, sieht freudig und aufgeregt aus. Ich habe sie jetzt sicher schon eine Woche nicht mehr gesehen und schließe sie erst einmal in die Arme. Ihre dunklen Haare ringeln sich an den Spitzen elegant, und sie riecht irgendwie nach Fruchtgummi. Das liegt an dem Duschgel, das sie verwendet, irgend etwas von Body Shop, glaube ich. „Wie war deine Woche?“, fragt sie, während sie ein Glas mit irgend einem Getränk (bei Gemma tendiere ich zu der Annahme, dass es sich sehr wohl um etwas Alkoholisches handelt), das sie irgendwo abgestellt haben muss, wieder herzaubert, und ich meine Jacke ausziehe und auf einen bereits behängten Garderobenständer in einer Ecke hänge. „Angenehm, wenige Vorlesungen, nicht sehr stressig.“, fasse ich kurz. „Und wie war’s bei dir?“ „Auch so in der Art.“ Sie zuckte ihre Schultern und geht in Richtung eines Tisches, und ich folge ihr. „Sammy ist noch nicht da, Mer ist da irgendwo. Sie hat sich unter irgend eine Gruppe gemischt.“ Gemma hebt ein bisschen ihre Augenbrauen und nippt an ihrem Drink. Ich schiele durchs Lokal und erblicke irgendwo zwischen ein paar fremden Mädchen- und Männerrücken den bekannten honigblonden Haarschopf. Seit dem Sommer hat Meredith sich einen frechen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, einen Bob, bei dem ihre Haare in alle Richtungen stehen. Jetzt kann man selbst an ihrer Frisur ihren Charakter erkennen. Es steht ihr ausgezeichnet. Meredith trägt einen weinroten, dünnen Pulli und darüber ein elegantes schwarzes Gilet zu einer ebenfalls schwarzen, eng sitzenden Hose und Stiefeln mit hohen Absätzen. Wie immer stilvoll, wenn auch nicht ganz so extravagant wie sonst. Ich grinse Gemma zu. „Vielleicht gesellt sie sich ja später doch irgendwann zu uns.“ „Ich nehme an, das kommt darauf an, wie gut Nathan und seine Freunde aussehen.“, vermutet Gemma und schürzt die Lippen. „Hey, Mädels.“, kommt es auf einmal von links, und Sammy ist aufgetaucht. Schon wieder hat sie ganz seidige, frisch gewaschene Haare und sieht sanfter und entspannter aus denn je. Ich drücke ich sie kurz, und Gemma tut es mir gleich. „Und? Ist unsere Partykönigin auch schon da?“, fragt Sammy sinnloserweise. Gemma und ich nicken unisono mit den Köpfen in Merediths Richtung. Samantha stößt ein kurzes, helles Lachen aus und lässt sich dann auf dem dritten Stuhl an unserem Tisch nieder. „Und, wie geht es euch momentan? Auch keinen Stress momentan?“, fragt sie, nachdem sie sich ein bisschen zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen hat. Sammy trägt einen Tweedrock und dunkelbraune Stiefel, und sie hat wie immer eine gewisse Eleganz an sich. Die Frage stellt sie eigentlich grundsätzlich eher Gemma, denn mich trifft sie regelmäßig und teilt immerhin auch ein Studienfach mit mir. „Noch nicht. Die Prüfungen rücken dann sicher früher näher. als mir lieb ist.“, sagt Gemma ein wenig gleichgültig. Momentan sind wir in Smalltalk vielleicht alle nicht so bewandert. Aber mir fällt gerade etwas ein. „Ich bin am Überlegen, pb ich Philosophie schmeißen soll.“, verkünde ich. Die Entescheidung hängt übrigens wirklich nicht ausschließlich mit Nathan zusammen – ich habe schon vor dem Gespräch mit ihm darüber nachgedacht, es zu lassen. „Am Anfang fand ich es noch interessant und fesselnd, aber mittlerweile kommt mir vor, am Philosophieren ist überhaupt nichts Besonderes. Irgendwie scheinen das alle Leute zu werden, die entweder nichts Vernünftiges studiert haben oder zu viel.“ „Am Anfang fandest du die ganzen verschiedenen Philosophien doch noch interessant.