Das Prinzesschen und das Biest von KleinMim (Zwei Mädchen wie Tag und Nacht - oder?) ================================================================================ Prolog: Missglückte Versuche ---------------------------- Anna war damals groß für ihr Alter, fast ein wenig schlaksig. Der feine, augenbrauenlange Pony fiel ihr in die Stirn, darunter funkelten grüne, durchdringende, katzenhafte Augen, umrahmt von langen Wimpern. Das dunkelbraune Haar fiel ihr in sauberem, glattem Schnitt bis auf die Schultern. An diesem ersten Schultag trug sie ein dunkelgrünes T-Shirt mit irgendeinem Aufdruck, an den sich später keiner mehr erinnern konnte; dazu Jeans mit Schlag und schwarze Turnschuhe mit Klettverschluss. Mischa war auf den ersten Blick sympathisch. Ein freundliches Lachen, gerade, weiße Zähne und ein Hauch von Sommersprossen. Blonde Haare, die sie sicher schon seit Jahren wachsen ließ, die bis zur Taille reichten, und trotz dieser Länge ein erstaunliches Volumen besaßen. Sie hatte ein hellblaues Kleidchen an, das mit kleinen Gänseblümchen gemustert war, und ihre Füße steckten in weißen Rüschensocken zu schwarzen Lackschuhen. In den Händen hielt sie, wie Anna belustigt feststellte, eine kleine Schultüte. Eine Schultüte! Bei der Einschulung ins Gymnasium! Aber Mischa stand nicht etwa peinlich berührt irgendwo am Rande oder hatte die Schultüte beiseite gelegt, sondern unterhielt sich rege mit allen neuen Mitschülerinnen, die daran Interesse hatten, welche von dem redseligen kleinen Mädchen bald so in den Bann gezogen waren, dass sie gar nicht beachteten, dass sie vielleicht ein bisschen zu verhätschelt war. Anna hatte keine dieser kindischen Schultaschen mit Barbie-, Auto- oder Blümchenaufdruck. Sie trug einen grau-schwarzen Schulrucksack, der ihr immer noch gefallen würde, wenn sie älter war. Aber wo ihr das schon kindisch vorkam, begann sie beim Anblick von Mischa – eines Mädchens, das sie damals noch nicht kannte – beinahe, höhnisch zu grinsen. Mischa sprach nacheinander freudig alle Mädchen an, die sie ja früher oder später ohnehin kennen lernen würde, und wusste nach kürzester Zeit nicht nur den Großteil ihrer Namen, sondern auch, wer Geschwister hatte, warum sie sich für diese Schule entschieden hatten und was sie in ihrer Freizeit gerne machten. Nur Anna sah sie so böse an, dass Mischa sich gar nicht traute, etwas zu ihr zu sagen. Sie stand ein wenig abseits, sagte hier und da ein Wort zu jemandem, und wirkte von Weitem gar nicht so unhöflich – aber wenn Mischa ihren Blick suchte und ihr ein Lächeln zuwarf, bei dem die meisten gleich zurückstrahlten, runzelte sie abweisend die Stirn und wandte sich ab. Mischa konnte das nicht verstehen. Sie konnte nichts dafür, sie war nicht arrogant – sie war es einfach nicht gewohnt, dass jemand so ablehnend auf sie reagierte. Anna kam auch mit vielen ins Gespräch. Viele der anderen bewunderten sie ein wenig für ihre selbstsichere Haltung, vielleicht sogar für den leicht kalten Blick, den sie umherschweifen ließ, und gerade ihre scheinbare Unnahbarkeit lockte andere an. Anna hatte nichts dagegen, neue Leute kennenzulernen. Sie war nur nicht der Typ, der auf andere freudig zuging und um jeden Preis versuchte, ihnen zu gefallen. Die mussten schon selbst kommen. Aber diese Schleimerin gefiel ihr nicht. Wie sie jeden anstrahlte – auf den ersten Blick verabscheute sie Mischas Art. Und so ließ sie sie gar nichte erst an sich heran: als sie wohl versuchte, sie mit ihrem zuckersüßen Lächeln zu ihrer nächsten besten Freundin zu machen, zog Anna die Brauen zusammen und drehte sich zur Seite. Auf keinen Fall würde sie ein Gespräch mit diesem Mädchen zulassen. Mischa war die Erfahrung, nicht gemocht zu werden, neu. Darum verstand sie es anfangs gar nicht. Sie war sich sicher, dass sie etwas missverstanden haben musste. Aus reinem Prinzip ging sie in die Richtung dieses kühlen, ruhigen Mädchens. Ihr Kleid wippte, während sie sich Anna näherte. „Hallo, ich bin Mischa.“, sagte sie, mit einem zaghafteren Lächeln als sonst, aber wie immmer auf Höflichkeit und Freundlichkeit bedacht. „Wie heißt du?“ Anna gab sich nicht einmal die Mühe, ihren Kopf zu senken, um Mischa, die ein wenig kleiner war als sie, vernünftig in die Augen sehen zu können, wie man es bei Gesprächspartnern ja normalerweise machte. Aus den Augenwinkeln sah sie auf das aufdringliche Mädchen herab. „Anna.“, sagte sie, mit einer Stimme, die Mischas Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden und sie einen Schritt zurücktreten ließ. Jetzt ließ es sich nicht mehr leugnen. Dieses Mädchen konnte sie einfach nicht leiden. Kapitel 1: Teamwork ------------------- Mischa Meine rechte Hand huscht über das Papier, während ich mitschreibe. Meine sorgfältige, mädchenhafte Handschrift füllt nach und nach die Zeilen, die Oberseite des Blattes zieren farbige Überschriften und hier und da heben Unterstreichungen an den richtigen Stellen Wichtiges hervor. Auch ein Fremder könnte mit diesen Unterlagen gut lernen, das weiß ich, weil es von meinen Mitschülern schon oft genug erprobt wurde. Der Vortrag des Lehrers wird in übersichtliche Notizen umgesetzt, ich filtere Wichtiges und Unwichtiges, finde die Lücken und stelle Zwischenfragen. Das ist es, was ich täglich in der Schule mache: es ist mein Metier, es ist meine Begabung, vielleicht könnte ich sogar sagen, mein Hobby. Langeweile kenne ich in diesem Bereich nicht: ich kenne kein Thema, aus dem ich keinen interessanten Aspekt herauspressen könnte, und selbst wenn das der Fall sein sollte, ignoriere ich es, überspiele es, sodass wenigstens der Lehrer kein Desinteresse bemerken kann. Das ist meine Eigenschaft, die böse Zungen dazu bringt, mich als Streberin zu bezeichnen, wobei sie dieses Wort verächtlich, belustigt, mitleidig aussprechen, als wäre es etwas Schlechtes. Sosehr ich versuche, das nachzuvollziehen, gelingt es mir nicht. Ich möchte mir eine gute Zukunft ermöglichen, und das alles kann ich mit ein wenig Aufwand bereits umsetzen, wieso also nicht? Das Lernen fällt mir nicht so schwer wie vielen anderen, es kostet mich keine Überwindung, mich vor ein paar Bücher zu setzen und mir etwas durchzulesen. Und es ist überhaupt nicht so, als hätte ich deswegen keine Freizeit. Es ist eher so, dass das Lernen ein Hobby von vielen ist, genau wie ein Bücherwurm nicht tagein, tagaus nur lesen wird. Allerdings kann ich diese kleinen Spitzen, über die ich auf meinen „Lernwahn“, oder wie immer andere es nennen mögen, angesprochen werde, leicht ignorieren. Ich werde ansonsten nicht oft beleidigt. Ich habe das Glück, gut mit anderen Menschen umgehen zu können. Von klein auf habe ich nie schlechte Laune an anderen ausgelassen, sondern immer versucht, ein Lächeln auf den Lippen zu tragen und anderen zu zeigen, dass ich nett zu ihnen sein will und mich freuen würde, wenn sie mir auf die selbe Weise begegnen würde. Wohl aus diesem Grund werde ich immer wieder als sympathisch beschrieben. Ich greife zu einem neuen Farbstift, als der Lehrer einen neuen Themenpunkt ankündigt. Meine Wahl fällt auf einen meerblauen Fineliner, passend zum Türkis, das ich vorher verwendet habe. Noch während ich die neue Überschrift unterstreiche, klingelt es zum Ende der Stunde und der Lehrer verkündet, das neue Thema in der nächsten Stunde ausführlich behandeln zu wollen. Während ich meine Geographie-Mappe und den Atlas in meinem geordneten Bankfach verstaue, fällt mein Blick schon wieder auf den Stundenplan, um zu überlegen, ob ich noch etwas für das nächste Fach benötige. Meine Freundin Stella taucht neben mir auf, dreht die Kante eines Eurostücks an der Handfläche hin und her. „Kommst du mit in die Aula?“, fragt sie und erinnert mich mit diesen Worten erst daran, dass es vorhin zur großen Pause geläutet hat, mit einem beinahe missbilligenden Blick auf meinen Terminplaner. Es ist ein Filofax, pink mit einer orange-weißen Blüte auf der Vorderseite. Ich kümmere mich um meine schulischen Pflichten, wo ich nur kann, aber sobald ich merke, dass ich jemandem damit auf die Nerven gehe – oder wenigstens meiner besten Freundin – kann ich mein Engagement auch einmal ein wenig zurückschreiben. Deshalb klappe ich den Kalender zu und schiebe ihn bis an die hintere Tischkante, um anzuzeigen, dass sich diese Sache erledigt hat. „Ja, ich komme mit.“, sage ich und hole mit ein paar kurzen Handgriffen meine Geldtasche aus dem Schulrucksack. Bevor ich aber die Klasse mit Stella verlasse, werde ich noch von drei Leuten angesprochen. Ulli möchte gleich meine Mitschrift aus der vorigen Geographie-Stunde zum Kopieren ausleihen, da sie angibt, teilweise nicht ganz mitgekommen zu sein und wir ja demnächst einen Test schreiben werden; Freddy würde gerne die Englisch-Hausaufgaben von mir abschreiben und Tobi erkundigt sich, ob es überhaupt welche gegeben hat. Geduldig leihe ich ein paar Zettel her, erkläre Freddy und Tobi, dass sie die Texte ein wenig abändern müssen, damit es nicht auffällt, dass sie abgeschrieben haben, und folge dann Stella, die vor einer Minute angekündigt hat, sie wolle schon einmal vorgehen und sich etwas kaufen. Als ich nachkomme, lehnt sie schon irgendwo an der Wand und beißt in eine Semmel. „Mischa“, beginnt sie, als ich mir nach ein paar weiterer Minuten Wartezeit einen Muffin gekauft habe und mich damit zu ihr geselle, kaut einen Bissen Brot zu Ende und fragt mich, nachdem sie heruntergeschluckt hat: „Schaffe ich es in fünf Minuten noch, Englisch von dir abzuschreiben?“ * Nur eine Person in der Klasse hat mich noch nie um Hilfe gefragt: Anna Strasser. Sie wollte noch nie meine Unterlagen, auch nicht, wenn sie gefehlt hat, hat mich niemals gebeten, ihr etwas zu erklären und schließt sich auch nie den regelrechten Abschreibegruppen an, die sich häufig um meine Hausaufgaben scharen, an die ich wieder einmal als Einzige gedacht habe. Aber das liegt nicht daran, dass Anna immer alles gewissenhaft selbst erledigt, so wie ich es mache, ganz und gar nicht. Es liegt eher daran, dass sie eine Art überheblichen, sinnlosen Stolz besitzt, der sie daran hindert, mich nach so etwas zu fragen. Zumindest kann man ihr das vielleicht zugute halten – sie hat ihre Würde. Sie stellt sich nicht hin, um mich anzufunkeln und zu beschimpfen, um mich im nächsten Moment mit ihrem herzerweichendsten Hundeblick anzusehen und darum zu bitten, dass ich doch Erbarmen zeigen und ihr mein Heft leihen möge. Das Problem ist nur, dass mich Letzteres eigentlich überhaupt nicht stört. Als Klassenbeste, meinetwegen auch Klassenstreberin, bin ich es gewohnt, dass in jedem Fall irgendjemand zu mir kommen wird und mich um diesen Gefallen bitten wird. Es stört mich nicht, es entwertet nicht meine eigenen Leistungen, es ist nicht einmal meine Sache, ob jemand seine Aufgaben selbst erledigt oder nicht. Viel lieber wäre es mir, wenn Anna die Sache mit dem Lästern einstellen würde. Sie hat mittlerweile alles gesagt, was es zu sagen gibt, jedes Klischee mehrmals auseinandergenommen, alle Tatsachen zu maßlosen Übertreibungen verzerrt und mir häppchenweise ins Gesicht geschleudert: ich habe kein richtiges Leben, sondern würde nur tagein, tagaus lernen, und wenn ich mit der Schule fertig sei, würde ich nichts mit mir anzufangen wissen. Ich sei ein reiches, verwöhntes Prinzesschen, das sich für etwas Besseres hielte. Ich tue nur so freundlich, ich helfe anderen nur, weil ich Angst habe, nicht akzeptiert zu werden, wenn ich es nicht allen Recht machte. Und so weiter, und so fort. In ein paar Minuten wird es zum Anfang der Stunde läuten, und ich lege das Englischbuch zur Seite, nachdem ich noch einmal die Vokabel wiederholt habe, auch wenn wir heute wahrscheinlich sowieso nicht geprüft werden. „Hilfe!“, jammert die gestresste Stella neben mir. Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie ist gerade hektisch dabei, die Hausaufgabe abzuschreiben. „Ich kann so schnell nicht denken! Wie soll ich das noch umformulieren? Ich habe kaum Zeit zum Schreiben!“ Ich lese die von mir verfassten Sätze und bemühe mich, sie schnell für Stella in etwas weniger gehobenes Englisch umzuformen. Ohne aufzusehen, murmelt sie ein Danke und bringt die Worte eilig zu Papier. Fast gleichzeitig mit dem Klingeln schreibt sie das letzte Wort. „Vielen lieben Dank, Mischa!