Die Söhne des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz") ================================================================================ Kapitel 6: In dem stures Hornvieh handzahm gemacht wird ------------------------------------------------------- Der nächste Tag begann für Lee um einiges vielversprechender, als der letzte. Niemand störte beim Tento, so dass er spielend seine innere Balance fand. Hatte die Frau etwa schon wieder verschlafen, oder ließ sie ihn einfach nur in Ruhe? Er beendete das Ritual pünktlich zu Beginn der Morgendämmerung mit der vorgeschriebenen Verbeugung gen Osten. „Sind DAS diese Spinenzen, die Du immer machst?“ Lee drehte sich um, nicht sonderlich überrascht, Zerfa am Eck stehen zu sehen. „Die was?“ „Spi ... nenzen ...?“, sagte das Mädchen etwas verunsichert. „Äh. Sperenzien?“ „Ja. Das.“ Sie nickte. „Hat Niha es so genannt?“, seufzte er. Sie nickte erneut. „Ja.“, bestätigte er, „Das waren die Sperenzien, die ich immer mache.“ „Aha. Musst Du die machen?“ „Ich muss nicht. Aber ich möchte.“ „Aha. Macht das Spaß?“ „Äh, irgendwie schon. Es ist sehr beruhigend ... und es entspannt.“ „Aha. Kann das Jeder machen?“ „Ja, sicher.“ Lee fragte sich, wohin diese Konversation noch führen würde. „Hm ... Niha auch?“ WAS? Der Tento war eine Ehrerbietung an die Sonne. Sich seine Chefin dabei vorzustellen war ... ziemlich amüsant. Wie er sie kannte, würde sie eher dastehen, die Hände in die Hüften gestemmt und in Richtung des Horizonts brüllen, die Sonne solle sich gefälligst erheben, aber zackig! Lee grinste breit. „Ja. Selbst Niha.“ „Aha. Wenn es einen beruhigt, dann werd ich ihr mal sagen, dass sie das machen soll.“ Bei diesem besorgten Tonfall horchte ihr Gesprächspartner auf. „Du denkst, sie sollte ruhiger werden?“ Zerfa schrummelte mit einem ihrer bloßen Füße auf dem anderen herum. „Sie ... hat sich gestern schlimm aufgeregt.“, murmelte sie. „Wegen mir.“ „Zerfa!“ Seine Hoheit begab sich in die Hocke. „Sie hat sich nur Sorgen gemacht.“ „Ja.“ Sie blickte nur stur nach unten. „Sie macht sich immerzu Sorgen. Und gestern wegen mir!“ „Hm. Du sorgst Dich selbst auch viel, oder?“ Dem folgte ein kurzes Schulterzucken. „Es ist einfach immer meine Schuld, wenn was passiert. Im Dorf sagen das alle.“ „Ach ... dann wohnen dort aber wirklich dumme Menschen, das muss ich schon sagen!“ „Weiß nicht ....“ Sie war mittlerweile so leise, dass er sie kaum verstand. „Aber ich weiß es. Manche Leute finden es eben sehr bequem, sich für alles einen Sündenbock zu suchen.“ „Ein Sündenbock?“ Jetzt linste Zerfa doch nach oben. „Ja, das ist jemand, dem man die Schuld zuschieben kann, wenn man zu faul oder zu dämlich ist, sich um das EIGENTLICHE Problem zu kümmern.“ Ihre Augen wurden groß. „Man darf doch aber nicht dämlich sagen!“ „Oh? Ich darf das. Hab ne Genehmigung dafür.“ Er grinste sie kurz an und wurde wieder ernst. „Wie geht´s eigentlich Deiner Hand?“ „Gut. Tut fast nicht mehr weh!“ „Freut mich, das zu hören.“ „Dass Du den Doktor geholt hast, war ... nett.“, sagte sie verlegen. „Danke!“ „Gern geschehen!“ „Magst Du Pfannkuchen?“, fragte sie unvermittelt. Lee vollzog den Gedankensprung mit Bravour. Schließlich ging es ums Essen! „Na klar!“, sagte er mit Inbrunst. „Ich durfte mir nämlich was zum Frühstück wünschen und ich dachte.“ Sie zwirbelte den Stoff ihrer Schürze zwischen den Fingern, „die magst Du bestimmt auch.“ „Ich mag alles! ... Außer Rosinen.“ „Keine Rosinen?