“, meint Sammy. „Hmm, schon. Da kannte ich mich auch noch nicht so aus... wir haben in der Schule ja ein paar kurz angeschnitten, und da haben mich die komplexen Modelle fasziniert. Ihr wisst schon, die Erkenntnistheorie mit a priori und a posteriori...“, erinnere ich. „Ooh je. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich glaub, das habe ich schon damals nicht gecheckt.“, stöhnt Gemma. „Ich auch nicht, und gerade das fand ich so anziehend daran.“, grinse ich. „Du bist schon ein bisschen irre.“, sagt Gemma liebevoll. Mittlerweile ist es kurz vor halb. Ich gehe mir etwas zu Trinken bestellen, wieder nur ein Cola, denn an einen eher auf Gespräche ausgerichteten Abend wie diesem habe ich schließlich keine Lust, mit lauter Besoffenen reden zu müssen, also werde ich mich selbst auch nicht vollaufen lassen. Kurz nachdem ich mich wieder niedergelassen habe, taucht auch schon Nathan mitsamt zwei anderen Typen auf. Der eine ist blond, mit wirren Haaren, einem offenem, daueramüsiertem Blick und einem schelmischen Blitzen in den blauen Augen und wirkt ein wenig überheblich, aber durchaus nicht auf unsympathische Art. Der andere hat schwarze Locken, einen Drei-Tage-Bart und sieht intelligent aus, aber nicht auf unsympathische Klugscheißer-Art. Ich wette, der Blonde ist Immanuel und der mit den Locken Hector. „Hallo, Liv.“, sagt Nathan, gibt mir die Hand und küsst mir links und rechts auf die Wange. Dann geht er sofort zur Vorstellung über. „Das ist Immanuel, und das ist Hector.“ Na also, ich hatte Recht. Ich gebe auch ihnen die Hand. „Das ist Gemma, und das ist Samantha.“, stelle auch ich meine Freundinnen vor. Kollektives Händereichen. Auch Meredith scheint gewittert zu haben, dass langsam ein paar Leute mehr auftauchen, und löst sich von der Gruppe, die sie vorher neu kennen gelernt hat. Sie begrüßt Sammy und mich und dann die männlichen Neuankömmlinge. Irgendwann ist die ganze Begrüßerei endlich abgeschlossen, und wir quetschen uns zu siebt um einen Tisch. In der großen Runde ist es kaum möglich, dass Mangel an Gesprächsthemen herrscht, aber diese Furcht hätte ich diesmal ohnehin nicht gehabt. Wir plaudern, alle lernen sich kennen. Meredith versteht sich wie angenommen sofort mit den Jungs, besonders mit Immanuel – Charakter wie die beiden ziehen sich einfach an – und beginnt sofort zu flirten, was sie aber auf erstaunlich unaufdringliche Art beherrscht. Hector erzählt eine ganze Menge, aber nie auf die Weise, dass man den Verdacht bekommt, dass er sich gern reden hört. Er verblüfft uns mit irgendwelchen Fakten, bringt Anekdoten an und macht dann immer wieder zurückhaltende Pausen, da er sich offensichtlich trotz seiner Redseligkeit nicht in den Vordergrund drängen will. Ich mag Nathans Freunde auf Anhieb, und umgekehrt scheint auch er sich mit meinen Mädels zu verstehen. Als ich mir aber ein neues Getränk holen gehe, folgt Nat mir überraschenderweise. „Hey.“, sage ich sinnloserweise. „Hey.“, grinst er. „Sie verstehen sich ja scheinbar alle gut.“ „Allerdings.“ Ich lächle und hieve mich auf einen Barhocker. Ich bestelle mir mein neues Getränk, und Nathan tut es mir gleich, während er sich auf den Hocker neben mir setzt. Dann werde ich eben eine Weile an der Theke sitzen bleiben, solange mir Nathan Gesellschaft leistet. Die Gruppe ist nett, aber Zweisamkeit momentan noch netter. Da ich keine Erwartungen habe, können sie ja auch nur übertroffen werden. „Und, wie gefällt es dir hier?“, frage ich, weil mir sonst nichts einfällt. „Ich finds gut hier. Nicht zu düster und stickig, die Musik ist auch gut.