“, ruft sie, schnappt sich ihren Zettel und huscht zurück auf ihren eigenen Platz. Ich lächle ihr breit zu und hole meine Englischmappe heraus, kurz bevor unsere Englisch-Lehrerin Hammer hereinkommt. Wie erwartet, prüft sie diese Stunde niemanden, und selbst wenn sie es getan hätte, wäre wahrscheinlich nicht ich drangekommen, da ich wirklich nicht zwischen zwei Noten stand. Aber ich ärgere mich grundsätzlich nicht darüber, etwas „zu viel“ gelernt zu haben. Bei der nächsten Schularbeit werde ich es spätestens brauchen können. Ein paar von uns sollen ihre Hausübungs-Texte, eine kurze Zusammenfassung zu einem Text aus unserem Arbeitsbuch, vorlesen. Der folgende Teil der Stunde besteht darin, dass die Lehrerin uns vorschlägt, Referate zu halten. Sie hat einige Buchvorschläge für uns, und diese Bücher sollen wir dann in Form von Präsentationen vorstellen. Sie lässt eine Liste mit den Buchtiteln durchgehen, und jeder darf sich eine erste, eine zweite und eine dritte Wahl aussuchen. Als ich den Titel „Holes“ von Louis Sachard auf der Liste sehe, ist mir sofort klar, dass ich dieses Buch im Original lesen möchte. Allerdings hat bereits jemand den Roman als seine erste Wahl auserkoren, und dieser Jemand ist ausgerechnet Anna Strasser. Das ist wieder einmal typisch: wir geraten so oft aneinander, meiden es, sofern möglich, auch nur im selben Raum zu sein (was sich leider in der Schulzeit als schwierig bis unmöglich erweist), aber bei so etwas entscheiden wir uns letztendlich immer für das Gleiche. Ich denke sofort an Dutzende Gelegenheiten in den fünfeinhalb Schuljahren, die ich mit ihr in der selben Klasse verbracht habe, bei denen ich mich aus Interesse für ein Thema entschieden habe und sie dieses aus bloßem Trotz ebenfalls ausgewählt hat. Oft genug musste ich nachgeben, da ich nicht gerne über etwas derart Banales diskutiere, vor allem, wenn mein Gesprächspartner nicht zum Argumentieren bereit ist („Ich hab’s zuerst genommen“, „mich interessiert nichts anderes“ und so weiter). Manchmal musste ich mit ihr in einer Gruppe arbeiten, was meist so aussah, dass sie nichts machte und darauf vertraute, dass ich, die Musterschülerin, brav das ganze Thema erarbeitete, und wenn ich letztendlich dem Lehrer sagte, dass sie nichts zu der Arbeit beigetragen hatte, war es Anna auch egal. Ihr absolutes Desinteresse an der Schule ist mir derart zuwider, wie es bei mir selten der Fall ist. Ich kann mich mit so gut wie Allem abfinden, aber ihr ständiges „Ist mir doch scheißegal, schreib deine Einser und lass mich damit in Ruhe“ geht mir auf die Nerven, macht mich sogar fast wütend. Vielleicht liegt es daran, dass sie es über die Jahre geschafft hat, mich in jeder Situation zu triezen und abfällige Bemerkungen loszulassen und damit meine ruhige, geduldige Fassade in dieser Beziehung fast vollkommen niederzureißen. Wo ein anderer mich schon minuten- oder stundenlang beschimpfen, verhöhnen und ärgern müsste, reicht es, wenn Anna einen Satz sagt, dass ich sie am liebsten anschreien würde. So sieht es auch aus, als ich ihren Namen auf dieser Liste stehen sehe. Es entspricht absolut nicht meinem Charakter, ihn wieder wegzuradieren, aber immerhin kann ich meinen eigenen daneben setzen. Ich beruhige mich damit, dass sich auch bei anderen Titeln mehrere Schüler eingetragen haben, das ist ja auch der Sinn bei der Zweit- und Drittwahl. Und diesmal werde ich mich bemühen, meinen Willen durchzusetzen. Bei den letzten beiden Gelegenheiten habe ich, soweit ich mich erinnere, den Kürzeren gezogen. Wenn ich ein wenig mehr kämpfen würde, hätte ich wahrscheinlich so gut wie immer den Vorteil. Durch mein hartes Arbeiten für die Schule bin ich automatisch zum Lehrerliebling geworden – so ist der Lauf der Dinge. Der Preis dafür ist eben häufige Missbilligung der anderen. Trotz meinem Entschluss lese ich mir die Liste noch sorgfältig durch, ob nicht doch vielleicht ein weiterer Titel dabei ist, der mir besonders zusagt. „Pride and Prejudice“ von Jane Austen und „The Silence of the Lambs“ von Thomas Harris würde ich auch nicht ablehnen, aber „Holes“ ist und bleibt eindeutig meine erste Wahl. Nein, diesmal werde ich nicht nachgeben. Ich reiche die Liste an meine Banknachbarin Hanna weiter, die offensichtlich ein wenig befangen bemerkt, neben wem ich mich gerade eingetragen habe. Aber sie ignoriert es letztendlich und sucht sich selbst einen Roald Dahl-Titel aus, bevor sie die Liste an die Bank hinter uns weitergibt. * Anna Ich fadisiere mich schon wieder. Während die Liste durch die Klasse gegeben wird, kritzle ich auf das Papier von meinem karierten College-Block ein kleines Muster aus Kästchen. All meine Notizen, die meistens sowieso eher spärlich ausfallen, sind mit kleinen Kritzeleien übersät. Mich interessiert doch eigentlich sowieso nicht, was die da vorne immer labern. Irgendwie durchkommen, das ist die Devise. Mehr brauch ich gar nicht. Ist doch scheißegal, was auf irgendeinem Zeugnis steht, vor allem jetzt in der sechsten Klasse. Die Matura ist das Einzige, was später irgendwen interessieren könnte. Endlich haben die ganzen Typen da hinten es geschafft, den blöden Zettel auszufüllen. Ich check nicht, wieso die so lange brauchen – interessieren die sich tatsächlich für das, was sie da lesen sollen? Ich werd irgendeinen Buchtitel bei Wikipedia eingeben, ich weiß schon gar nicht mehr, wofür ich mich eingetragen habe, und das dann der Englisch-Tussi vorlegen. Ungeduldig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und warte darauf, dass endlich die Stunde vorbei ist. Gott, erst die vierte. Ich glaub, ich mach heute Nachmittag blau. Ich hab keinen Bock, mich für zwei Stunden Spanisch noch mal hier reinzusetzen. Das Fach wähle ich nächstes Jahr sowieso ab. „So, jetzt wo ihr gewählt habt, müssen wir wohl versuchen, ein paar Kompromisse zu finden.“ Meine Güte, noch zehn Minuten. Ist das denn nie zu Ende? „Nicht jeder wird am Ende seine erste Wahl bekommen, das tut mir Leid. Aber ich möchte, dass jeder ein eigenes Buch liest.“ Geht mir so was von sonst wo vorbei. Ich fange an, mit dem Bleistift auf der Tischoberfläche herumzuklopfen. Die Hammer zählt währenddessen ein paar Namen und Titel auf. Ich höre nicht zu, bis mein eigener Name fällt. „Anna Strasser und Mischa Paolini haben auch das gleiche Buch gewählt, fürchte ich.“, sagte sie und sieht schon beinahe verzweifelt aus. Ich hebe amüsiert eine Augenbraue. Ich finde es wirklich mehr als witzig, wie sich das Mustermädel in so einem Fall jedes Mal zum Problem verwandelt. So wenig mich das, was auch immer in der Schule passiert, sonst juckt, eine Gelegenheit, Mischa auf den Wecker zu fallen, nehme ich immer war. „Frau Professor, ich will dieses Buch seit Jahren im Original lesen.“, verkünde ich, ohne aufzuzeigen, womit ich mir gleich schon wieder ein missbilligendes Kopfschütteln einhandle. Für welchen Titel hab ich mich noch mal eingetragen? Ach ja, „Holes“ war es. Glaube ich zumindest. Besser erwähne ich es nicht. „Ich war so begeistert von der deutschen Version, aber ich dachte, auf Englisch müsse es noch zigmal besser sein.“ Mischa funkelt mich an. Ich liebe diesen Blick. Sie funkelt nie Leute an – außer mich. Das verschafft mir wirklich Genugtuung: ich bin die Einzige, die sie auf die Palme bringen kann. Ich habe die Macht. Kurz nachdem ich ihren kleinen Aussetzer mit einem höhnischen Lächeln beantwortet habe, fasst sie sich wieder und hebt langsam die Hand. „Frau Professor“, sagt sie erst, nachdem die Hammer ihr zugenickt hat, ruhig und höflich, obwohl sowieso jeder Idiot weiß, dass sie was gegen mich hat, „Mir geht es genauso – falls man dem, was Anna sagt, überhaupt glauben kann. Ich bin wenigstens sicher, dass sie nicht mit elf Jahren in Großbritannien ihre Eltern angebettelt hat, ihr die englische Ausgabe zu kaufen und diese gemeint haben, ihr Englisch reiche noch nicht dazu aus.“ Es ist doch echt zum Kotzen, wie gewählt sie sich selbst dann ausdrückt, wenn sie jemanden beleidigt. Ich verdrehe die Augen und hebe ebenfalls gelangweilt die Hand. „Im Grunde ist es egal, ob sie das Buch lesen wollte, seit sie in den Windeln liegt. Ich hab mich zuerst eingetragen.“ „Weil die Liste zuerst bei dir angekommen ist.“, protestiert Mischa gefasst, aber sie hebt schon nicht mehr die Hand. Vielleicht bringe ich sie ja noch so weit, dass sie anfängt, herumzuschreien. „Ich wüsste nicht, wieso ich nachgeben soll.“, sage ich, absichtlich nicht zu Mischa gewandt – das verwöhnte Prinzesschen kann es nicht leiden, wenn man sie ignoriert – und blicke die Hammer mit gehobenen Augenbrauen an. „Für mich ist es das einzige Buch, das mich interessiert. Mischa könnte bestimmt mit jedem Roman auf der Liste etwas anfangen.“ „Erstens: nicht mit jedem.“ Ihre Stimme kippt bereits. Oh, ich freu mich drauf, bald kommt der knurrende Unterton. Ich würde ja gerne beobachten, wie ihre gerade, aufrechte Haltung immer angespannter wird und ihre Mundwinkel vor Ärger zittern, aber ich bleibe bei der Ignoranz-Devise. „Zweitens möchte ich genau dieses Buch seit einer Ewigkeit lesen und würde es gerne im Zuge dieses Projektes tun.“ „Du hättest es doch auch in deiner Freizeit lesen können. Wer hält dich ab? Deine mangelnden Englisch-Kenntnisse oder das fehlende Kleingeld?“, frage ich die Tafel, die Stimme vor Sarkasmus triefend. „Nein, die mangelnde Gelegenheit.“ Das ist schon beinahe ein trotziger Sing-Sang. Wirklich lustig. Jeden Moment gehen ihr die Argumente aus. „Ich habe in meiner Freizeit nämlich genug zu lesen, im Gegensatz zu Leuten, die an der Kippe zum Analphabetismus stehen.“ „Leute“ betont sie vielsagend, aber sie bleibt immer schön diskret – nur die Intelligentesten aus der Klasse können schlussfolgern, dass sie diese Aussage auf mich bezieht. „Oh, nur, weil ich etwas besseres zu tun habe als selbst meine Busfahrtzeit mit Lernen zu verschwenden, heißt das nicht, dass ich nicht Lesen kann.“, gebe ich zu bedenken. „Halt, halt, halt.“ Wow, ich hätte die Zeit stoppen sollen – das hat ja ewig gedauert. Vielleicht hat die Hammer es genauso interessant gefunden wie ich, Mischas Fassade beim Bröckeln zuzusehen. Ich gebe zu, das ist wie Kino. „Na gut, wenn keine von euch nachgeben möchte, dann müssen wir die Arbeit am Buch doch zur Partnerarbeit umfunktionieren.“, schlägt sie nun vor. Oh, das ist auch praktisch. Dann brauche ich nicht mal Wikipedia befragen – unser kleines Streberlein wird schon alles erarbeiten, was wir brauchen. Allerdings klingt die Stimme der Lehrerin so scharf, dass ich mir vorstellen kann, dass es daran noch einen Haken gibt, und sie fährt auch schon fort. „Aber die Note wird für beide gemeinsam gelten, und wenn ich von einer von euch beiden“ – dabei starrt sie mich vielsagend an, worauf ich den bösen Blick sofort erwidere – „höre, dass die andere nicht kooperiert, wird diejenige auf ein anderes Buch zurückgreifen müssen.“ Ich reiße mich ja nicht gerade darum. Aber ich werde sicher nicht Mischa das Buch lassen, damit sie glücklich ist. Gehör ich zur Caritas? „Okay.“ „Halt, Frau Professor... das ist unfair.“, höre ich Mischa sagen. Ui, sie ist in Fahrt. Sie „rebelliert“. Sieh mal einer an, was ich ihr beigebracht habe. „Falls Anna keine gute Arbeit macht, was – ohne sie natürlich beleidigen zu wollen“ – sie wirft mir eine schlechte Kopie meines abschätzenden Blickes zu – „leider schon öfter vorgekommen ist, wird meine eigene Note herabgesetzt.“ „Falls du das Gefühl hast, dass sie sich nicht genügend anstrengt, kann ich ihr jederzeit ein anderes Buch zuteilen.“, winkt die Lehrerin ab. Oh, mal sehen, wird von meiner Laune abhängen. „Nun zum Aufbau der Arbeit.“, fährt sie fort. Anscheinend ist die Debatte damit beendet. Soll mir auch recht sein. „Ihr werdet jeweils eine Zusammenfassung zum Inhalt des Buches schreiben, sowie ausführliche Charakterbeschreibungen zu allen relevanten handelnden Personen. Außerdem möchte ich eine genaue Reflexion über den Inhalt des Buches, von jedem.“ Schon wieder werde ich angestarrt, du liebe Güte. „Ihr könnt das auch in Form eines Lesetagebuches schreiben, in dem ihr eure Gedanken während des Lesens kommentiert. Zitate sind immer gut, ihr könnt gerne Textstellen einbauen, die euch gefallen.“ Sie plappert noch ein bisschen weiter, und ich wende mich wieder interessanteren Dingen zu, soll heißen, der Kritzelei auf meinem College-Block. So bringe ich die letzten paar Minuten, bis es klingelt, auch noch herum. Endlich verschwindet die Hammer aus dem Klassenzimmer, und ich lehne mich im Stuhl zurück und lege die Füße auf den Tisch. Ich denke kurz darüber nach, ob ich mein Handy herausholen und ein paar SMS verschicken soll, verlege das Vorhaben aber auf die nächste Stunde. Eh nur Mathe. Da sehe ich Mischa von ihrem Platz aufstehen. Wenn sie die Pause mal nicht nutzt, um irgendwelchen Hausaufgaben den letzten Schliff zu verleihen, muss das was bedeuten. Sie kommt auf mich zu. Wahrscheinlich, um mit mir die Arbeitsteilung zu besprechen. Hab ich mir schon ausgedacht, sie schreibt Handlung, Personenbeschreibungen und meine Reflexion. Das erinnert mich an unseren ersten Schultag, ich kann mich noch erinnern, wie sie versucht hat, sich mit mir anzufreunden. Und wieder kommt sie her, diesmal ohne strahlendes Lächeln, aber immer noch viel zu optimistisch. Mittlerweile sollte sie doch wissen, dass ich beiße. „Anna, wir müssen die Arbeitsteilung noch besprechen.“ Bingo. „Geben ist besser als nehmen. Was mein, sei dein. Kannst alles haben.“, sage ich gelangweilt. „So wird das nicht funktionieren.“, sagt sie scharf. Für ihre Verhältnisse wenigstens, wenn ich etwas scharf sage, klingt das ganz anders. „Oh, ich wusste nicht, dass dein Arbeitsdrang plötzlich verebbt ist. Tja, dann wird’s halt diesmal nur ’ne Drei. Schade eigentlich, mit ein wenig Aufwand –“ „Halt die Klappe.“, unterbricht sie mich. Harte Worte. „Wenn du nicht arbeitest, geh ich zur Hammer, und dann kannst du dir ein anderes Buch aussuchen.“ „Find ich äußerst schade. Ich werd heulen.“, sage ich gleichgültig. Interessiert mich einen feuchten Dreck, was ich lesen soll. Ich teste nur Mischas Grenzen aus, dann hab ich wenigstens meinen Spaß. Mal sehen, ob sie wirklich zur Lehrerin rennt. Normalerweise lässt sie sich ja so gut wie alles gefallen. „Wieso hast du nicht gleich ein anderes Buch genommen, wenn es dir sowieso egal ist?“, will Mischa wissen. Ihre schmalen Augenbrauen sind vor Ärger leicht gerunzelt. Ich wippe leicht auf dem Stuhl. „Ist nicht so lustig.“, sage ich provokant und blicke mit einem breiten, schadenfrohen Lächeln zu ihr auf. Sie würde mich am liebsten schlagen. Das Tolle an Mischa ist, dass sie es nicht macht. „Du bist ein ignorantes, überhebliches Miststück!