“ Ihre großen, ernsten Augen fixierten ihn. „Igitt, nein! Rosinen sind leckere Trauben, denen man gemeine, fürchterliche Dinge angetan hat!“ Er wurde mit einem leisen, ansteckenden Kichern belohnt. „Du bist ein Vielfraß, oder?“ „Ja. Leider.“, gab er kläglich zu. „Aber ... isst Du auch Haare?“ Hä? „Haare? Nein. Wie kommst Du denn ... Oh. Verstehe. Jemand hat gesagt, ich ess euch die Haare vom Kopf, hm?“ „Ja.“ „Niha?“ „Ja.“ „Dachte ich mir. Aber, das ist nur so eine Redensart. Wenn .. Also äh ... wenn einer so viel isst, dass für die anderen nichts mehr übrig bleibt, dann ... äh ... machen sie Witze und fragen, ob er nicht auch noch ihre Haare essen will. Glaub ich.“, schloss er lahm. Himmel! Er war gar nicht gut im erklären. „Aber keiner isst Haare!“ „Doch! Katzen schon!“ „Äh ...“ Also, langsam kam er wirklich ins Schwitzen. „Sie spucken sie nur dauernd wieder aus.“, belehrte Zerfa ihn. „Ja, weil sie sie verschlucken.“, sagte Lee. „Beim Putzen. Also .... aus Versehen.“ „Aha? Ich dachte, sie würden sie fressen.“ In der Küche runzelte Niha gerade die Stirn.. Sie hatte Zerfa nach draußen geschickt, um Lee zum Frühstück zu holen. Doch weder ihre kleine Schwester, noch der Herr mit dem monströsen Appetit tauchten auf. Die Hände an der Schürze trocknend, ging sie zur Tür, und öffnete sie. „ZER ...“ Der Rest des Rufs wurde beinahe von einer breiten Männerbrust erstickt. „... fa?“ Da stand dieser Baum von einem Menschen wie aus dem Boden gewachsen im Türrahmen. „Ja?“, fragte Zerfa von unten. Niha erwischte sich dabei, in kristallgrünen Tiefen verloren zu gehen. „N ... nichts!“, stieß sie hervor. Die goldenen Funken unter der Oberfläche glommen matt. Sie sollte sich lieber dem Herd zuwenden. Schleunigst! Der war zwar auch heiß, aber bei weitem weniger gefährlich! „Ich wollte nur wissen, wo ihr bleibt.“ „Wir haben über Katzen gesprochen.“, sage Zerfa. „Über Katzen?“ „Und Rosinen.“ „Rosinen?“, echote Niha verwirrt. Aus den Augenwinkeln lugte sie zu ihrem Hilfsarbeiter. MUSSTE der Kerl unbedingt so ein Hingucker sein? „Ja. Lee mag sie nicht.“ „Ach wirklich?“, murmelte sie. „Wie schade, dass keine da sind.“ Niha hätte sich am liebsten einen selbst einen Tritt verpasst. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, vorerst nicht mehr auf ihn loszugehen. Schließlich war seine Hilfe gestern unendlich kostbar gewesen. Mittlerweile schien es jedoch ein Art Reflex zu sein, mit ihm zu zanken. Lee verdrehte prompt die Augen und verschränkte die Arme. Eigentlich hätte er es dabei belassen sollen, doch dann hätte er sich vermutlich die Zunge abgebissen. „Tja, wer braucht schon Rosinen, wenn es verdorrte Jungfer gibt?“ Beim Anblick ihrer erschrockenen Verletztheit, hätte er seine Zunge am liebsten geschnetzelt und in Salzlake eingelegt. In diesem Moment betraten zum Glück Maja und Jem, die ihre morgendlichen Aufgaben erledigt hatten, die Küche. „Pfannkuchen!!!“, rief Jem begeistert. „Ja, Du Rabauke.“ Niha würgte den Kloss, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte hinunter. Betont sorglos wuschelte sie ihrem Bruder durch die Haare. Was scherte es sie, wenn dieser Nichtsnutz sie für eine alte Jungfer hielt? Weit weg von der Wahrheit war er damit schließlich nicht ... Weh tat es seltsamerweise aber doch. „Geh schnell Deine Hände waschen.“ Jem raste zur Hintertür, um sich am dortigen Brunnen des überschüssigen Drecks zu entledigen. „Leckeeeeeeeeeeeeer!