“, sagt er mit einem zufriedenen Nicken. „Ja. Darauf haben sie auch lange hingearbeietet.“, lache ich. Er lächelt zurück, und wir schweigen einen Moment. „Wie geht es dir eigentlich?“, will ich schließlich wissen. Er kann die Frage auslegen, wie er will. Entweder auf den Stress bezogen oder auf sein Beziehungstrauma, wobei ich nicht glaube oder sagen wir: nicht zu hoffen wage, dass es sich in den letzten Tagen gravierend gebessert haben kann. „Die Prüfung war gestern, also hat sich der Stress wieder ein bisschen gelegt.“ Natürlich entscheidet er sich für diese Richtung. „Und wie war’s? Wie ging es dir bei der Prüfung?“ „Ich glaube, das hat schon gepasst.“ Er zuckt die Schultern. Ich ziehe in Betracht, doch noch nach der anderen Sache zu fragen. Aber was sollte ich denn genau sagen? ‚Hast du in den letzten Tagen zufällig wieder gelernt, Vertrauen zu fassen?’ Das geht nicht wirklich, also verwerfe ich die Idee. Die Situation ist ein wenig angespannter als vor ein paar Tagen. Auf meiner Seite liegt es daran, dass ich im Moment einen Handlungsdrang habe. Ich möchte irgend etwas sagen oder tun, bin auf einmal ungewohnt ungeduldig, würde ihn gerne küssen oder wenigstens richtig flirten. Aber all das traue ich mich nicht, solange die Gefahr besteht, dass eine falsche Bewegung ihn in die Flucht schlägt. Nathan scheint irgendwie meine Gedanken lesen zu können. „Ich hab über das nachgedacht, was du mir gesagt hast... und ich glaube, ich sollte echt langsam über all das hinwegkommen.“, sagt er. Ich sehe ihm fragend ins Gesicht und versuche, irgendwie zu ergründen, ob das irgend eine Aufforderung sein soll, oder ob er mir das bloß sagt, weil er mir damit danken will. Und meint er es ernst? Will er sofort damit anfangen, etwas zu ändern? Ich finde die Antworten nicht, und darum weiß ich auch jetzt nicht, ob ich etwas machen soll. „Das ist gut. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und du solltest langsam einfach wieder du selbst werden.“, sage ich einfach und nicke ihm lächelnd zu. Dann nippe ich einmal an meinem Getränk, um eine Weile nichts sagen zu müssen. Nat dreht sein Glas wieder zwischen den Händen hin und her, wie am Mittwoch. Er wirkt, als wollte er gleich noch mehr erzählen – noch mehr Persönliches. Ich liege mit der Annahme richtig, wie sich herausstellt. „Ich selbst... ich selbst war mal sehr extrovertiert. Ich habe alle Leute angesprochen, die mir interessant vorgekommen sind, und das sind für mich sehr viele. Ich muss an ihnen nur einen besonderen Gesichtsausdruck, extravagante Gestik oder auch einen ungewöhnlichen Kleidungsstil entdecken, dann wird schon mein Interesse geweckt. In den letzten Jahren hat sich diese Ansicht gewandelt. Ich wollte nicht mehr mit Leuten reden, nicht dazu gedrängt werden, neues Vetrauen aufzubauen. Dieses Mädchen hat mir den Reiz am Vetrauen, wenn man es überhaupt so nennen kann, zunichte gemacht. Sie ist auf dem Vertrauen, das ich ihr entgegengebracht habe, herumgetrampelt und hat es gegen mich verwendet, selbst dann noch, als es mit uns eigentlich schon vorbei war oder vorbei sein hätte müssen.“ Er sieht auf. „Wie kann es sein, dass eine einzige Erfahrung alles so umkrempelt? Wie können sich all meine Prinzipien wegen einer einzigen Person verändern? Wie kann sich mein Leben wegen jemandem verändern, an dem mir nicht einmal mehr etwas liegt, seitdem ich eingesehen habe, wie unfair, wie brutal – eben auf psychische Weise – sie mich eigentlich behandelt hat?