“, zischt sie mir zu. Ich strahle sie an, als hätte sie mir ein Kompliment gemacht. Es ist schon witzig: heute ist sie es, die mich beschimpft. Noch letztes Jahr hatte ich jeden Tag eine kleine Beleidigung für sie übrig. Aber ich habe entdeckt, dass es viel mehr Spaß macht, sie durch Gleichgültigkeit zu provozieren. Wenn man uns nun so zuhört, wirkt es, als wäre sie die leicht Reizbare von uns beiden. In Wirklichkeit bin ich selbst viel leichter zur Weißglut zu bringen, aber das hat das dumme Ding noch gar nie probiert. Bis vor kurzer Zeit hat sie all meine Sticheleien einfach so hingenommen, aber ich habe bemerkt, wie ihre innere Ruhe mit jedem Mal mehr dahinschmolz. Mittlerweile handelt sie genau nach dem Gegenteil: sie lässt sich nun so leicht aufstacheln, ich muss buchstäblich nicht einmal etwas tun. Ihr scheint es auch gerade aufzufallen. Ihr Schultern straffen sich, sie wischt sich mit der Hand eine Harrsträhne aus dem Gesicht. Sie wirkt nervös, fast verlegen. Sie zeigt so viel Angriffsfläche, dass ich das einen Moment lang gerne nützen will, aber dann bin ich doch zu bequem dafür. Meine Dosis Mischa für heute ist voll. Jetzt kann sie wieder abhauen. „Du wirst die Charakterbeschreibungen schreiben. Und zwar ernsthaft. Falls ich mit deiner Arbeit nichts anfangen kann, werde ich es tatsächlich der Hammer sagen, aber ich werde nicht darauf achten, dass du dann noch genügend Zeit hast, um mit einem neuen Buch anzufangen. Ich hab keine Ahnung, wie ich dazu komme, für dich zu buckeln – oder bist du der Meinung, dass ich dir was schulde, wo du immer so nett zu mir bist?“ Sie sagt es ganz nüchtern, fast wieder die alte Mischa, im Gegensatz zu dem Wrack an Beherrschung, zu dem sie durch meine jahrelange Arbeit geworden ist. „Ach, lass stecken. Hab ich doch gern gemacht.“, antworte ich. Mist, so wie es aussieht, werde ich vielleicht doch was tun müssen. Aber immerhin besser, als die ganze Arbeit alleine machen zu müssen. Sie seufzt noch einmal leise, aber hörbar, dreht sich dann um und entfernt sich von mir. Ich hole meinen iPod unter der Bank hervor und suche mir schon mal eine Playlist für die Mathestunde aus. *** Mischa saß auf ihrem Platz und übte das Geschichte-Referat noch einmal durch. Ihre beste Freundin Stella saß neben ihr auf dem Tisch, Mischas Karteikarten in der Hand, und hatte die Aufgabe, zu überprüfen, ob sie bei ihrem Probe-Vortrag etwas ausließ. „Perfekt.“, nickte sie, als Mischa geendet hatte. Stella war wieder einmal beeindruckt, dass Mischa wie immer alles auswendig konnte, wobei sie selbst oft noch Schwierigkeiten hatte, ihr Referat von einem Zettel herunterzulesen. Sie verhaspelte sich sehr häufig. „Danke.“, sagte Mischa, erhob sich und ging durch die Klasse, um sich bei den restlichen Gruppenmitgliedern zu erkundigen, ob sie alles hatten. Ihre letzte Station war Anna. Das machte sie nicht gern. In den drei Jahren, die sie sich schon kannten, hatte Anna immer nur ein paar gleichgültige oder sogar boshafte Worte für sie übriggehabt. Sie war einige der wenigen Menschen überhaupt, mit denen Mischa nichts anfangen konnte... um nicht zu sagen: die sie nicht mochte. „Anna, hast du alles für dein Referat?“, fragte sie, eher leise und zögernd. Anna sah zu ihr auf, wie immer leicht die Stirn gerunzelt. Sie spielte mit dem Feder-Anhänger ihrer Halskette. „Nein.“, sagte sie knapp und einfach. Keine Ausrede, keine Begründung. Eine bloße Verneinung, die Mischa zum Verzweifeln brachte. „Aber ... aber was machen wir dann jetzt? Wir müssen diese Stunde vortragen!“, sagte sie, die Stimme höher als sonst, ein panisches Flackern in den blauen Augen. „Ihr müsst halt ohne mich vortragen.“, murmelte Anna. Sie hatte die Unterlagen nicht absichtlich vergessen, aber nun verstand sie nicht, wieso das für Mischa so ein Problem darstellte. Sie mochte es nicht, dass Mischa immer alles perfekt hatte und sich dann auch noch um die Angelegenheiten anderer kümmerte. Bei jemand anders hätte sie vielleicht noch vorgeschlagen, die Lehrerin zu überreden, das Referat zu verschieben. Aber Mischa war sowieso immer auf der Seite der Lehrer. „Aber dann fehlt dein Teil!“, gab Mischa zu bedenken. „Vielleicht bekommt die ganze Gruppe eine Fünf, oder...“ „Wegen mir doch nicht.“, wehrte Anna nachdrücklich ab. „Das wäre doch unfair.“ Ihre Brauen zogen sich weiter zusammen, ihr Gesichtsausdruck wurde abweisender. Kaum hatte es geläutet, noch bevor die Lehrerin bis zum Pult gegangen war, stürmte Mischa ihr schon entgegen. „Frau Professor“, begann sie. „Ein Mitglied unserer Gruppe hat seine Unterlagen heute leider nicht da. Sollen wir nun das Referat trotzdem halten?“ Sie fragte es nicht mit dem üblichen, hoffnungsvollen Unterton, der bei Schülern normalerweise mitschwang, wenn sie diese Frage stellten. Die meisten hätten sich genau so eine Reaktion erhofft, wie Mischa sie erhielt. Die Geschichtelehrerin schien eine Weile zu überlegen, schüttelte dann bedauernd den Kopf. „Nein, wir brauchen die Materialien vollständig. Die Referatsthemen werden beim nächsten Test geprüft werden. Dann werden wir diese Stunde Stoff machen.“ Mischa biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte das ganze Wochenende damit verbracht, sich auf die Präsentation vorzubereiten. Sie hatte die Texte noch einmal umgeschrieben, ein Plakat gestaltet, ihre Zeilen durchgelesen und durchgesprochen, versucht, an den richtigen Stellen Betonungen anzubringen und deutlich genug zu reden. Das war ihr wichtig, denn Referate hatten nicht nur auf ihre eigene Note Einfluss, sondern auch auf die anderen, die ja schließlich auch etwas lernen sollten. Und nun hatte Anna, die es nicht einmal für nötig hielt, sich zu entschuldigen oder zu erklären, was sie denn mit ihren Materialien gemacht hatte, dass sie sie heute nicht mithatte, ihr all diese Mühen vorerst zunichte gemacht. Mischa würde den Text noch einmal wiederholen müssen, wenn das Referat verschoben war. Ein wenig enttäuscht schlich sie auf ihren Platz zurück. Ihre Erziehung und ihre Prinzipien verboten es ihr, Anna dafür einen bösen Blick zuzuwerfen oder sie gar zurechtzuweisen. Aber sie schwor sich, dass sie nicht mehr mit diesem Mädchen in einer Gruppe sein wollte. Kapitel 2: Freundschaftsgedanken -------------------------------- Mischa Ich habe es mir schon so oft vorgenommen. Jedes Mal denke ich, dass ich es mir diesmal nicht mehr gefallen lassen will. Jedes Mal schwöre ich mir, dass ich diesmal um mein bevorzugtes Thema kämpfen werde, aber Anna schafft es immer auf Neue mit ihrer boshaften Zielstrebigkeit, es sich zuerst unter den Nagel zu reißen und dann nicht mehr herzugeben. Ihr kann es egal sein, ob sie mit mir „arbeiten“ muss, obwohl sie mich überhaupt nicht mag: sie macht bestenfalls das Nötigste, verlässt sich darauf, dass meine Note mir wichtiger ist als meine Würde (was sich leider auch allzu oft bewahrheitet), und lehnt sich zurück, um zu beobachten, was passiert. Falls es am Ende doch noch brenzlig wird, ist sie möglicherweise auch bereit, einmal einen Handstreich zu tun, aber nicht, bevor sie ihren Spaß hatte und mich vorher Blut und Wasser schwitzen hat lassen. Ich versuche es erst mit dem Gedanken, dass ich genauso viel Arbeit gehabt hätte, wenn ich das Buch für mich allein hätte. Dann müsste ich genau wie alle anderen Zusammenfassung, Personenbeschreibungen und Zitate alleine zusammenschreiben, ohne auch nur eine Aufteilungsmöglichkeit zu haben. Noch dazu interessiert mich das Buch ja auch wirklich: die Geschichte, dass ich es schon mit elf lesen wollte, war kein Witz und auch keine Notlüge. Aber bevor ich mich damit abfinden kann, meldet sich irgendwie in mir ein beißendes Gefühl und setzt sich zur Wehr: mehr als fünf Jahre lang habe ich immer nachgegeben, immer der selben Person, ihr den Weg geebnet, die fünf Schuljahre erfolgreich hinter sich zu bringen, ohne wirklich einen Finger zu rühren: mit etwas Grips, Manipulation und meiner unfreiwilligen Hilfe. Ausgerechnet der Person, der all meine Abneigung gilt, habe ich am meisten unter die Arme gegriffen. Seit sie mich kennt, zerrt sie an meinen Nerven, zerreißt immer wieder aufs Neue meinen dünner und dünner werdenden Geduldsfaden. Diesmal werde ich nicht mehr machen, als es meine Aufgabe ist, verspreche ich mir selbst. Doch das ist nicht das erste Mal, dass mir so ein Gedanke kommt – ich weiß bereits, es bleibt nie dabei. Sofort denke ich wieder an die resultierende Note, mein Zeugnis, auf dem ausnahmsweise nicht lauter Einser prangen könnten – wie ein Pickel in der Serie perfekter Zeugnisse, Jahr für Jahr. Ehrgeiz oder Stolz, Stolz oder Ehrgeiz? Wie oft habe ich mir die Frage schon gestellt und mich immer für das Selbe entschieden Ich hege – soweit mir bewusst ist – nicht viele innere Konflikte, aber dieser eine verfolgt mich jedes Schuljahr auf Schritt und Tritt. Im Versuch, mich von der Entscheidung erst einmal abzulenken und später darüber nachzudenken, fällt mein Blick wieder auf den Stundenplan. Vor den Mathestunden schlage ich mir meist eine Buchseite mit entsprechenden Formeln auf oder schaue mir manchmal auch schon Aufgaben an, die wir demnächst durchnehmen könnten. Wie so viele Dinge, die ich mache, halten das meine meisten Mitschüler für übertrieben. Aber es hilft viel, sich die Beispiele selbst zu erarbeiten; so versteht man meist viel mehr als bei den komplexen Erklärungen eines Lehrers, der manchmal nicht nachvollziehen kann, dass seine Schüler nicht über so ein mathematisches Verständnis verfügen wie er selbst, der das Fach immerhin studiert hat. So viel Zeit habe ich diesmal aber nicht mehr, so lege ich mir nur mein Formelheft zurecht. Wir machen in der Stunde ohnehin nichts Nennenswertes. Wir nehmen ein paar Beispiele durch, die wir schon vorher einmal in ähnlicher Form gerechnet haben, nichts Neues oder Schwieriges. Der Lehrer will so kurz vor der baldigen Schularbeit auch kein neues Thema mehr anfangen, sondern lieber Älteres wiederholen, bis es sitzt. Während ich fast automatisch die relativ einfachen Aufgaben rechne, denke ich weiter über die Englisch-Arbeit nach und mir kommt eine ganz neue Idee. Ich könnte schon jetzt zur Hammer gehen und ihr sagen, Anna und ich hätten wegen unseren Differenzen beschlossen, jeder eine eigene Arbeit zu dem Buch verfassen zu wollen, und sie sei darüber informiert und einverstanden. Die Lehrerin wird mich mit meinem Ruf als immer braves und nettes Mädchen bestimmt nicht verdächtigen, Anna eine Bosheit anzutun, diesen Bonus genieße ich. Und doch wird sie mir andererseits glauben, dass wir zu zweit nicht zurechtkommen oder uns einig werden können, denn es ist auch unter den Lehrern allgemein bekannt, dass Anna und ich uns nicht leiden können. Der Clou an der ganzen Sache, die Gemeinheit, ist letztendlich, dass ich Anna von dem Ganzen erst im letzten Moment, kurz vor der Deadline, von „unserem“ Beschluss erzählen werde, sodass sie sich in dieser kurzen Zeit noch ein paar eigene Texte aus den Fingern saugen muss. Das sieht mir eigentlich nicht ähnlich, aber genau deshalb kann ich es mir ja auch erlauben. Selbst am Ende wird niemand meinen, dass ich ihr das absichtlich angetan habe. Und wenn, wird meine eigene Note nicht darunter leiden, schlimmstenfalls bekommt Anna einfach nur eine zweite Chance. Daraus zieht sie zwar nicht unbedingt eine Lehre, aber ich muss nicht schon wieder für andere – und zwar ausgerechnet sie – die ganze Arbeit machen. Ich wundere mich beinahe über mich selbst, wie begeistert ich von der ganzen Sache bin. Normalerweise bin ich ehrlich nicht der fiese, hinterhältige Typ. Aber schon der Gedanke an eine ratlose, im Stress versinkende Anna verleiht mir eine Genugtuung, die mich langsam nachvollziehen lässt, wieso sie sich mir gegenüber selber so leidenschaftlich gerne unfair verhält. So plane ich, nach der Mathestunde – die letzte Stunde vor einer zweistündigen Mittagspause – die in einer Viertelstunde zu Ende ist, noch einmal zur Hammer zu gehen und ihr von dem Beschluss zu erzählen. Doch dann überdenke ich das noch einmal. Wir können noch gar nicht mit der Arbeit angefangen haben, also wie können wir uns jetzt schon uneinig sein? Das Ganze wird einfach auf morgen vertagt. Ich bemerke, dass ich ungewöhnlicherweise schon seit ein paar Minuten dem Lehrer nicht mehr zuhöre. Um mitzukommen, blättere ich eilig auf die richtige Seite im Buch und stelle erleichtert fest, dass ich auch diesen Text schon kenne und durchgegangen bin. Meine Banknachbarin Hanna sieht ein wenig erstaunt zu mir herüber. Sie ist es wohl nicht gewohnt, dass ich so vor mich hinträume. Vielleicht passt Anna deshalb nie auf: weil sie so viele gemeine Pläne schmiedet. Aber den Gedanken verscheuche ich gleich wieder: ich weiß ja, dass das bei ihr nur mit Desinteresse zusammenhängt, und vielleicht mit einem Schuss Rebellion. * Manchmal überlege ich mir, ob alles anders verlaufen wäre, wenn Anna bei unserer ersten Begegnung anders reagiert hätte. Aber ich bin nicht sicher, ob das überhaupt möglich gewesen wäre oder ob es etwas geändert hätte. Es ist nun einmal Annas Natur, anderen gegenüber misstrauisch zu sein, anscheinend besonders, wenn sie versuchen, nett zu ihr zu sein. Trotzdem verstehe ich nicht, was ich damals falsch gemacht habe. Ich habe ihr keine Fragen gestellt, ich habe sie nicht belästigt, ich bin nur hingegangen, um mich ihr vorzustellen, und sie war so einsilbig, dass ich sofort spürte, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollte. Warum eigentlich? Mittlerweile weiß ich schon, was ihr an mir zuwider ist: wie so viele verurteilt sie mich, weil ich ja eine „Streberin“ bin, und außerdem meint sie, ich wäre reich und verwöhnt. Aus meiner Sicht kann ich das nicht so gut beurteilen, aber ich kann mich nicht entsinnen, jemals mit meinem Geld angegeben zu haben. Klar, ich habe ein Handy, einen iPod, einen Filofax... aber all das haben viele in meiner Klasse genauso, sogar Anna selbst nennt die ersteren beiden Dinge ihr Eigen. Ich sitze