“ Diesem fachmännischen Urteil konnte Sich Seine Hoheit trotz schlechten Gewissens nur aus tiefster Seele anschließen. Seine Chefin mochte eine giftspuckende Chimäre sein, aber sie fabrizierte reines Ambrosia. Er kratzte seine ganze Willenskraft zusammen, um sich die Dinger nicht gleich dutzendweise einzuwerfen. Zerfa machte ein überaus zufriedenes Gesicht. Sie hatte gut gewählt, der seltsame Mann mochte ihr Wunschfrühstück! Beinahe zufriedenstellend satt, stand Lee schließlich auf, um sich an die Arbeit zu machen. Die Tiere zu versorgen klappte zwischenzeitlich ganz hervorragend, aber beim Pflügen traten erneut die zu erwartenden Komplikationen auf. Und wieder war von Niha, die ihm die Tücken des Objekts hätte näher bringen können, keine Spur zu sehen. Wo war sie nur? Nun ... die Pflugschar musste tiefer ins Erdreich, soviel war klar. Doch wenn er sein Gewicht auf den Pflug stemmte, bekam er einen nicht zu kontrollierenden Linksdrall. Bogenförmige Furchen waren bestimmt nicht der Sinn der Sache. Verdammt...! Wie würde sein Vater diese Situation meistern? Äh ... schlechtes Beispiel. Seine Lordschaft würde selbstverständlich pflügen LASSEN. Aber wenn keiner da wäre, die Befehle auszuführen? Analyse! Ja, Paps würde sich zuerst distanzieren, statt sinnlos vor sich hin zu fluchen und dann analysieren, statt zu resignieren. `Wenn Du etwas nicht begreifst, ändere einfach Deine Perspektive, mein Sohn. ´ Schwitzend und dreckig zog Lee den Pflug aus der Erde und drehte ihn um. Ha! Das Ding war krumm, und zwar auf eine Art und Weise, die nur einen Schluss zuließ... „Er ist kaputt.“, sagte Zerfa, die plötzlich aus dem Nichts erschienen war. „Ja. Offensichtlich.“ „Schon lange. Niha hat versucht, ihn zu reparieren, aber sie hat´s nicht hingekriegt.“ Das wunderte Lee kein bisschen. Dieses Monster wog Tonnen. „Da muss ein Schmied ran!“, rief Jem und kletterte über den Zaun. „Hm .... ein Schmied? Wollen doch erst mal sehen, was WIR ausrichten können.“, murmelte Lee. „Steht im Stall nicht ein Amboss?“ „Ja.“ „Gut! Holt ihr Beide mir den Leiterwagen? Dann können wir dieses Ding transportieren.“ Zwei eifrige Helferlein stoben davon, während der prinzliche Reparaturdienst den Pflug von Dreck und Erde befreite. Schnell war der Patient in den Stall gebracht, wo an ihm gehämmert, gebogen, erhitzt und geflucht wurde. Nach einer starken halben Stunde ging Lee in die Hocke und sah an der Pflugschar entlang, um sein Werk zu überprüfen. Perfekt! „So weit, so gut!“, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Jetzt lasst uns sehen, ob wir gradere Furchen ziehen.“ Sie zogen. Nur der verdammte Ochsesel zog nicht. Nach der ersten Euphorie, dass der Pflug seine Arbeit wieder ordnungsgemäß verrichtete, streikte das Zugtier. „Komm schon!“, schnaufte Lee. „Warum bist Du denn so störrisch? Du heißt doch nicht Niha!“ Die Kinder kicherten. „Du muss Boggo hinter den Ohren kraulen! Das mag er.“, erklärte Jem. „Wenn Du die richtige Stelle findest, macht er alles, was Du willst!“ Lee vergrub die Finger in der flauschigsten Stelle des Fells und spürte sofort, wie der Riesenochse sich entspannte. „Tatsächlich! Er ist ja wie ausgewechselt ...“, staunte er. Wie praktisch. Ob es bei seinem Boss auch so eine Stelle gab? Vielleicht die zarte, empfindliche Haut im Nacken? `Lee! Reiß Dich zusammen! ´ Aber das Bild einer nachgiebigen, willenlosen Niha ließ sich nicht so leicht abschütteln. Für Ablenkung sorgte Zerfa, die ihrem Bruder in nichts nachstehen wollte. „Wenn Du magst, zeige ich Dir morgen, wie man melkt.“, bot sie eifrig an. „Melken? Aber sicher!