“ Er ist nicht traurig darüber, sondern wütend. Seine Mundwinkel zittern, und seine Faust, die auf der Theke liegt, sieht verkrampft aus. Es zeichnet sich alles auf seinem Gesicht ab: er spürt, wie die beiden letzten Jahre einfach so an ihm vorbeigezogen sind, eine Art Trance, aus der er sich einfach nicht befreien konnte. So viele Monate sind ihm einfach durch die Finger geschlüpft, verronnen wie der Sand in einer Sanduhr, ohne dass sich etwas verändert hat. Er hat es trotzdem geschafft, Freunde zu finden, aber auch ihnen vertraut er wahrscheinlich nicht nicht vollkommen. Er kann sich einfach noch nicht wieder hingeben. Sich fallen lassen, auch wenn er merkt, dass jemand hinter ihm steht, denn er weiß einfach nicht sicher, ob derjenige ihn wirklich auffangen will. Ich habe das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, aber ich muss mich gar nicht erst entscheiden, ob das überhaupt sinnvoll ist, ob es ihm den Halt geben würde, den er braucht. Wir sitzen auf Barhockern, und in dieser Position ist es ohnehin kaum möglich. Allerdings lege ich tröstend eine Hand auf seinen Arm. Ich merke, wie er sich wieder ein wenig entspannt. Seine Faust löst sich, er streckt die Finger wieder aus. Seine Gesichtszüge glätten sich kaum merklich. „Liv...“ Jetzt adressiert er mich direkt, und es wird auch ein Satz kommen, den er auf mich selbst richtet. „Irgendwo weiß ich doch, dass du jemand bist, dem ich vertrauen kann. Du bist jemand, der nicht auf den ersten Blick urteilt. Vielleicht urteilst du gar nicht. Ich weiß, dass du Dinge, die ich dir erzähle, nicht gegen mich verwenden würdest. Und trotzdem kann ich mich noch nicht vollkommen entspannen, die Barriere ist noch immer da... sie ist im Weg. Auch wenn ich sie schon lange durchbrechen will, und jetzt besonders.“ Mein Herz summt in meiner Brust, friedlich, froh und erwartungsvoll. „Aber du hast doch bereits Vertrauen gezeigt. Du hast mir erzählt, was deine Probleme sind, du hast mir sogar den Grund dafür erzählt. Das ist doch das, was du auf dem Herzen hast. Oder ist da etwa noch etwas? Etwas tieferliegendes?“ Dass ich das sage, ist eher ein Bluff. Ich bin mir sicher, dass es nicht noch mehr Ursachen gibt. Als er mir die Geschichte erzählt hat, war da viel zu viel Emotion, als dass er sie erfunden haben könnte. Und ich möchte das auch gar nicht herunterspielen, denn wie ihn dieses Mädchen behandelt hat, genügt schon für eine emotionale Krise. Vielleicht müssen schon vorher Zweifel da gewesen sein, aber auch die sind begründet. Gerade mit dreizehn und vierzehn hatte er noch diese ganzen Bewunderer, ungefähr die Zeit, in der es vielleicht mit den ersten jugendlichen Problemen beginnt. Er hatte damals niemanden, der sich für ihn persönlich interessierte. Gerade, als er erste beste Freunde und Vetraute bekam, muss kurze Zeit später auch diese Freundin gekommen sein, die dieses neu erworbene, erstmalige Vertrauen wieder in Stücke riss. „Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, das meine ich überhaupt nicht... ja, ich habe dir etwas anvertraut, aber...“ Er macht eine kurze Pause. „Vertrauen in diese Richtung habe ich wieder erlernt. Ich rede auch mit meinen Freunden, ich weiß, dass sie mir zuhören und nach Möglichkeit helfen werden.“ Dann meint er also wirklich die andere Art von Vertrauen. Und zwar die Art, dass man seine Gefühle an jemanden verschenkt. Immer noch sieht er die Gefahr, dass am Ende damit gespielt wird, dass sie ausgenutzt oder einfach nicht erwidert werden. Aber wenn er so denkt, müssen diese Gefühle bereits irgendwo vorhanden sein, versuchen wollen, durch die Oberfläche zu brechen, auch wenn er sie noch unterdrückt. Atemlos sehe ich ihn an. „Ich habe Angst.