gerade alleine im Bus. Ich fahre nun nach dem Spanischunterricht von der Schule nach Hause, ich habe nichts zum Lesen dabei und im Moment auch nichts für Zwischendurch zum Lernen, denn Geographie will ich mir erst zu Hause richtig ansehen und dabei gleich ein paar Dinge herausschreiben. Stella fährt nicht mit dem selben Bus wie ich, außerdem hat sie nicht Spanisch als Wahlpflichtfach ausgesucht (Anna dagegen hat wieder, ob aus Zufall oder nicht, das selbe Fach wie ich genommen), sondern Altgriechisch. Aus all diesem Gründen habe ich im Moment nichts Besseres zu tun als aus dem Fenster zu starren, Musik zu hören und dabei nachzudenken. Dank des neuen Englisch-Problems fällt mir da wieder nur dieses eine Thema ein. Wenn ich die Wahl habe, würde ich mich immer für die Freundschaft entscheiden. Das fällt mir nicht schwer, ich kann in jedem Menschen etwas Gutes finden, ihn mögen oder es mir zumindest einreden, bis es Wirklichkeit wird – die guten Eigenschaften werden sich irgendwann summieren, und die Fehler werden vor mir verblassen und in den Hintergrund treten, wie es bei einer guten Freundschaft eben immer ist. Aber ich bin nicht sicher, ob ich in Annas Fall noch zurückkönnte. Angenommen, sie würde eine Wendung um hundertachtzig Grad vollführen, sich entschließen, dass sie es im Leben zu wenig bringt, wenn sie für niemanden ein gutes Wort übrig hat, sondern über jeden nur entweder lästert oder ihn schwach anredet. Angenommen, sie würde sich bei mir entschuldigen, für jeden beleidigende Satz, den sie je an mich gerichtet hat, für jedes Mal, wenn sie mich aufgezogen hat, indem sie vorlaut war oder mich ignoriert hat. Ich versuche es mir vorzustellen, die Tatsache außer Acht lassend, dass es nie soweit kommen wird, und schaffe es sogar. Aber wenn ich mir dann meine eigene Reaktion vorstelle, schnürt es mir die Kehle zu. Ich würde nicht lächeln, wie ich es immer tue. Ich würde es kaum zur Kenntnis nehmen. Ich würde sie trotzdem hassen, dafür, dass sie mir meine Beherrschtheit genommen hat, dass sie mich für all das, auf das ich stolz bin, immer beschimpft hat, und dafür, dass sie mich jahrelang immer wieder ausgenutzt hat und ich so blöd war, es mir gefallen zu lassen. Ich könnte die größte, spektakulärste Entschuldigung nicht annehmen, ich würde sie trotzdem genauso verabscheuen, wie ich es jetzt tue. Und diese Art Hass, die ich nie zuvor gekannt habe, ist mir eigentlich sehr unheimlich. Ich war doch immer diejenige, die jeden mochte, wenn sie sich ein bisschen bemüht hat – und darauf war ich so stolz. Anna kann sich wohl zu Recht damit brüsten, dass sie mir in jeder Beziehung meinen Stolz genommen hat. Es ist dieser eine Aspekt meines Lebens, den ich gerne ändern würde. All meine anderen Fehler kommen mir dagegen klein und unwichtig vor: dass ich manchmal ein wenig übertrieben ehrgeizig bin und mich im Gegensatz zu anderen, die sich nicht zum Lernen überwinden können, nicht dazu überwinden kann, mir ein wenig Freizeit zu gönnen. Dass es mir manchmal ein wenig zu wichtig ist, dass niemand schlecht von mir denkt. Dass ich lieber einmal etwas mehr arbeite und mich ausnutzen lasse, anstatt mich zu wehren. Das alles ist mein eigenes Problem, aber jedes Mal, wenn Anna mich wieder höhnisch anlächelt oder mich so ansieht, als wäre ihr nichts auf der Welt so egal wie das, was ich denke oder fühle, und ich das Gefühl habe, dass ich gleich einen Schreikrampf bekomme oder schlimmer, dann bin ich mir nicht sicher, ob ich mich immer unter Kontrolle haben werde. Früher konnte ich so etwas noch ignorieren, heute zerrt es an meinen Nerven – wie weit wird Anna es in den letzten beiden Schuljahren noch bringen? Wird sie mich vielleicht noch auf die Uni oder bis zum Beruf verfolgen, wie sie es ja gerne tut, solange es keinen zusätzlichen Aufwand für sie bedeutet – nur damit sie mich auf irgendeine Weise fertig machen kann? Der Bus hält, das Lied endet auch gerade. Ich wickle schnell das Kabel der Kopfhörer um meinen iPod herum und stecke ihn behutsam wieder in meinen Schulrucksack. Ich muss nicht immer mit dem Bus nach Hause fahren. Sehr oft werde ich auch abgeholt, weil meine Mutter auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an der Schule vorbeikommt. An Tagen wie heute, an denen ich am Nachmittag Unterricht habe, geht sich das allerdings nicht aus. Ich muss von der Bushaltestelle bis zu unserem Haus ein kurzes Stück gehen. Wie immer wird mir ein paar Minuten zu spät bewusst, dass ich während dieses kleinen Spazierganges auch noch Musik hören hätte können, aber dann entscheide ich mich dafür, den iPod dort zu lassen, wo er ist. An meinem engen, schwarzen Rock und der blauen Bluse gibt es sowieso keine Taschen, wo ich ihn inzwischen einstecken könnte. * Anna Ich hab mir einen feinen Nachmittag gegönnt, während die restliche Klasse im Klassenzimmer herumhocken durfte. Ein bisschen pennen, ein bisschen Musik hören, ein bisschen vor dem PC hängen und Mails checken, dann noch ein Weilchen fernsehen. Erst, als ich erneut auf meinem Bett herumliege und mich fast ein bisschen langweile (was natürlich immer noch besser ist als Schule – als würde ich mich während Spanisch nicht langweilen), denke ich kurz an das blöde Englisch-Buch, überlege mir, ob ich vielleicht doch etwas machen soll oder einfach darauf vertrauen, dass Mischa wie immer die ganze Arbeit macht. Ich bin mir nicht sicher, so viel kann ich schon mal sagen. Es sieht vielleicht aus, als wäre mir die Schule wirklich zu hundert Prozent egal, aber ganz so ist es auch nicht: wäre ich dann jetzt immer noch mit dieser Streberin in der Klasse, die in einem Jahr soviel arbeitet wie ich in den letzten sechs zusammen? Ich will auf keinen Fall sitzen bleiben. Einerseits, weil ich absolut keinen Bock habe, noch ein Jahr an der Schule zuzubringen, andererseits, weil ich nicht blöd bin. Idioten bleiben sitzen, Typen, die entweder von Haus aus zu dumm sind, auch nur was zu kapieren, oder solche, die meinen, sie können faul sein, sich aber dabei verrechnen. Ich habe im Blick, in welchem Fach ich es mir erlauben kann, mal eine Schularbeit ganz zu ignorieren oder einen Test in den Sand zu setzen. Und wenn das nicht funktioniert, dann setze ich mich die fünf Minuten hin, lese mir die Texte gerade so durch, dass ich mit einer Vier davonkomme, oder schreibe mir auch mal einen Schwindelzettel. Es ist eigentlich witzig: wenn ich lernen würde – und damit meine ich nicht so lernen wie Mischa, deren bloße Intelligenz kaum etwas wert ist – könnte ich die absoluten Musternoten haben. Aber was bringt es mir? Verlorene Freizeit, in der ich mich amüsieren kann, Hunderte sinnvollere Dinge machen kann, als irgendetwas zu lernen, was ich in spätestens ein paar Monaten so oder so wieder vergessen haben werde. Nach meinen Zeugnissen wird später kein Hahn mehr krähen. Wenn meine Laune mitspielt, werde ich mich wohl gut auf die Matura vorbereiten und da mit einem erstklassigen Zeugnis hervorgehen, das sich getrost sehen lassen kann. Ich hab keine riesigen Wissenslücken, wie etwa in Sprachen. Wie gesagt: ich bin nicht blöd. Ich mache nur das Nötigste, und ich weiß sehr wohl, was nötig ist. Wenn ich kein spanisches Verb konjugieren kann, ist es klar, dass ich ohne diese Grundkenntnis nicht sehr weit komme. Habe ich aber diese Basis, muss ich das auf die Tests nicht mehr lernen. Mein Notendurchschnitt ist meistens unter drei, bestenfalls vielleicht zwei Komma fünf. Das ist der Durchschnitt einer Minimalistin, einer Idealistin in schulischen Dingen. Wo ich kann, kürze ich Lernstoff, fahre Trittbrett bei den Dummerchen, die sich tatsächlich mal für eine Arbeit hineinhängen (und da ist Mischa weiß Gott nicht die Einzige, höchstens die Hervorstechendste), und lasse Aufgaben aus, die meine Note nicht besonders weiterbringen werden. Ich weiß, welche Lehrer es sich merken, wenn sie uns kleine Aufgaben gestellt haben, und welche es sowieso vergessen. Ich selektiere aus, welche Lehrer darüber hinwegsehen, wenn ich im Unterricht SMS schreibe oder Musik höre, und bei denjenigen, die es stört, beschäftige ich mich auf dezentere Weise anderweitig, etwa mit Kritzeleien. Es fällt mir nicht schwer, mich mit zwei, drei Dingen gleichzeitig zu beschäftigen. Während ich etwas anderes mache, bleiben immer noch ein paar Dinge hängen, die der Lehrer vorne von sich gibt, und mit einem gewissen Allgemeinwissen, gutem Erinnerungs- und Merkvermögen und leichtem Verständnis gekoppelt reicht häufig schon das aus, um beim nächsten Test eine positive Note hinzukriegen. Im Großen und Ganzen heißt das: mir ist nur egal, wie meine Noten aussehen, aber nicht, ob ich nun durchkomme. Darum verschwende ich jetzt doch einen Gedanken an Englisch. Im Grunde gehört das zu den Fächern, die ich mit links hinkriege. Ohne je wirklich Grammatik gelernt zu haben, kann ich vieles nach Gefühl. Allerdings legt die Hammer oft sehr viel Gewicht auf ihre Nebenprojekte. Wenn sie sich bei der Schularbeit, die noch aussteht, auch noch was Extravagantes ausdenkt, bin ich wahrscheinlich am Arsch. Also sollte ich doch schauen, dass ich das Buchprojekt irgendwie hinkriege. Wahrscheinlich greife ich doch auf das Internet zurück. Irgendjemand hat das Buch bestimmt schon gelesen und rezensiert. Das lege ich Mischa vor, bevor sie mich aus unserer kleinen Gruppe „rausschmeißen“ kann. Ich erhebe mich gelangweilt, werfe mich auf den Drehstuhl vor meinem Schreibtisch, und gebe kurz den Buchtitel ein. Wikipedia bietet zwar eine ausführliche Zusammenfassung, aber das ist zu offensichtlich. So blöd ist die Hammer auch nicht. Außerdem hat Mischa mir, soweit ich mich erinnere, Charakterbeschreibungen aufgetragen. Wobei das nicht das Problem ist, sie wird sich mit dem zufrieden geben müssen, das ich ihr vorlege – sie hat sich nach mir zu richten, und nicht umgekehrt. So spiele ich. Ich klicke auf ein paar andere Seiten, finde eine anscheinend mit viel Liebe zusammengestellte Fanseite, auf der sowohl Charaktere als auch Zusammenfassung zu finden sind, und entscheide mich, nur um Mischa ein bisschen zu nerven, für die Summary. Beides werde ich nicht drucken, das schadet meinem Ruf. Ich kopiere schnell das Zeug in Word, ohne es mir auch nur durchzulesen, drucke es aus und fische es nach getaner Arbeit aus dem Drucker, um es dann im Schulrucksack verschwinden zu lassen. Für heute genug gearbeitet. Ich tippe eine Internet-Seite ein, die mich tatsächlich interessiert, und surfe dann dort weiter. Mal sehen, wann ich morgen in die Schule gehe – ein, zwei Stündchen sind ja entbehrlich, oder ich komme einfach ein paar Minuten später. * Würde Mischa wie ich den Leuten das an den Kopf werfen, was sie denkt, würde sie mir sagen, dass ich keine richtigen Freunde habe. Ich weiß – oder bin zumindest sicher, dass ich damit richtig liege – dass ihre Vorstellung von Freundschaft so etwas ist, wie es bei ihr selbst der Fall ist. Eine Person, mit der sie alles gemeinsam macht, alle Geheimnisse teilt und der ganze Mist. Mischas „beste Freundin auf der ganzen weiten Welt“ ist Stella, und ich habe da irgendwie immer dieses Pyjama-Party-Bild vor Augen, zwei Mädels, die die ganze Nacht durchquatschen. So etwas liegt mir fern. Ich habe so etwas wie eine „Clique“, wobei mir das Wort zuwider ist, klingt irgendwie so nach Barbie und Mädchenzeitschriften. Auch wir gehen offen miteinander um und „können und alles sagen“, aber es wäre nicht so schlimm, wenn sich einer abkapselt. Das klingt jetzt möglicherweise hart, aber damit meine ich nur, dass niemand alleine dastehen würde, wenn einer von uns etwa wegziehen, die Schule wechseln oder sich einfach nicht mehr für uns interessieren würde. Freundschaften sind für mich etwas, was kommt und geht. Leute, die ich im Kindergarten gern hatte, interessieren mich heute nicht mehr, und es würde mir sonst wo vorbeigehen, wenn einer von denen, die ich vor zehn Jahren gekannt habe, heute mit mir Kontakt aufnehmen wollte. Sie sind ohnehin nicht mehr die gleichen Menschen, wie sie es damals waren, was geht mich ihr jetziges Leben an? Meine einzige Aufgabe in dem ihren war, es auf irgendeine Weise zu prägen, sodass sie sich mal an mich erinnern, aber mir um Gottes Willen nicht nachtrauern, nur weil unsere Wege sich getrennt haben. In mehr als fünf Jahren Schulzeit bekommt man von den Vorstellungen, Ansichten und Meinungen einer anderen Person viel mit. Aus diesem Grund weiß ich genau, was Mischa bei Freundschaften wichtig ist. So Zeug wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit. Sie findet es wichtig, dass ihre Freunde ihr Wünsche oder Sorgen von den Augen ablesen können und dass sie in den nötigen Situationen zu ihr stehen. Ich dagegen freunde mich mit Leuten an, mit denen ich Spaß haben kann. Die ähnliche Interessen haben wie ich, denen wir gemeinsam nachgehen können, oder die zumindest anderweitig viel mit mir gemeinsam haben. Es reicht mir auch, wenn man gut mit ihnen diskutieren kann, Hauptsache, es ist irgendwie möglich, angenehme Zeit mit ihnen zu verbringen. Wenn ich etwas brauche, verlasse ich mich auf niemanden. Ich vertraue mir selbst in jeder Beziehung am meisten. Momentan habe ich vier gute Freunde. Leute, mit denen ich herumhänge, etwas unternehme, ausgehe. Zum einen wäre da Natalie, eine laute, kontaktfreudige Blondine, die redet wie ein Buch und dich ständig irgendwelchen neuen Leuten vorstellt, da sie selbst so gut wie die ganze Stadt kennt. Dann Helena, ein blasses, dünnes Mädel mit traurigen Augen, das einen Hang zur Dramatik hat, die aber ab und zu sehr schlaue Sachen sagen kann und die nebenbei große Klasse im Pokern ist. Die Dritte im Bunde ist Clarissa, nicht besonders