“ Seine Hoheit grinste dankbar in das ernste Kindergesicht.. Er hatte nämlich die Schnauze gestrichen voll davon, hier nichts auf die Reihe zu bekommen und gedachte dies zu ändern! Es wurde höchste Zeit, den Lebensraum Bauernhof genauer zu beleuchten und zu erobern. Für die nächsten zwei Stunden zog Lee gemeinsam mit seinem neuen Freund Boggo Furchen in den Acker. Er fand es seltsam befriedigend, die fruchtbare Erde zu lockern und ihren lebendigen, schweren Geruch zu atmen. War das vielleicht ein bisher unentdecktes Erbteil seiner Mutter? Jedenfalls hatte er die ihm aufgetragene Arbeit in weniger als der Hälfte der Zeit erledigt. Weit, weit weg beendete eine durchaus bedeutende Persönlichkeit ihr Mittagsmal. Wieder einmal seufzte die Feuerlady ... nun allerdings glücklich, statt sehnsuchtsvoll. Sie würde bald abreisen dürfen! Endlich! Die Frauen hier waren alle so ... eidudeidei. Gestern hatte Jin sich doch tatsächlich dabei ertappt, beim Teetrinken den kleinen Finger abzuspreizen! Sie vermisste ihr zu Hause! Hier konnte sie nie lauthals und schief singen. Im Feuerpalast konnte sie sich in ein abgelegenes Zimmer verziehen, um sich einzubilden, niemand könne ihre unmelodischen Ausbrüche hören. Webstühle? Völlige Fehlanzeige! So etwas Profanes gab es in dieser kultivierten Umgebung nicht. Und Drachen? Die waren hier höchstens auf der Tapete, nicht aber zum Anfassen, oder Necken, oder Küssen, oder... Herrje! Soweit war es mit ihr also gekommen?! Ohne Zuko schien sie rein gar nichts mit sich anfangen zu können. Das war ja sowas von armselig! Nach fast siebenundzwanzig Jahren Ehe sollte man nicht mehr von Sehnsucht zerfressen werden. Erst gestern war ihr klargemacht worden, dass sich das eigentlich nicht gehörte. Das gemütliche Nachmittags-Pläuschen der Damen hatte diesen ernsthaften „Hach ... mein Mann bringt mich noch zur Verzweiflung mit seinen Marotten“ Unterton bekommen, den die Frauen so gerne anschlugen. „Denkt er denn wirklich, ich würde mir DAS antun?“, fragte die Gattin eines Ministers. „Soll er die Provinzen doch alleine abklappern!“ Allseitiges Zungenschnalzen und Kopfschütteln hatte das kollektive Unverständnis gegenüber der Spezies Mann zum Ausdruck gebracht. Dann hatte Jin sich erwartungsvollen Blicken ausgesetzt gesehen. „Ganz im Vertrauen, Mylady ...“, wisperte die Herzogin von Quan „Seine Lordschaft hat doch bestimmt auch einige Anwandlungen?“ Anwandlungen??? Aber sicher! Und Mylady liebte es, wenn er sie bekam. „Äh ...“ „Man hört ja, er sei zuweilen recht ...“ Jahaaa? Was hörte MAN denn? „ ... schwierig.“ „Schwierig?“, fragte Jin harmlos. „Nun, sein Temperament ist ja kein Geheimnis. Er soll teilweise etwas unbeherrscht sein.“, meinte die Herzogin verschwörerisch. Wie Piranhas saßen die restlichen Damen da und warteten, dass Ihre Hoheit nun aus dem Nähkästchen plauderte. „Unbeherrscht?“ Jin hatte sich inzwischen versteift und saß stramm wie ein Brigademajor auf ihrem Sessel. „Seine Lordschaft“, sagte sie spitz, „ist nur DANN unbeherrscht, wenn es die Situation erlaubt oder erfordert. Und ich glaube NICHT, dass man in diesem Fall von Unbeherrschtheit sprechen kann. Außerdem, “, setzte sie mit ihrem gefährlichsten, zahnreichsten Lächeln hinzu, „Kann ich mir seiner Loyalität ebenso sicher sein, wie er sich der meinen!“ „Also ... ich ... ich bin doch nicht illoyal.