“, sagt er ganz leise, kaum hörbar. Aber dieser Satz trägt so viel Verletzlichkeit in sich, so viel Schutzbedürftigkeit und doch auch Offenheit, dass ich davon gerührt bin. „Es gibt immer beide Seiten. Um zu Glück zu kommen, muss man Risiken eingehen. Das Glück ist auf der anderen Seite eines Flusses, über den man irgendwie kommen muss. Und es kann sein, dass der Strom zu reißend wird und man abgetrieben wird, aber wenn man nicht versucht, hinüberzukommen, muss man immer auf der anderen Seite bleiben.“ Ich weiß nicht, ob ich mit der Metapher nicht zu dick auftrage. Aber ich finde sie überzeugend und anschaulich. „Und wenn am Ende des Flusses ein Wasserfall ist? Ich glaube, noch einmal ertrage ich es nicht, wenn es schief geht. Dann werde ich mich niemals wieder trauen.“ „Wenn du dich nie traust, weil die Gefahr besteht, dass du dich bei einem Fehlschlag nicht mehr traust, dann traust du dich doch erst recht nicht.“, grinse ich. Aber ich lege den belustigten Gesichtsausdruck sofort wieder ab. Bei diesem Thema, wo so viele Unsicherheiten liegen, sollte ich keinen Humor einbauen. Nathan könnte sich schnell ausgelacht fühlen. Doch er lächelt zurück. „Das klingt zwar ziemlich kompliziert, aber ich glaube, dass du damit völlig Recht hast.“ Er rutscht vom Barhocker, und ich weiß nicht, was er jetzt vor hat. Ist er im Begriff, zurück zu den anderen zu gehen? Ich stehe selbst auch auf und stehe ihm direkt gegenüber. Nathan rührt sich nicht, wirkt unschlüssig, und so bleibe auch ich, wo ich bin, und warte ab. Ich atme seltsamerweise vollkommen ruhig, obwohl ich so eine Ahnung habe, was jetzt passieren könnte. Seine Hand hebt sich kaum merklich, dann lässt er sie wieder sinken. Ach du meine Güte, ich kann diesen Moment doch nicht einfach verstreichen lassen. Er traut sich nicht, den Schritt zu tun, aber wieso kann ich nicht nachhelfen? Wieso muss es von ihm ausgehen? Ich warte noch ein paar Sekunden, obwohl mir kein Grund einfällt, warum ich das tun sollte. Doch als ich sehe, dass er den Kopf senkt, scheinbar im Begriff ist, loszugehen, trete ich nach vorne. Ich greife nach seinem Handgelenk, damit er nicht geht, er bleibt stehen, und ich küsse ihn. Noch während ich es tue, habe ich auf irgend eine Weise das Gefühl, dass es keine gute Idee ist. Ein Kuss mag noch nicht viel sein. Er mag zu nichts binden, nicht viel beweisen und in einem Fall wie diesem eine sehr impulsive Aktion sein. Aber er kann etwas bedeuten, etwas hervorrufen, und für Nathan heißt es, dass er es zulassen muss, etwas zu fühlen. Es muss noch keine Liebe sein, aber falls da irgendwo Gefühle in irgend einer Art für mich in ihm schlummern, dann kommen sie jetzt mit Sicherheit hoch. Vielleicht hätte ich ihm diese Entscheidung lassen sollen. Es ist kein schlechter Kuss, aber es ist auch kein langer Kuss. Es liegt daran, dass ich ihn beende, als mir klar wird, dass es nicht... was überhaupt? Nicht fair war? Nicht passend? Einfach nicht notwendig? „Tut mir Leid.“, sage ich und lasse meine Stimme mit voller Absicht emotionslos klingen. Eher so, als wäre ich ihm auf den Fuß getreten oder so etwas. Ich möchte einfach nicht zu ergeben klingen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, drehe ich mich herum und gehe zurück zur Gruppe. Sekunden nach mir setzt sich auch Nathan in Bewegung und folgt mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)