intelligent, aber mit ihren langen dunklen Haaren und den riesengroßen grünen Augen (sowie anderen nicht zu verachtenden Körperpartien) sehr hübsch, sie steht auf Partys und alles, wo es viele Leute oder Typen zum Aufreißen für sie gibt. (Diese Kunst hat sie perfektioniert.) Ein Anruf genügt, wenn dir langweilig ist, dann nimmt sie dich mit auf ihre Streifzüge in der Nacht und kann dir mindestens ein halbes Dutzend an stimmungsvollen und „angesagten“ Locations zeigen. Dann ist da schließlich noch Lukas, ein kettenrauchender Blondschopf, hinter dem mehr steckt, als man auf den ersten Blick glaubt und mit dem man über eine breite Palette an Themen reden kann, von Politik und Ethischem über Videospiele bis Klamotten (im Sinne von: Lästern über gewisse Trends, auf die sich alle, die mit dem Strom schwimmen, begeistert stürzen, egal wie bescheuert sie eigentlich aussehen). Ich gehe nur mit Lukas in die Klasse, Helena kenne ich aus der Parallelklasse und die anderen beiden habe ich beim Ausgehen kennen gelernt. Clarissa wurde mir von einer meiner früheren Freundinnen vorgestellt. Meine momentanen vier besten Freunde kennen sich auch gegenseitig und wir hängen oft genug auch zu viert herum, weshalb man uns getrost als „Clique“ bezeichnen könnte, wenn man nicht wie ich, wie gesagt, dieses Trend-Wort verabscheuen würde. Mit den meisten bin ich erst seit kurzem befreundet, nur mit Lukas verstehe ich mich seit drei oder vier Jahren gut. Für jede Freizeit-Beschäftigung habe ich meinen eigenen Partner. So ziehe ich am Wochenende mit Clarissa los, um Spaß zu haben. Zum Shoppen frage ich entweder Natalie, die gnadenlos ehrlich ist, oder Helena, die einen ähnlichen Kleidungs-Geschmack hat wie ich – nur, dass sie ein echter Goth ist und ich auch mal Farbe trage, wenn mir danach ist, denn ich lasse mich nicht in Schubladen stecken. Wenn ich mich sportlich betätigen will (selten – aber manchmal habe ich Lust auf so etwas wie Rad fahren oder Inline Skaten), kommt ebenfalls Natalie in Frage, da sie immer zu allem zu bereit ist und sie dich noch dazu unterhalten wird, anstatt still neben dir her zu fahren. Lukas ist die richtige Adresse, wenn man Rat in irgend einer Form braucht oder mit ihm ein Thema ausdiskutieren will, und auch Helena kann man zu diesem Zweck ansprechen. Wenn ich einmal zu nichts Lust habe, als faul herumzuliegen, kann ich es auch genauso gut mit Helena zusammen tun, da zu zweit herumgammeln immer noch lustiger ist, als es alleine zu tun. Ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, wie man mit einer einzigen besten Freundin auskommen kann. Niemand ist für alles geeignet. Zum Beispiel würde Helena niemals mit mir Bücher kaufen gehen, weil sie genau weiß, dass mich das nicht interessiert. Und Clarissa würde aus ähnlichen Gründen keine Schminktipps mit mir austauschen. Mit wem geht man CDs kaufen, wenn der Musikgeschmack sich nicht völlig deckt? Mit wem geht man ins Kino, wenn der Film nicht alle beide interessiert – etwa mit den Alten, oder alleine? Ist doch beides ziemlich erbärmlich. Wenn man nicht zum gleichen Zeitpunkt auf die selbe Aktivität Lust hat, dann muss man es eben lassen oder alleine machen, was eigentlich echt trostlos sein kann. Man ist viel zu sehr aufeinander angewiesen, und wenn man sich auseinanderentwickelt, wie es bei Menschen eben immer wieder passiert – wie gesagt, mich interessieren nicht mehr die gleichen Menschen wie damals in der Grundschule – dann steht man ganz alleine da und weiß vielleicht gar nicht, wie man neue Freunde finden soll, weil man das noch nie versucht hat. Danke, ich würde mein Cliquen-Leben, wie ich es führe (und nur aus Ermangelung eines besseren Begriffes als solches bezeichne), für nichts eintauschen, und sei es die aller-aller-allerbeste Freundin auf der ganzen weiten Welt und von hier bis zum Mond und zurück und so weiter. * Mischa beobachtete Anna, das Mädchen, das sie nicht mochte, seit sie es zum ersten Mal getroffen hatte. Auf eine skurrile Art und Weise faszinierte es sie. Anna war unnahbar, ließ sich von keinem etwas sagen, schien aber irgendwie immer das zu bekommen, was sie wollte. Mischa war verunsichert von der Zurückweisung, und sie konnte sich nicht vorstellen, was sie falsch gemacht hatte, aber sie wollte der Sache auf den Grund gehen, herausfinden, wie Anna dachte. Anna schien immer alleine zu sein. In den Pausen saß sie alleine auf ihrem Platz, aß ihr Pausenbrot und hörte manchmal Musik mit ihrem Discman. In dem ganzen Schuljahr, das nun schon fast vergangen war, hatte Anna sie nie mit anderen reden sehen. Mischa fragte sich, ob Anna wohl einsam war, ob sie sich nicht an andere herantraute – aber umgekehrt ließ ja auch niemanden an sich heran. Manchmal fragte Mischa sich, ob sie vielleicht gar keine Freunde haben wollte, eine ewige Einzelgängerin war. Immer wieder wollte sie erneut zu ihr hingehen, noch einmal ausprobieren, ob sie sich nicht doch ganz gut verstehen würden, aber sie ahnte, dass sie diese Möglichkeit schon verwirkt hatte. Erst gegen Ende des ersten Schuljahres sah Mischa durch Zufall, wie Anna mit einem Mädchen aus einer der Parallelklassen, das Mischa nur flüchtig vom Sehen kannte, am Gang entlang ging und sich mit ihr unterhielt. Mischa beobachtete die beiden sehr gespannt, denn es war eine Seite von Anna, die sie nicht kannte. Sie hatte das Mädchen eigentlich nie mehr als ein paar Wörter am Stück sagen hören, und das meist noch in patzigem oder genervtem Tonfall. Nun sah Mischa sie gestikulieren, beschwichtigend mit dem Kopf nicken und ab und zu sogar lachen. Mischa hätte gerne mehr über das Mädchen gewusst, mit dem Anna befreundet war. Sie war so neugierig, dass sie im Jahresbericht, den sie am Ende des Schuljahres erhielten, nach dem Foto des Mädchens suchte, ein kleines, schmächtiges Mädchen mit dunklen, kinnlangen Haaren mit dichtem Pony, und so fand sie heraus, dass es Lea hieß. Doch wie Lea dachte, worüber sie mit Anna redete, was für ein Charakter sie auszeichnete, das fand Mischa nicht heraus. Normalerweise traute sie sich an jeden heran, sonst hätte sie es am ersten Tag nicht bei Anna selbst probiert, aber in diesem Fall zögerte sie. Lea war eine Freundin von Anna, und Anna sowie alles, was unmittelbar mit ihr zu tun hatte, mied Mischa lieber, da sie sich manchmal fast ein bisschen davor fürchtete, beim kleinsten Kommentar wieder mit einem bösen Blick bedacht zu werden oder eine kleine Beleidigung an den Kopf geworfen zu bekommen. Sie kannten sich noch nicht so gut, und Mischa wurde von Anna häufig als Schleimerin bezeichnet oder als Tussi, womit sie sich eigentlich gar nicht identifizieren konnte, vielleicht, weil Anna nur nichts Besseres einfiel. Mischa dachte, dass Lea Annas beste Freundin sei, so wie es bei ihr und Stella war. Sie spekulierte, dass die beiden sich ebenfalls seit Jahren kannten, und diese Vorstellung brannte sich bei ihr ein, sodass sie sich irgendwann gar nicht mehr daran erinnerte, dass das nur eine Annahne ihrerseits war. Fragen konnte sie nicht, denn selbst wenn sie es täte, wäre sie höchstwahrscheinlich nur angeschnauzt worden, etwa, dass sie das nichts anginge. In diesem Bereich hatte Anna schon recht: Mischa hatte Angst vor Ablehnung, und darum ließ sie es gar nicht so weit kommen. Irgendwann gegen Ende des zweiten Schuljahres sah Mischa Anna nicht mehr mit Lea durch die Gänge streifen. Erst dachte sie, die beiden hätten sich zerstritten und würden bald wieder ein Herz und eine Seele sein. Aber dann fiel ihr auf, dass Anna trotzdem nicht alleine war, und sie wirkte auch keineswegs traurig. Sie hatte eine neue Freundin gefunden, ein Mädchen mit roten Haaren, dessen Sommersprossen so sehr aus dem blassen Gesicht hervorstachen, dass sie dreidimensional wirkten. Es war ein kräftiges, groß gewachsenes Mädchen, das neben der leicht schlaksigen Anna fast stämmig wirkte und sogar ein wenig größer war als Anna, die in ihrer Klasse eine der Größten war. Sie kam Mischa wie das glatte Gegenteil zu Lea vor, und sie war nun noch mehr davon überzeugt, dass Anna und Lea sich zerstritten hatten, dass Anna die Nase voll von dem Mädchen hatte und sich eine Kameradin gesucht hatte, die Lea ganz und gar nicht ähnlich war. Irgendwann siegte die Neugier, und da Lea ohnehin nichts mehr mit Anna zu tun hatte, traute Mischa sich, sich mit ihr zu unterhalten. Natürlich sprach sie Lea nicht sofort auf Anna an. Sie begann ein einfaches, lockeres Gespräch, wie viele Schularbeiten sie denn noch hätten, wünschte Lea Glück, als diese von einer baldigen Mathe-Schularbeit erzählte und beantwortete deren Gegenfragen. Bei Gelegenheit wechselte Mischa dann das Thema und fragte, was denn nun mit Anna sei, ob die beiden sich nicht mehr verstanden. Lea zuckte auf diese Frage hin die Schultern. „Ach, ich weiß nicht. Wir haben in letzter Zeit viel weniger miteinander unternommen, weil Anna sich im Moment für Videospiele und Fernsehserien interessiert, ich mich aber viel lieber über andere Dinge unterhalten möchte. Sie hat dann angefangen, sich mit Ellie über ihre Interessen zu unterhalten, und irgendwann haben wir aufgehört, viel miteinander zu reden.“ Mischa wunderte sich darüber, erkundigte sich, ob Lea denn nicht eifersüchtig auf Annas neue beste Freundin war, aber Lea schüttelte nur stirnrunzelnd den Kopf. Trotzdem leuchtete es Mischa nicht ganz ein, wie man Freundschaften einfach so auswechseln konnte. Bei der Vorstellung, dass Stella auf einmal nicht mehr mit ihr reden könnte, nur weil sie sich nicht mehr für die selben Themen interessierte wie Mischa, wurde sie ganz traurig. Sie würde Stella immer zuhören, auch wenn es kein Gesprächsthema war, mit dem sie selbst viel anfangen konnte, und umgekehrt erwartete sie auch, dass ihre beste Freundin immer ein offenes Ohr für sie hatte. Wenn Stella auf einmal zu jemand anderem gegangen wäre, wäre sie enttäuscht und verletzt gewesen. So gewann sie zu vielen anderen, wenn auch unterbewussten, schlechten Ansichten und Vorurteilen über Anna – auch wenn sie davon bei weitem nicht so viele über Anna hatte wie diese über Mischa – eine neue hinzu, nämlich dass Anna ihre Freundinnen auswechselte wie Bettwäsche, wegwarf wie einen aufgebrauchten Filzstift, wenn ihre Interessen sich nicht mehr deckten. Sie konnte nicht einsehen, wie man so mit einem Menschen umgehen konnte, den man gerne mochte, und aus diesem Grund verurteilte sie Anna. Vor ihrem inneren Auge formte sich immer mehr das Bild der bösen, egoistischen Anna, die sich nur um sich selbst kümmerte, und sie sah kaum, dass Anna eigentlich nur zu Mischa wirklich gemein war und vor allen anderen nur weiter ihr unnahbares Verhalten wahrte, das sie aber gerne ablegen konnte, wenn sie sich mit jemandem verstand. Als Anna sich im dritten Schuljahr die Haare schwarz färbte und nach und nach begann, dunklere Kleider zu tragen, später dunkle Perlenketten und Kreuze zu schweren schwarzen Schnürstiefeln, Netzstrümpfen und kurzen, mit Tüll gefütterten, pechschwarzen Miniröckchen, vereinte sich das mit all den Vorurteilen, die Mischa hegte, und für sie spiegelte diese äußerliche Veränderung Annas Seele wider. In Mischas Vorstellung war sie pechschwarz. Kapitel 3: Pläne und Sticheleien -------------------------------- Mischa Ich bin gestern noch in die Buchhandlung gegangen, nachdem ich kurz zu Hause war, und habe in der Englisch-Abteilung nachgesehen, ob sie „Holes“ dort haben. Ich habe Glück gehabt und konnte mir sofort mein Exemplar kaufen. Es wundert mich ohnehin, dass die Hammer uns aufgegeben hat, die Bücher selbst zu kaufen, denn es wird die englischen Bücher – auch wenn sie Klassiker sind – nicht in jedem Laden geben, und vielleicht brauchen sie länger, um geliefert zu werden oder kosten besonders viel. Wie auch immer, ich habe am selben Abend noch mit dem Lesen angefangen. Ich wusste noch viel von der Handlung, weil ich es ja vor einigen Jahren schon einmal gelesen habe und mir immer ziemlich gut merke, wie ein Buch abläuft. Darum habe ich mir schon einmal die Dinge zusammengeschrieben, an die ich mich noch erinnert habe, natürlich auch gleich auf Englisch. Das hat nicht wirklich viel gebracht, da ich das Buch ja sowieso noch einmal lesen muss und auch möchte, aber ein bisschen Vorarbeit kann ja nicht schaden. Während ich dann mit dem Lesen begonnen habe, habe ich mir auch nebenbei Notizen gemacht, ein Lesetagebuch geführt, um nachher genügend Stoff für eine gute Zusammenfassung zu haben. Mir fiel dann wieder mein Vorhaben ein, Anna ungefragt aus der Partnerarbeit zu verbannen, sodass sie im letzten Moment selbst alles erarbeit muss – wie es mir schon oft genug selbst ergangen ist, nicht selten gerade durch ihr Verschulden – und ich begann gleich schon einmal, die Hauptcharaktere aufzulisten, um mir ein paar Fakten über sie aufzulisten. Auch heute Morgen habe ich wieder an dieses Vorhaben gedacht, und nun plane ich, spätestens in der großen Pause zum Lehrerzimmer zu gehen und mit der Hammer über meinen – oder unseren, wie ich angeben werde – Beschluss zu reden. Ich lüge nicht häufig und bin mir nicht sicher, wie gut ich es kann, aber ich beschließe, einfach nur „wir“ statt „ich“ zu sagen und ansonsten nicht viel zu schwindeln, dann ist es nicht so schlimm. Ich habe vor, es Anna gerade zwei Tage vor der Deadline zu sagen. Viele meiner Mitschüler beginnen nicht selten etwa in diesem Zeitraum erst mit der Arbeit, und so wird Anna es auch schaffen, nur dass sie sich einmal dafür reinhängen wird müssen, wenn ihr an der Note doch irgendwie etwas liegt. Das schadet ihr keineswegs. Und wenn sie es darauf ankommen lässt, eine schlechte Beurteilung auf diese Arbeit