“, hatte eine der jüngeren Frauen gestammelt, als sie die Anspielung begriff. Jin hatte lediglich vielsagend die Brauen gehoben und an ihrem Tee genippt. Wenn sie wollte, konnte sie nämlich auch pikiert tun! Sie ließ sich hier doch nicht dazu verleiten, über Zukos schlechte Seiten herzuziehen. Um sie zum Vorschein zu bringen, musste sie ihn sowieso erst wenden lassen. Falls sie doch einmal das Bedürfnis haben sollte, sich über ihn zu beklagen, tat sie das bei Tante Ria und Sela, die ihn beide abgöttisch liebten und ihr immer nur sagten, sie sei eine Meckerziege. „Also ... Seine Lordschaft besitzt zweifellos einen ganz hervorragenden und integeren Charakter!“, wiegelte eine der älteren Frauen ab. „Und einen, äh, sehr ausgeprägten Willen.“ „Ja.“, sagte Jin milde. „Beides!“ Sie würde hier niemandem auf die Nase binden, dass sie zu Hause den größten Dickschädel seit der Erschaffung des Y-Chromosoms hocken hatte. Die blutjunge Frau des Ministers für Familienrecht seufzte auf. „Agni!“, hauchte sie entrückt, „dann war es also wirklich eine reine Liebesheirat ...?“ „NATÜRLICH war es das!“, meinte Ihro Gnaden die Herzogin. „Ihre Ladyschaft war schließlich eine Bürgerliche. Nichts für Ungut!“, fügte sie in Jins Richtung hinzu. „Oh, aber bitte!“ Jin winkte ab. „Um ehrlich zu sein, fällt es mir immer noch schwer, diese ganze höfische Etikette einzuhalten. Zuko muss mir jedes Mal zuflüstern, ob und wie tief ich meinen Kopf zu senken habe, wenn mir jemand vorgestellt wird. Die Meisten sind von ihm so eingeschüchtert, dass ich ihnen am liebsten nur aufmunternd auf die Schulter klopfen würde.“ Das folgende Gelächter entspannte die Atmosphäre ganz erheblich und Jin sah sich nicht weiter gezwungen, ihren Drachen vor ungewolltem Tratsch zu schützen. Unfreiwillig hatte sie jedoch den Gerüchten, sie sei nach wie vor unrettbar in ihren Gemahl verliebt, neue Nahrung gegeben. Obwohl ... das waren ja keine Gerüchte, sondern unumstößliche Tatsachen! Eines der Nebenprodukte dieser legendären Zuneigung genoss zwischenzeitlich ein ländliches zweites Frühstück in Gesellschaft der gemächlich grasenden, einzigen Kuh der Koros und den beiden jüngsten Familienmitgliedern. „Niha wird bestimmt ganz aus dem Häuschen sein, wegen dem Pflug!“, sagte Jem. „Weiß sie es denn noch nicht?“, wollte Lee wissen. „Nein. Sie ist auf dem Markt in Leng-Leng.“ „Eigentlich ist das ja Majas Aufgabe.“, ergänzte der Junge. „Aber seit drei Wochen taucht da immer ein ganz seltsamer Mann auf, darum ist Niha selbst hingegangen.“ „Maja ist belästigt worden?“, fragte Lee, plötzlich hellhörig geworden. „Ich glaub schon.“ „Von wem?“ „Weiß nicht. Sie kannte den Typ nicht.“ „Ja, komischer Typ!“, piepste Zerfa, und mümmelte an ihrem belegten Brot. „Aha. Und Niha belästigt er nicht?“ Die Kinder zuckten mit den Schultern „Hm.“, machte Lee. Komische Typen waren seiner Erfahrung nach nicht besonders wählerisch, wenn sie sich ihre Opfer aussuchten. Niha mochte ja wehrhaft sein, aber sich gegen einen aufdringlichen Mann zu behaupten, könnte selbst bei ihr schief gehen. „Eigentlich hab ich meine Arbeit für heute erledigt.“, sinnierte er. „Wie wär´s, wenn wir zum Markt gehen und Niha helfen?“ „Au ja! Zum Markt!“ Jem war sofort Feuer und Flamme, da er eigentlich dringend für die Schule lernen sollte. „Dann nehmen wir aber noch die Äpfel mit.", warf seine Schwester ein. "Was für Äpfel?", fragte der frisch gebackene Meister der Pflugschar. "Die waren zu viel zu schleppen." "Ah! Also gut ... bringen wir die Äpfel zum Markt!" Eine dreiviertel Stunde später trudelten also ein frisch gesäuberter Fürstensohn, zwei Bauerngören, eine Steinschleuder, eine einäugige Puppe und eine Handkarre voll mit Äpfeln in Leng-Leng ein. Der Marktplatz war bunt, laut und groß. Allzu verlockende Düfte hatten dazu geführt, dass alle drei Apfellieferanten dampfende Fleischpasteten vertilgten, während sie nach Nihas Stand Ausschau hielten. Er befand sich natürlich an der denkbar ungünstigsten Stelle, doch alles andere hätte zu höheren Standgebühren geführt. Aufgrund der Qualität ihrer Waren hatte Niha sich trotzdem im Lauf der Zeit eine kleine, treue Stammkundschaft aufgebaut. Der schmierige Kerl, der sich seit knapp einem Monat jede Woche hier herumtrieb drohte jedoch, diese Einnahmequellen zu vertreiben. „Ich muss schon sagen“, meinte der zahnlückige Widerling. „Du und Deine Schwester habt wirklich immer die nettesten ... Früchte.“ Niha hatte auf Ignorier-Modus geschalten und bediente eine ältere Dame, die standhaft versuchte ihr Unbehagen zu überspielen. „Danke, Frau Kong. Kann es sonst noch was sein?“ „Äh ... nein, Danke.“ Mit diesen Worten beeilte sich die Kundin, den Schauplatz zu räumen. „Mal ehrlich: Ich vermisse Deine kleine Schwester!“ Der anzügliche Ton des Strolchs verursachte bei Niha eine Gänsehaut. Dies war zweifelsohne einer der Momente, in denen das Leben ihr eine Breitseite verpasste. Sie hatte schon zu viele bekommen, um das nicht zu wissen. Der Kerl war eindeutig unheimlich. Das würde sie weder Maja, noch sich selbst noch einmal zumuten. Das war´s dann also, mit dem Wochenmarkt in Leng-Leng, blieb nur noch der in Waboo am Mittwoch. Falls der Typ nicht herausfand, dass sie auch dort einen Stand betrieben. Sie hatten das Geld zwar nötig, aber nicht so sehr, dass sie sich einem gemeingefährlichen Irren aussetzen mussten! Um dem Ganzen noch die Krone auf zu setzten, brachte der Widerling seine Visage viel zu dicht an Nihas Dunstkreis. „Das soll aber nicht heißen, ich würde Dich nicht auch mögen, Schätzchen!“, feixte er. „Wirklich?“ Eine Stimme wie eingedickter Karamellsirup erklang aus dem Nichts. „Dann muss ich ihr wohl mein Beileid aussprechen ... SCHÄTZCHEN!“ Mitten im letzten Wort schwenkte der Tonfall zu ätzendem Sarkasmus um, der durch strahlend weisse Zähne in Form gepresst wurde. „Wer bistn Du?“ „Dein Albtraum, Du stinkende Rinnstein-Ratte!“ Obwohl die tiefe Stimme wieder freundlich klang, ließ das Ekelpaket sich davon nicht täuschen, denn in den Augen des großen Kerls, der sich eingemischt hatte, loderte goldener Feuerbrand, jederzeit bereit, das hochexplosive, fürstliche Temperament zu entzünden. „Wenn Du nicht dauerhaft als Teil der Kanalisation in die Geschichte eingehen möchtest, entschuldigst Du Dich bei der Dame... AUGENBLICKLICH!“ „Dame?“, fragte der lebensmüde Knilch. „Welche Da..." Lee beschloss umgehend, der Worte seien genug gewechselt. Er packte den Mann am Kragen und zerrte ihn zu einem nahen Brunnen. Ein kleiner Teil seines Selbst fragte sich, ob diese etwas exzentrische Angewohnheit, diverse Leute in diverse Dorfbrunnen zu tunken, zu einem neuen Markenzeichen werden würde. Der weitaus größere Teil aber genoss die Aktion in vollen Zügen. Als der Gehörgang des keuchenden, schleimigen Individuums endlich wieder frei von Wasser war, brachte der Sohn des Feuergesalbten eine letzte Warnung an: „Ah, SCHÄTZCHEN! Jetzt riechst Du schon viel besser ... Aber, solltest Du noch mal auf die Idee kommen, Dich, Deine dreckigen Hände, oder Deinen absonderlichen Gestank auch nur in der Nähe dieser Frauen zu zeigen, werde ich Röst-Trottel aus Dir machen. Diese Familie steht unter meinem persönlichen Schutz!