zu bekommen, und sich lieber auf die nächste Schularbeit verlässt (auf die sie dann wahrscheinlich auch nicht lernen wird), soll es mir auch egal sein. Meinetwegen kann sie ruhig sitzen bleiben, dann wäre ich sie dafür los, und sie hätte es verdient: durchgekommen ist sie bis jetzt doch ausschließlich durch Glück und ein bisschen Schmarotzen. Die Vorstellung gefällt mir, rein logisch ergibt alles einen Sinn, Anna bekäme auch im schlimmsten Fall nur, was sie verdient. Aber Genugtuung erfüllt mich trotzdem nicht wirklich. Ich weiß schon, woran es liegt: Gemeinsein steht mir nicht wirklich. Dazu bin ich nicht geboren – ich bin die, die immer freundlich und zuvorkommend auf andere zugeht. Aber das habe ich bei Anna alles schon versucht, mehr als einmal, und es hat nun einmal einfach nicht funktioniert, weil sie es nicht zugelassen hat. Warum sollte ich ihr nicht so begegnen wie sie mir? Sie würde mich ohne Skrupel auf diese Weise hereinlegen, wenn sie nicht zu faul wäre, sich einmal ein bisschen dafür anzustrengen und wenn sie gegen mich einen Trumpf im Ärmel hätte wie ich gegen sie: mich mögen die Lehrer, ich bin die vorbildliche, brave Schülerin, mich würden sie nicht verdächtigen, mutwillig jemand anderen hereinzulegen. Kurz bevor die dritte Stunde vorbei ist, packen mich doch noch ein wenig die Zweifel. Was, wenn Anna am Ende der Hammer erzählt, dass ich sie hintergangen habe? Würde sie ihr glauben? Würde Anna sich überhaupt die Mühe machen, auf diese Weise um ihre Note zu kämpfen? Und was könnte die Lehrerin dann überhaupt noch ändern – den Abgabetermin für Anna verschieben? Würde sie mit mir schimpfen, weil ich Selbstjustiz angewandt habe? Hieße es, dass es ganz egal sei, wie oft Anna schon bei mir Trittbrett gefahren ist, auf diese Weise dürfe man sich nicht rächen? Oder würde die Hammer Verständnis für mich zeigen, vielleicht sogar sagen, dass es Anna einmal eine Lehre gewesen sei? Ich reiße mich ein bisschen zusammen. Es geht nur um eine kleine Arbeit, sage ich mir vor, nur wegen der wird sie schon keine ernsthaften Konsequenzen davontragen, und ich auch nicht. Nur glaube ich meinen Gedanken selbst nicht so ganz, weil es für mich so etwas wie „kleine Arbeiten“ nicht gibt. Selbst der einfachsten fünf Minuten-Hausaufgabe messe ich noch Bedeutung zu, ich lasse nie etwas aus, nur weil es mir unwichtig erscheint – und diese Arbeit an den Büchern ist es auch gewiss nicht. Kleine Zwischenprojekte wie dieses machen bei der Hammer sehr oft einen Großteil der Note aus. Schon letztes Jahr hat Jakob, ein Mitschüler, gerade noch durch eine positive Note in der Schularbeit die Kurve gekriegt, weil das Portfolio, das wir zusammenstellen musste, bei ihm leider ziemlich danebengegangen ist. Da klingelt es schon, ganz automatisch verräume ich die Biologie-Sachen – ich bemerke betroffen, dass ich in den letzten paar Minuten nicht mehr alles mitgeschrieben habe, und blättere aus diesem Grund gleich die nächsten paar Wochen in meinem Filofax durch, um mich zu vergewissern, ob wir in nächster Zeit auch sicher keinen Test haben – und erhebe mich, nicht ohne vorher einen letzten prüfenden Blick auf den Stundenplan zu werfen. „Ich muss kurz mit der Hammer wegen dem Buchprojekt reden.“, erkläre ich Stella, die bereits mit ein bisschen Kleingeld in der Hand auf mich zugeht. „Kauf dir ruhig inzwischen was.“ „Okay.“, sagt sie. „Passt etwas nicht mit Anna? Könnt ihr euch jetzt schon nicht einigen?“ Ich halte inne und überlege, ob die Leute, die in ihrem Leben ständig lügen und betrügen, wohl auch ihre Freunde darüber einweihen. Kurz darauf bin ich über den Gedanken entsetzt. Natürlich werde ich es Stella sagen! Sie ist meine beste Freundin, und außerdem weiß sie, wie ich in den letzten Jahren unter Anna gelitten habe und wird mein Vorhaben bestimmt billigen. Nur möchte ich es ihr nicht gleich hier in den Gängen der Schule berichten, wer weiß, wer von den Schülern mit Anna befreundet ist und ihr davon erzählen könnte. Und außerdem will ich erst mal mit der Lehrerin reden, wer weiß, wie lange es dauert, Stella von meinem Plan zu erzählen, und wie viel Zeit danach noch ist – vielleicht artet meine Frage ja doch zu einer Diskussion aus. „Nicht so ganz... ich erkläre es dir später.“, sage ich und nicke ihr zu. „Na gut.“ Stella zuckt die Schultern, sie erwartet ja auch nichts Besonderes, und steuert auf den Stand mit Essen zu, um sich ihren Donut – oder worauf sie nun Lust hat – zu kaufen. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, zum Lehrerzimmer. Ich habe Glück und treffe die Hammer noch auf dem Weg, da sie ebenfalls gerade zum Lehrerzimmer will. Ich laufe ein paar Schritte zu ihr hin, um sie gleich abzupassen. „Frau Professor“, halte ich sie auf, und sie bleibt stehen und sieht mich erwartungsvoll an. „Anna und ich haben bemerkt, dass wir uns nicht wirklich zusammenraufen können, und wir haben uns entschieden, dass es für uns beide besser wäre, wenn wir die Arbeiten separat erledigen.“ „Das heißt, ihr möchtet keine Partnerarbeit machen.“, wiederholt die Hammer langsam. Ich nicke dazu. „Und das habt ihr beide entschieden?“ Oje, sieht man mir schon jetzt an, dass ich schwindle? Ein wenig verunsichert, vor allem, weil ich nun auf ihre direkte Frage hin lügen muss, nicke ich erneut. „Ja. Wir haben schon angefangen zu streiten, als wir nur die Arbeitseinteilung erledigen wollten.“ Ich lache nervös, und breche sofort wieder ab, als ich merke, dass es zu nervös klingt. „Na gut, dann rede ich noch einmal mit Anna darüber.“ Ich zucke zusammen, aber ich zwinge mich, ihr nicht sofort ins Wort zu fallen, sondern versuche, ruhig und gefasst zu antworten. „Das wird nicht notwendig sein, Frau Professor.“ Ich schüttle beschwichtigend den Kopf. „Sie meinte, sie wolle eigentlich nicht mehr mit der Sache zu tun haben, als es sein muss. Sie wissen ja, wie sie ist.“ Diesmal füge ich besser kein Lachen hinzu, das klingt zu gestellt. Sie mustert mich kurz, und unter ihrem Blick bricht mir der Schweiß aus. Kriege ich rote Ohren, wenn ich lüge? Flattern meine Nasenflügel? Wirke ich zu nervös? Aber dann sagt sie: „Okay, in Ordnung. Dann macht ihr eure Arbeiten einzeln.“ Ich atme unhörbar aus. Der gute-Schülerin-Bonus hat anscheinend doch etwas gebracht – das erste Mal, dass ich ihn eingesetzt habe, soweit ich mich erinnere. „Gut, Dankeschön, Frau Professor.“, sage ich, und dann laufe ich, ohne eine weitere Antwort abzuwarten, schnell zurück zu Stella, die sich heute eine Brezel gekauft hat. „Wolltest du mir nicht irgendwas erzählen?“, erkundigt sie sich nun kauend. Ich hebe leicht die Schultern. „Na ja... ich wollte... nun... Anna mal eins auswischen.“, sage ich verlegen. Stella sieht sehr erstaunt zu mir und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. „Eins auswischen? Du? Seit wann wischt du Leuten eins aus?“, wundert sie sich. Oh je, ich bin wirklich das „brave Mädchen“. „Ja... ich dachte mir, da sie mir nun zum wiederholten Mal das Thema weggeschnappt hat, das ich haben wollte, um aus meiner Arbeit dann ihren Vorteil zu ziehen, hat sie es mal verdient, dass ihr Plan, nichts zu tun, den Bach hinunter geht.“ „Wegschnappen?“ Stella sieht nachdenklich aus. „Eigentlich hat sie sich ja vor dir eingetragen... und du kannst sowieso jederzeit zur Hammer gehen, wenn du meinst, dass Anna nicht arbeitet.“ Ich verziehe ein wenig das Gesicht. Zu wem hält sie eigentlich? „Ja, ja. Egal, zur Hammer bin ich ja jetzt auch gegangen.“ „Ah ja.“ Sie hebt eine Augenbraue. „Und das war das mit dem Auswischen?“ „Nicht ganz. Ich habe gesagt, dass Anna und ich nicht zurechtkommen würden und jeder seine eigene Arbeit abgeben würde.“ Stella sieht nicht sehr beeindruckt aus, eher abwartend. Ich fahre fort: „Und der Punkt an meinem Plan ist – das werde ich Anna erst im letzten Moment, vielleicht zwei Tage vorher, sagen!“ Ich warte begeistert auf Stellas Reaktion, die gerade wieder in ihre Brezel gebissen hat und mit dem Kauen beschäftigt ist. Als sie meinen erwartungsvollen Blick sieht, hält sie inne. „Das war’s?“ Ratlos starre ich meine beste Freundin an. „Ähm, ja?“ Sie runzelt kurz die Stirn, scheint zu überlegen und fängt dann an, zu kichern. „Sehr fies. Du bist ja ein richtiges Biest.“ Stolz nicke ich. Endlich nicht mehr das Vorzeige-Mädchen! Mir ist diese Rolle sowieso langsam langweilig geworden. „Ja, und das Beste ist, dass so etwas von mir nicht erwartet wird!“ Stella schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn, und ich werfe ihr einen verwunderten Blick zu. „Ähm... Mischa? Was versprichst du dir davon?“ „Ich dachte, du fändest den Plan gut?“, frage ich besorgt. Langsam verstehe ich sie nicht mehr. Findet sie die Aktion vielleicht doch ein bisschen übertrieben? „Mischa... zwei Tage vorher sind eine Ewigkeit für uns... gewöhnliche Schüler.“, erklärt Stella mit bedauerndem Schulterzucken. „So eine Aufgabe – Charakterbeschreibung, Zusammenfassung, Reflexion... das schafft man, wenn es sein muss, noch, wenn man am Vortag um zehn Uhr nachts anfängt. Im Notfall schwänzt man noch ein, zwei Stündchen oder – die Methode für die etwas gewissenhafteren, zu denen Anna zugegebenermaßen wahrscheinlich nicht gehört – man arbeitet halt die Nacht durch. Aber man wird nicht daran verzweifeln. Vor allem kann ich mir bei Anna gut vorstellen, dass sie das Internet zu Rate zieht und sich in ein paar Minuten einen passenden Text ausdruckt.“ „... Ach.“ Mehr fällt mir nicht ein. Und das war es dann mit meinen tollen Plänen, mit meinem Racheakt. Anscheinend stört das eine – wie hat Stella eben gesagt? Gewöhnliche Schülerin nicht einmal. Und ich bin mir noch besonders gemein vorgekommen. Plötzlich ist mir das ganze peinlich. „Hey, Mischa. Änder doch deinen Plan ein wenig.“, schlägt Stella vor, um mich aufzuheitern, und wirft die Serviette weg, die bei ihrer Brezel dabei war. „Sag es ihr einfach gar nicht.“ „Aber dann wird sie doch der Hammer sagen, dass ich sie nicht informiert habe...“, gebe ich zu bedenken. „Wenn sie das macht, hätte sie es auch getan, wenn du es ihr erst zwei Tage davor gesagt hättest. Und selbst wenn, dann kannst du bestimmt eine Ausrede erfinden. Dir glaubt die Hammer sicher eher, du lügst doch sonst nie. Sag eben, du hättest es Anna sehr wohl mitgeteilt, sie habe die Sache aber absichtlich ‚vergessen’ und zu ihrem Vorteil verdreht. Oder behaupte, du wolltest sie anrufen, hast sie aber nicht erreicht. Oder du hättest ihr eine SMS geschickt und fest angenommen, dass sie von der Sache wusste.“ „Aber ich hab doch eben zur Hammer gemeint, dass ich das bereits mit Anna beredet habe und sie einverstanden war.“ „Dann sagst du halt, dass Anna schon zugestimmt hätte, nun aber lügt. Ich sag es dir, du hast den Vorteil. Im Zweifelsfall glaubt die Hammer dir, oder im schlimmsten Fall weiß sie nicht, wem sie glauben soll und gibt halt Anna noch ein paar Tage mehr Zeit, ihre Sache fertig zu machen.“ Für Stella scheint das alles ganz klar, und sie scheint auch keine Skrupel in irgend einer Form zu hegen, obwohl sie gar nicht wirklich mit Anna verfeindet ist. Sie sind natürlich nicht gerade befreundet – Anna sucht sich selbst aus, mit wem sie gerne redet, und da nimmt sie sicher nicht meine beste Freundin – aber sie kommen miteinander aus. „Bin ich zu nett?“, seufze ich bei dem Gedanken. „Irgendwie ist mir nämlich unwohl dabei, Anna so hereinzulegen.“ „Ach. Was kann schon groß passieren, außer dass Anna sich ein bisschen ärgert?“ Stella zuckt die Schultern. „Selbst wenn das Ganze für Anna zum Fünfer ausarten sollte, was es nur im schlimmsten Fall tun wird, dann wird sie wohl nicht so blöd sein und die Schularbeit auch noch auf gut Glück vermasseln und hoffen, dass noch ein Wunder geschieht. Nur wegen dir wird sie nicht sitzen bleiben. Und ich glaube, du willst sowieso mit der ganzen Sache erzielen, dass sie mal selbst arbeitet, anstatt sich dauernd von anderen – also großteils von dir – die Arbeit abnehmen zu lassen, oder nicht?“ „Jaa...“, murmle ich. „Aber wenn ich ihr gar nichts sage, dann wird sie gar nicht mehr dazu kommen, zu arbeiten. Dann habe ich mein Vorhaben sowieso verfehlt.“ Genau, da habe ich schon ein Gegenargument zu der Möglichkeit, es ihr ganz zu verschweigen. „Was ist dir nun wichtiger: Rache oder eine Lehre, die Anna sich sowieso nicht fürs Leben merken wird? Sie wird sich so oder so nicht ändern, Mischa. Sie hasst...“ Sie bricht jäh ab und schüttelt dann den Kopf, „Ihr versteht euch nun mal einfach nicht, und ich bezweifle, dass sich das ändern wird, vor allem nicht wegen einer solchen Aktion.“ „Meinst du, ich sollte es ganz lassen?“, schlage ich mit ein wenig Verzweiflung in der Stimme vor. Stella seufzt. „Mir ist es eigentlich egal, ob du das durchziehst oder nicht, ich muss Anna nicht leiden sehen, falls das überhaupt passieren sollte. Aber: du machst immer Rückzieher. Immer, Mischa. Ich denke, das solltest du dir mal abgewöhnen – lass dir nicht alles gefallen und wehr dich.“ Sie nickt mir bestimmt zu, und auf so einen Rat kann ich nichts mehr erwidern. Dann werde ich es wohl machen. * Anna Als Mischa mit Stella zurückkommt, ist die große Pause noch nicht vorbei. Ich langweile mich ein bisschen, weil ich gerade sehr faul bin und keine Lust auf ein Gespräch mit Lukas habe – dazu muss ich zu viel denken – und schon gar nicht darauf, Helena irgendwo suchen zu gehen, weil sie jetzt in der großen Pause wahrscheinlich nicht in der Klasse herumhängt, so wie ich es gerade tue. Wenn ich kein gutes Jausenbrot dabeigehabt hätte, hätte ich mich wohl doch erhoben, um mir was kaufen zu gehen. Aus eben dieser Langeweile heraus habe ich gute Lust, mal wieder Mischa ein bisschen zu ärgern, aber ich muss mir was überlegen. Wenn’s nicht sein muss, gehe ich nicht extra zu ihr rüber. Ich mustere sie, während sie sich niederlässt und offensichtlich wieder mal ihre sieben Sachen für die nächste Stunde bereitlegt, eine Weile, um festzustellen, ob sie irgendetwas Lästernswertes an sich trägt. Das lange blonde Haar sauber mit einem Haarreif aus dem Gesicht gehalten – den, wohlgemerkt, ein kleiner, glitzernder, hellgrüner Schmetterling ziert, und ich verfasse schon mal eine mentale Notiz deswegen; dazu ein zartgrünes Shirt mit V-Ausschnitt und knielange, dunkle Jeans mit irgendwelchen Perlenapplikationen. An den Füßen trägt sie, wie fast immer, Ballerinas, farblich passend in hellem Grün mit weißem Schleifchen vorn und weißen Blümchen in der Nähe der Ferse, denn diese Trendschühchen hat sie in sämtlichen Farben dreimal, oder so. Ich greife in Ermangelung von etwas Besserem auf die erste Entdeckung zurück. „Hey, Paolini. Ich wusste ja, dass du einen Vogel hast, aber wieso gesellt sich jetzt auch noch ein Schmetterling dazu?“, frage ich. Gott, ich weiß, dass der schwach war, aber sie lässt sich ja seit Neuestem sooo leicht ärgern. Erst einmal weiß sie gar nicht, was ich meine. Dann flüstert ihr Stella, die noch neben ihr sitzt, ihr etwas ins Ohr, offensichtlich muss sie ihre Freundin an ihre eigene Garderobe erinnern. Mischas Hand wandert zum Haarreif, wie um sich zu vergewissern, dass Stella und ich sie nicht verarschen, und saust dann wütend wieder herunter. „Wenigstens versuche ich nicht, meinen ‚Vogel’ damit zu verscheuchen, dass ich mich kleide wie Morticia Addams, Strasser.“ Schade nur – für sie – dass mein Nachname nicht so schön abfällig auszusprechen ist wie der ihre – dazu ist er nun mal einfach nicht exotisch genug. Außerdem hinkt ihr Vergleich ein wenig. „Du hast wohl noch keinen echten Goth gesehen, Paolini, wenn ich dir schon Angst mache.“ Ich betrachte meine – unlackierten – Fingernägel und die paar Ringe daran, die aber weder Totenköpfe noch sonst irgendwelche grausigen Gravuren aufweisen. Ich habe lediglich schwarze Haare, allerdings mit einigen bunten Strähnen darin, und einen Hang zum Punk. Gegen Sicherheitsnadeln, Nieten und ähnlichen Kram habe ich nichts einzuwenden, aber ich rühre sehr wohl auch buntere Stücke an. Heute bin ich, was ihrer Argumentation zugute kommen könnte, zwar ganz in Schwarz gekleidet – ein Top mit Trägern, durch die jeweils im Zopfmuster ein schwarzes Lederband gefädelt ist, und ein schwarzer Falten-Minirock (mit schwarzem, kaum sichtbarem Tüll gefüttert, damit er nicht schlaff herunterhängt); dazu ausnahmsweise schwarze, hochhackige Sandalen, weil ich mit meinen schweren, schwarzen Schnürstiefeln bei der Hitze eingehen würde – aber an sich nicht besonders „Grufti“-mäßig. Ich trage keinen Eyeliner, habe mir keine Smokey-Eyes geschminkt, habe nirgendwo einen Nietengürtel oder etwas Derartiges, bin nicht über und über mit Ketten behangen – nur eine, und das ist eine Schnur mit einer Feder dran, eine meiner wenigen uralten Sachen, die noch tragbar sind, und dann noch ein mehrmals um mein rechtes Handgelenk gewickeltes schwarzes Lederband – trage auch meine Netzstrümpfe nicht und habe, wie bereits erwähnt, untypische Schuhe an. Ich bin heute so gar nicht Goth. Und erst recht nicht „Morticia Addams“ – soweit ich mich an die Addams Family erinnere, trug die nämlich bestimmt kein Augenbrauen-Piercing. Und ich besitze auch keine natürliche Blässe, und es liegt mir fern, dem mit Schminke zu behelfen. Wie gesagt, ich bin kein – ach lassen wir das, ich hab’s eh schon zehnmal gesagt. „Wenn du mir drei Gemeinsamkeiten von mir und Morticia aufzählst, dann...“ Ich überlege eine Weile, ob es irgendetwas gibt, was ich tun oder ihr geben könnte, was möglichst keinen zusätzlichen Aufwand für mich bedeutet. „Dann lass ich dich einen Tag lang in Ruhe.“ Immerhin muss ich mir dann nichts Gemeines für sie überlegen. „Langes, schwarzes Haar, schwarze Klamotten, gelangweilter Gesichtsausdruck, und, ach ja, sollte zum Davonlaufen sein, ist aber im Grunde eher zum Lachen.“, sagt sie, ohne zu zögern. Ich bin nicht sehr beeindruckt. „Das waren vier, also wird’s leider nichts mit unserem Deal.“, sage ich pseudo-bedauernd. „Ich werd’s übrigens nicht überprüfen – als ob ich die Serie so genau kennen würde. Und dass meine sarkastischen Äußerungen zum Lachen sind, will ich auch bezwecken.“ Schon klar, dass sie das nicht gemeint hat, aber sie macht sich nicht die Mühe, mir das zu erklären. Beleidigt, trotzig, schmollend oder was auch immer dreht sie sich weg und wendet sich „Wichtigerem“ zu, wie zum Beispiel ihren Matheaufgaben. Ich hab keinen Stundenplan, aber ihr Buch liegt schon sichtbar aufgebreitet auf dem Tisch, und sie geht noch irgendwas durch. Meine Güte – wir hatten nicht mal was auf. Das Mädel ist schon unterbeschäftigt – gut, dass es mich als Pausenfüller hat, sonst müsste es sich noch Hobbys zulegen oder so. Kaum läutet es, stöpsle ich mir die Ohren mit meinen Kopfhörern zu, wobei ich diese gut mit meinen Haaren verberge und den iPod in mein T-Shirt gleiten lasse, und starte meine Playlist. In Mathe geht das nicht schlecht, weil ich da eh nicht vielen Erklärungen lauschen muss, es wird ja fast alles praktisch gemacht, indem sie ein Beispiel vorrechnet oder so was. Also selbst wenn ich aufpassen wollte, würde die Musik mir dabei nicht im Weg stehen... Es ist zwar bald eine Schularbeit, aber ich habe trotzdem keine Skrupel, mich völlig abzuschotten. Mathe ist überhaupt eins der Fächer, mit denen ich mich am leichtesten tue, da muss ich schon mal nicht besonders viel lernen. Für die Formeln haben wir ein Formelheft, das wir auch verwenden dürfen, und die Grundlagen seh ich mir in drei Minuten im Buch an, falls ich sie nicht sowieso schon mitbekommen hab. Also alles in Allem sind Mathestunden äußerst bequem, so dass ich mir nicht mal die Mühe mache, sie zu schwänzen. Toll ist nebenbei nämlich, dass die Lehrerin es echt nicht checkt, wenn ich im Unterricht was anderes mache – neben Musik hören herumkritzeln, SMS schreiben, das Mathebuch bemalen, und so weiter. * Anna war schon immer ein gescheites Mädchen gewesen. In der Volksschule hatte sie alles mühelos geschafft: sie hatte ohne langwieriges Üben fehlerlose Diktate geschrieben, hatte gerechnet, ohne jemals Denkfehler einzubauen, konnte auch hohe Zahlen im Kopf multiplizieren. Sie merkte sich sehr vieles, gewann schon damals ein hohes Allgemeinwissen. In der vierten Klasse hatte sie ihre ersten Englischstunden, hatte schon ein wenig Vorwissen und sprach alles richtig aus. Anna hatte nie Schwierigkeiten gehabt. Mit Leichtigkeit schaffte sie ihr Zeugnis voller Einsern, um an ein Gymnasium gehen zu können. Aber trotz allem wirkte sie nie besonders wissbegierig oder fleißig, sie freute sich nicht über ihre Erfolge. In der Volksschule hatte es leicht gereicht, selten in ein Buch zu schauen und die damals noch einfachen und kurzen Hausübungen nur fahrlässig zu erledigen. Auch in der ersten Klasse des Gymnasiums war es noch genug, und so ging es weiter. Die Noten waren immer in Ordnung. Nie stand Anna an der Kippe, brachte in den ersten Jahren nicht einmal Vierer nach Hause. Aber die Lehrer lernten sie nie als das tüchtige Mädchen kennen, das sie eigentlich war. Sie war desinteressiert, sah selten im Unterricht einem Lehrer ins Gesicht. Jeder wusste, dass sie sehr wohl etwas mitbekam, aber das nur am Rande. Anna wurde häufig ermahnt, weil sie es nicht für nötig befand, mitzuschreiben. Es erschien ihr als eine nervende Tätigkeit, die sinnlose Anstrengung bedeutete, auch wenn diese gering war. Früher, als sie noch kleiner gewesen war, war Anna immer gelobt worden. Von Eltern, Großeltern, Freunden der Eltern. Annas kleine Schwester Johanna war zwar ebenfalls klug, aber nicht so makellos wie Anna: in ihrem Diktaten fanden sich sehr wohl Fehler, auch wenn die Mutter am Abend zuvor alles mit ihr durchgegangen war, und sie machte ab und zu blöde Rechenfehler. Johanna stand vollkommen im Schatten ihrer großen Schwester, auch wenn sie sich bemühte und genau wie sie ihre Einser in der Volksschule schaffte. Aber das große Lob erreichte sie nie. Anna dagegen hätte liebend gerne mit Johanna getauscht. Sie konnte den Aufruhr nicht leiden, der um ihre Fähigkeiten gemacht wurde. Anna sah nicht ein, wieso sie in der Woche mehrere Stunden auf einem Stuhl sitzen und Leuten zuhören musste, wie sie ihr etwas erzählten, das sie entweder schon wusste, aus einem Buch herauslesen konnte oder was in ihrem Augen in ihrem Leben nie wieder wichtig oder von Belang sein würde. Je stolzer ihre Eltern und alle anderen auf sie waren, desto mehr kürzte sie an ihrer Lernzeit. Sie wollte mittelmäßig sein, sie wollte für andere Dinge gelobt werden, nicht für diese eine Sache, an der ihr nichts lag. Anna beschäftigte sich, so gut es ging, mit anderen Dingen. Damit, ihre Schulzeit dafür zu nutzen, Freunde zu finden. Damit, andere zu beleidigen, wenn sie es in ihrem Augen verdient hatten, besonders gerne Mischa, die sie aus tiefstem Herzen verachtete, da sie sich für diese Sache, die Schule, so ins Zeug legte, wie es Anna überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Und damit, den Lehrern den Eindruck zu geben, dass die Zeit, die sie da vorne standen und mit Reden zubrachten, zumindest in Annas Fall völlig verschwendet war. Den Tiefpunkt erreichte Anna irgendwann in der vierten Klasse auf dem Gymnasium. Sie hatte angefangen, sich immer mehr von ihrer Familie zurückzuziehen, ihren Freundeskreis ausgeweitet, ihren Stil verändert. Was sie schon lange vorhatte, sich ihre Haare schwarz zu färben, hatte sie schon im letzten Jahr durchgezogen, trotz der Proteste ihrer Eltern, die wie bei so vielen Dingen wie gegen eine Wand prallten. Sie beobachtete nicht weiter ihre Schwester, die sich abmühte, gute Noten zu schreiben, bessere als Anna, was sie auch bald schaffte. Anna war nicht mehr die Bessere, aber das änderte nichts an der fixen Vorstellung, dass Anna das Genie war, und diese Wirkung wurde, wenn überhaupt, nur dadurch verstärkt, dass sie mit so wenig Aufwand immer noch so leicht durchkam. Und dann hörte sie ganz auf. Sie nahm kein Buch mehr in die Hand, keinen Zettel, keinen Stift. Sie verschloss ihre Ohren vor allen Lehrern, schrieb keine Hausaufgaben mehr, begann, in allem Stunden Musik zu hören, antwortete auf Fragen nicht mehr. Am Elternsprechtag dieses Jahres brach die ganze Kritik über Annas neues Verhalten auf ihre Eltern herein. Anna schrieb ihre ersten Vierer in Tests, sogar einen Fünfer, der daraus resultierte, dass sie ein leeres Blatt abgegeben hatte. Und von jedem Lehrer hörte Annas Mutter, dass ihre Tochter nichts mehr machte; von vielen wurde sie als „stinkfaul“ bezeichnet, von anderen als stur und frech, und wieder andere sahen sie ganz einfach als hoffnungslosen Fall. Besonders für Annas Mutter war das ein schwerer Schlag. Sie war so stolz gewesen auf ihre Tochter, die zwar nicht besonders viel Fleiß zeigte, aber Allgemeinwissen und so viele Talente besaß. Und nun wurde ihr gesagt, dass man mit jeder Ermahnung, Anna solle doch einmal aufpassen, auf taube Ohren stieß, sie trotzig genau das Gegenteil dessen machte, was man verlangte, und dass sie so gewollt unbeteiligt am Unterricht war, dass manche Lehrer es als „aktiv passiv“ bezeichneten. In diesem Fall war es ausnahmsweise gut, dass Annas Eltern nicht dazu neigten, ein ernstes Wort mit ihren Kindern zu reden, sondern ihnen einfach zusahen, wie sie ihre Sache machten oder eben nicht. Auf den Elternsprechtag hin passierte nichts Besonderes. Anna wurde nicht einmal richtig gerügt. Es wurde ihr lediglich mitgeteilt, dass die Eltern von allen Lehrern nur Schlechtes gehört hatten. Niemand schimpfte, sie solle sich auf ihren Hosenboden setzen und ihre Arbeit machen, weil sie es viel besser konnte, als sie momentan demonstrierte. Das Einzige, was passierte, war, dass ihre Eltern ihre Aufmerksamkeit Johanna zuwandten. Anna hatte erreicht, was sie bezweckt hatte, und nun war sie nicht mehr das Genie der Familie, sie war nur mehr das faule Mädchen, dass eben in ihrem Zimmer lag und sich mit Videospielen beschäftigte, das Beiwerk, wie es Johanna vorher gewesen war. Und dann legte Anna ihr aktives Passiv-Sein wieder ab. Sie nahm die Kopfhörer aus den Ohren und begnügte sich mit Stift und Papier, um darauf herumzukritzeln. Sie hörte wieder das, was die Professoren sagten, las, wenn auch etwas halbherzig, das, was in den Schulbüchern zur Untermalung ihrer Erklärungen stand. Sie las sich wenigstens den Stoff durch, wenn ein Test anstand. Und bei Schularbeiten und Tests gab sie nie mehr einen leeren Zettel ab, sodass sie selbst ohne einen Blick auf ihre Unterlagen zu werfen noch ein paar Punkte erzielen konnte. Die gute Schülerin, als die sie früher einmal gegolten hatte, obwohl ihr Notendurchschnitt bei weitem nicht perfekt gewesen war, wurde sie nie wieder – Johanna hatte ihren Platz als die Klügere abgelöst. Und nun wusste Anna nicht mehr, ob ihr das Recht war. Kapitel 4: Auf Besuch --------------------- Anna Nachdem ich die Zettel für das Englisch-Projekt nun über eine Woche hin und hergetragen habe – sie machen ja kein zusätzliches Gewicht aus, aber trotzdem fallen sie mir jedes Mal auf, wenn ich in meinen Block schaue, was häufig ist, weil ich jede Stunde wenigstens etwas Papier brauche, um nebenbei zu kritzeln – fällt mir langsam auf, dass Mischa mich gar nicht nervt. Nicht, ob ich schon mit dem Buch angefangen habe oder damit, dass sie nun langsam eine Charakterbeschreibung oder Zusammenfassung oder was immer sie mir aufgetragen hat möchte. Das ist untypisch. Ich bin es zwar gewohnt, dass ich nichts tun muss, wenn ich mit Mischa in einer Gruppe bin, weil sie alles selber erledigt, aber das macht sie immer mit viel Aufhebens: „Wir brauchen noch das und das! An der Stelle ist es noch nicht perfekt! Schick es mir unbedingt bis morgen, damit wir eine Woche zum Üben Zeit haben! Formulier diese Stelle aus, sonst muss ich es machen! Der Lehrerin würde es so sicher besser gefallen!