“ Seine Warnung war offensichtlich angekommen, denn jetzt wurde er panisch angestiert. „Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt! Ich bin mir nämlich nicht sicher, Dein Niveau zu treffen, ohne mich bis zum Erdmittelpunkt vorzuarbeiten!“ „N ... nein, g ... glasklar!“, stotterte Lees tropfnasses Opfer. „Gut!“, flüsterte Prince Charming vertraulich. „Das steigert Deine Überlebenschancen um einhundert Prozent!“ Er ließ den Widerling los, der auch prompt das Weite suchte. Das GANZ Weite! Somit war dies einer der wenigen Menschen, die Lee Tatzu mitnichten für einen lausbübischen Schlingel hielten. Eine winzige, nicht sehr exklusive Menschenmenge bejubelte die Szene. Lee war das egal. Warum hatten diese Leute nicht schon vorher etwas unternommen? Bei näherer Betrachtung, lag die Antwort auf der Hand. Die Menschen in diesem Teil des Marktes wandelten nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Die Meisten waren älter und ziemlich verarmt, sie hatten einfach nicht die Kraft, sich gegen einen solchen Möchtegern-Tyrannen zu wehren. Als Lee auf Nihas Stand zuschlenderte, starrte diese ihn nur mit offenem Mund an, während ihre kleinen Geschwister begeistert auf und ab hüpften. „Wir haben die Äpfel gebracht!“, murmelte Lee und nahm einen aus der Handkarre. „Ich ... Du ... Du hättest doch den Acker pflügen sollen!“, hauchte seine Chefin. Gelassen polierte ihr Retter die knackige, rote Frucht an seinem Ärmel. „Hab ich schon!“ Genüsslich biss er in das Obst. „WAS?“ „Hag ich chong.“, wiederholte er mit vollem Mund. „Aber, aber ... selbst ICH hätte dazu fast einen ganzen Tag gebraucht.“ Zerfa konnte die tollen Neuigkeiten nicht mehr für sich behalten. „Lee hat den Pflug repariert!“, platzte sie heraus. „WAAAS??“ Niha war perplex. Und ihr Hilfsfuzzi? Dieser Ausbund an Überraschungen hatte die Frechheit sie breit anzugrinsen. Verdammtes, langes Grübchen! "JA! Und er kann Feuerbändigen!", schrie Jem begeistert. Innerlich verfluchte Lee sich. Er hatte dieses blöde Pflugblech nicht heiß machen sollen! "FEUERBÄNDIGEN?", würgte Niha hervor. Kein Wunder warnten einen die alten Tratschweiber immer vor solchen Typen! „Jem, Warum gibst Du Deiner Schwester nicht eine von den Pasteten?“, lenkte dieser spezielle Typ so schnell wie möglich ab. Flugs wurde eine der Köstlichkeiten aus der Papiertüten gefischt und Niha in die Hand gedrückt. „Da! Dürfen Zerfa und ich uns noch eine teilen?“, wollte der Junge wissen. „Sicher!“, meinte Lee. Um ihn endlich nicht mehr angaffen zu müssen, biss Niha in die warme Teigtasche. Die Dinger schmeckten in der Tat so gut, wie sie rochen. Wie oft war ihr dieser verlockende Duft schon in die Nase gestiegen? Es war der Himmel! Ihr entfuhr ein genüssliches Stöhnen und unwillentlich schlossen sich ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, starrte sie direkt in das durchscheinende, glitzernde Grüngold dessen, was dieser Schuft als Sehorgane benutzte. Sie schluckte. Lee ertappte sich dabei, diese Geste zu imitieren. Von der Butter im Teig glänzten ihre Lippen ... Das Grau ihrer Augen war sanfter, als er es je gesehen hatte. Agni...! „AGNI! Kuck mal den Riesenkürbis da drüben!“, schrie Jem in diesem Augenblick. Somit tat er seiner Schwester, ohne es zu ahnen, einen unermesslichen Gefallen: Er rettete sie vor ihrem Retter! Und das ihr ... wo sie mit dem Gerettet werden so GAR keine Erfahrung hatte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)