“ Das sind nur wenige der Paolin’schen Äußerungen, die man sich als Gruppenmitglied anhören muss. Aber man muss halt lernen, die Ohren zuzumachen – dann nervt einen das auch nicht so fürchterlich. Nur ist das Beunruhigende diesmal, dass sie nichts sagt. Das geht über meinen rationalen Verstand hinaus – so weit, dass ich plane, sie darauf anzusprechen. Was soll passieren? Das Schlimmste wäre, dass sie mir wieder anfängt, in den Ohren zu liegen, und dann kann ich ihr den vorsorglich ausgedruckten Zettel vorlegen. Also setze ich mein Vorhaben nach der letzten Schulstunde fort. Es ist Dienstag, und da haben wir es nach sechs Stunden hinter uns, im Gegensatz zum Montag – gestern habe ich mich wieder mal zum Spanischunterricht bequemt, weil mir der Spanischlehrer sonst nur wieder im Nacken hängt wegen Entschuldigungen, die er sowieso nie bekommen wird. „Paolini – hast du diesmal gar keine Eile?“, will ich, betont lässig, wissen. Ich hab schon zusammengepackt, habe meine Schultasche an einem Träger über die Schulter geworfen und gehe beim Weg aus der Klasse an ihr vorbei. Sie sieht mich nur perplex an. „Eile, von dir wegzukommen, oder was?“ Die Assoziation ist auch nicht so daneben, wie ich zugeben muss. Die halben Schüler sind schon aus der Klasse verschwunden, sie packt noch seelenruhig zusammen. „Nein, Eile wegen dem Englischprojekt.“ Eigentlich wollte ich nur beiläufig wissen, wie es kommt, dass sie ein paar Minuten lang nicht an die noch anstehenden Aufgaben denkt, aber jetzt scheint das zu einem richtigen kleinen Plausch auszuarten: sie ist nämlich auch gerade fertig, stellt brav ihren Stuhl hinauf und nimmt ihren Schulrucksack auf den Rücken. Ich mustere währenddessen mit leiser Abscheu ihr Outfit: ein rosa Babydoll-Top mit weißen Pünktchen und einem winzigen weißen Schleifchen. Dazu ein perfekt passender Haarreifen. Erschreckend süß. Wenigstens trägt sie dazu Jeans. Sie scheint leicht geistesabwesend. Leider folgt sie mir, als ich aus der Klasse gehe. Toll, jetzt gehen wir auch noch gemeinsam den Gang entlang, hoffentlich sieht mich keiner mit diesem rosa Püppchen. Peinlich. „Hast du das Buch schon?“, fragt sie, immer noch nachdenklich wirkend. „Nein.“, knurre ich wahrheitsgemäß und versuche, ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen. Ich dachte, ich könnte mich auf ihre Abneigung soweit verlassen, dass sie es schafft, diese paar Meter durch den Gang mit mir zu vermeiden. Ich könnte auch lügen, aber es macht mir noch ein klitzekleines bisschen mehr Spaß, sie damit zu schocken, dass ich noch nicht einmal mein Buch habe. „Hab’s auch noch nicht bestellt, falls das die nächste Frage ist.“ Ich verspüre eine Genugtuung, die diese furchtbare Erfahrung, mit ihr an der Seite die Schule zu durchschreiten, wieder aufwiegt. Sie zuckt die Schultern. Moment mal? Hat das viele Rosa ihr Hirn verätzt? Wenn sie jetzt auch noch sagt, dass wir eh noch zwei Wochen Zeit haben, dann fange ich ernsthaft an, an Aliens und Gehirnwäsche zu glauben. Vielleicht ist ja ihr Hund gestorben, oder ihr Hamster, oder was immer sie für ein Haustier hat. Oder sie hat zu heiß gebadet. Sie muss gemerkt haben, dass ich sie entgeistert, beinahe entsetzt anschaue. Ihr verwirrter Blick weicht plötzlich Verlegenheit. „Ähm... ich meine... dann musst du dir das Buch irgendwie beschaffen! Bis spätestens Ende der Woche will ich deinen Text haben!“, ruft sie, aber es klingt nur halbherzig und irgendwie aus der Luft gegriffen. Sie hat nicht diesen Befehlston drauf wie sonst immer. Ich schätze, ich muss sie noch ein bisschen reizen. „Wir haben noch zwei Wochen. Genügt doch, wenn ich es irgendwann kurz vor der Deadline hab.“, sage ich und grinse gelangweilt. Wir verlassen das Schulhaus. Hoffentlich wird sie von ihrer Mami abgeholt und ich bin sie bald endlich los. „Ist dein Problem.“, murmelt Mischa leise und desinteressiert. Ich bleibe ruckartig stehen. Also das ist jetzt echt nicht mehr normal. Gruppen- und Partnerarbeiten waren für sie noch nie „das Problem des anderen“. Alles, was mit der Schule zu tun hat, ist ihr Problem – die Schule ist ihr Problem, weil sie dafür einen krankhaften Fanatismus entwickelt hat, so fasse ich das wenigstens auf. Mischa bleibt ebenfalls stehen. Seit wann passt sie sich mir an? Seit wann bleibt sie stehen, wenn ich stehen bleibe? Kann sie nicht einfach weitergehen und mich in Ruhe lassen? Ich verdrehe übertrieben die Augen. „Was?“, fragt sie ungeduldig. „Nichts, ich frag mich nur, was bitte mit dir los ist – dir ist egal, was ich für die Arbeit beitage? Verlässt du dich jetzt nur mehr auf dich allein und lässt mich einfach gar nichts mehr machen?“ Ich hebe eine Augenbraue. Diese Alternative gefiele mir nämlich auch nicht schlecht. Mischa sieht auf einmal richtig ängstlich aus, aber bevor ich dazu komme, sie darauf anzusprechen, taucht ihre Mutter auf. Eine Frau, der man auf hundert Meter Entfernung ansieht, dass sie reich ist. Sie hat das, was allgemein als Stil gewertet wird, überall an ihrer Kleidung irgendwas Glitzerndes, eine kleine Brosche zum Beispiel, viel Make-Up, eine für den Alltag eigentlich zu aufwändige Frisur – meiner Meinung nach vollkommen overdressed, zumindest, wenn es nur darum geht, die Tochter abzuholen. Sie ist aschblond anstatt goldblond wie Mischa selbst, aber sie haben den gleichen „Pfirsich-Teint“. „Mischa, kommst du? Oder beredet ihr noch etwas Wichtiges?“, will sie wissen. Ich bin schon dabei, abzuhauen, aber so einfach scheint das nicht zu funktionieren: „Sollen wir deine Freundin nicht mitnehmen?“ Ich mache höchstwahrscheinlich ein Gesicht, als hätte sie mir angeboten, bei der nächsten landesweiten Chemieolympiade teilzunehmen. Ich frage mich, was schlimmer ist – „mitnehmen“ oder „Freundin“? Ich entscheide mich für letzteres und werde mir allein wegen dieser Äußerung zu Hause die Ohren mit Wattestäbchen ausputzen. „Wir sind keine Freund-“, setze ich an, aber Mischa unterbricht mich mit ein wenig verzweifelt. „Mama, das ist glaube ich nicht so eine gute Idee.“, sagt sie und ich bin einen kurzen Moment erleichtert, aber dann kommt es noch weit schlimmer. Anstatt mich zu retten (ich würde zwar von jedem lieber gerettet werden als von ihr, aber solange sie mich vor sich selbst rettet, ist es okay – oder so), indem sie ihrer Mutter entsetzt darbringt, dass ich nicht ihre Busenfreundin bin, fängt Mischa an zu stottern und rote Flecken im Gesicht zu bekommen und schreckliche Sachen zu sagen, wie: „Ich weiß nicht, Mama... sie wohnt ja ganz wo anders...“ „Ach, das macht doch nichts! Wir haben ja Zeit.“, sagte Mischas Mutter großzügig. Oh Gott, ich glaube, ich muss vorher an der Stelle, als Mischa gesagt hätte, meine Arbeit sei ihr egal, in Ohnmacht gefallen sein und jetzt Albträume haben. „Ich wäre nicht so sicher, dass Mischa Zeit hat! Sie muss lernen!“, sage ich panisch, oder wenigstens kommt mir meine eigene Stimme so vor. Und ich finde es immer so lächerlich, wenn Mischa sich von mir aus der Fassung bringen lässt – wie ich merke, geht es auch umgekehrt! Gut, nicht ganz, aber zumindest bringt es ihre Mutter fertig, davon sollte sei sich mal eine Scheibe abschneiden. Oder besser nicht, ich lege keinen Wert darauf, im Alltag öfters so bloßgestellt zu werden. „Ach, Mischa kann sich das schon einteilen.“, sagt die Paolini sehr freundlich, und ich spiele mit dem Gedanken, davonzulaufen. Mischa sieht mich verzweifelt an, was mich noch mehr auf die Palme bringt. Sie soll mich ja nicht verschwörerisch ansehen – ich hab nichts mit ihr zu tun. Außer, dass ich wahrscheinlich in einer Minute im selben Auto wie sie heimfahre... Ich hab’s mir überlegt. Ich drehe mich um und fange an zu rennen, aber Mischa – ich drehe ihr zwar den Rücken zu, aber ich nehme einmal nicht an, dass es ihre Mutter ist – packt mich so heftig an der Schulter, dass es mich fast auf die Schnauze haut. Ich fahre wütend herum, Mischa sieht sich ängstlich nach ihrer Mutter um, ob sie etwas von meinem Fluchtversuch gesehen hat. Aber sie ist gerade dabei, das Auto aufzusperren. Leider. „Bist du denn des Wahnsinns knusprige Beute?“, fauche ich Mischa leise zu. Ich weiß sowieso nicht, wieso ich mir die Mühe mache, zu flüstern. „Halt die Klappe und fahr mit, es wird dich schon nicht umbringen!“, zischt sie mir zu. Was hat sie denn eigentlich für Probleme? Kann sie ihrer Mutter nicht einfach sagen, dass Mischa und ich gewiss keine Freunde sind, sondern uns gegenseitig zerfleischen würden, wenn man uns länger als eine Stunde allein in einen Raum sperren würde? „Das nicht, aber ich werde dich umbringen, am besten jetzt gleich!“ „Ach, du wirst es schon aushalten, dafür musst du nicht mit dem Bus fahren. Sei einfach ruhig, du musst ja nicht mit mir reden!“, schimpft sie im Flüsterton und zerrt mich ins Auto. Mein Plan B wäre ja, zu schreien, dass ich entführt werde, aber ich glaube, das kauft mir keiner ab. Mit stinkwütendem Gesichtsausdruck sinke ich in die beigefarbenen Ledersitze des teuer wirkenden Autos. (Ich hab nicht gesehen, was für ein Wagen es ist, und eigentlich interessiert es mich auch gar nicht. Ich will nur schleunigst wieder hier raus.) Minuten später stellt es sich heraus, dass Mischa gelogen hat, welch Wunder. Oder zumindest indirekt. Nachdem ihre Mutter uns ein paar Minuten lang im Rückspiegel beobachtet hat, während wir uns stinkwütend anstarren und versuchen, uns gegenseitig lautlos zu beschimpfen, erscheint ein nervöser Blick auf ihrem Gesicht und sie fängt an, im Plauderton zu reden. Ich mache die Ohren zu, wie ich es in den letzten Jahren Schuljahren perfekt trainiert habe, aber es fällt trotzdem schwer, sie zu ignorieren, weil Mischas lautlose Beschimpfungen heftiger werden und von Gefuchtel und verstohlenem ins-Schienbein-Treten unterstrichen werden, was zwar nicht ganz die gewünschte Wirkung hat, da uns ein ganzer Sitzplatz auf der Rückbank trennt (wieso setzt sie sich eigentlich nicht nach vorne?), aber mich zumindest dazu bringt, die Augen zu rollen und doch kurz zuzuhören, was die Paolini-Mutter zu sagen hat. „Mit dir sind wir ja noch nie nach Hause gefahren, was, Anna?“, sagt sie freundlich. Und fröhlich. Ich will nicht zuhören. „Ich kenne dich ja gar nicht richtig. Aber deine Eltern sind sehr nett.“ Finde ich nicht immer, aber wenn sie meint... muss sie mir ihre Meinung dazu unbedingt mitteilen? „Ich verstehe gar nicht, wieso man so wenig von dir sieht... deine Eltern sagen, du bist sehr klug in der Schule, nur nicht so fleißig... du könntest doch einmal mit Mischa lernen, vielleicht fiele es dir dann etwas leichter?“ Ich drücke auf einen Knopf, um das Fenster aufzukurbeln, und tue so, als müsste ich kotzen. Mischa zieht mich grob zurück und schenkt mir einen vernichtenden Blick. Als ihre Mutter daraufhin im Rückspiegel die Stirn runzelt, beeilt sich Mischa zu sagen: „Sie hat nur einen Kaugummi ausgespuckt, und das halte ich für Umweltverschmutzung...“ Gott, wie bescheuert. „Da hast du Recht, Mischa.“, sagt ihre Mutter, anerkennend nickend. Ich verdrehe die Augen. „Ich habe gehört, ihr habt momentan ein Projekt gemeinsam zu erledigen. Warum setzt ihr euch nicht einmal zusammen?“, schlägt sie nun vor, als wäre nichts gewesen. Um Gottes Willen, jetzt muss ich wirklich kotzen. Auch Mischa wird auf diese Idee hin kreidebleich. Jetzt denkt sie sicher „Ich sollte meiner Familie nicht jeden Scheiß erzählen“ oder so. Finde ich auch. „Das geht heute ganz schlecht...“, stammle ich und erkenne im Rückspiegel, dass mein Gesicht ebenfalls eine recht käsige Farbe angenommen hat. „Ich muss... ich hab...“ „Dann kommst du eben ein andermal, oder?“ Sie lacht freundlich. Hilfe. Ich bin auf der Fahrt in die Hölle. „Nein, ich, ich... ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“, krächze ich. Wie blöd bin ich eigentlich? Solche Leute nehmen so eine Ausrede doch niemals an. „Ich meine, ich... es hätte keinen Sinn, zusammenzuarbeiten... ich meine... wir haben die Arbeit ohnehin aufgeteilt...“ „Anna“, sagt die Paolini, plötzlich mit einem Schuss Strenge in ihrem Tonfall, „Ich möchte dich nicht beleidigen, auf keinen Fall, aber Mischa tendiert dazu, sich manchmal ein klein wenig zu übernehmen...“ Klein wenig ist gut. „Und dann arbeitet sie immer viel mehr als ihre restliche Gruppe, das sehe ich nicht gerne mit an! Und dann heißt es ja noch, dass dir konsequentes Arbeiten schwer fällt... schau, wenn ihr beide nun zusammenarbeitet, dann ist es im Grunde ja gleich viel Aufwand, nur dass ihr es gleich erledigen und besprechen könnt!“ Sie scheint begeistert von der eigenen Idee. „Frau Paolini“, sage ich scharf und greife zur letzten Maßnahme, „Ich und Mischa können nicht zusammenarbeiten, sie sollten mal sehen, wie-“ „Mama“, fällt mir Mischa ins Wort, „Bei einer üblichen Arbeit wäre das vielleicht keine schlechte Methode, aber in dem Fall... weißt du, es geht um Bücher, und wir müssen sie zuerst lesen, bevor wir richtig mit dem Arbeiten anfangen können.“ „Aber Mischa, ich weiß doch, dass du schon lange fertig bist.“, lacht ihre Mutter. Ja, haha, der Brüller. „Da könnt ihr sicher schon mit der Zusammenfassung anfangen. Anna, du hast doch bestimmt auch schon mit dem Buch angefangen, oder nicht? Dann könnt ihr doch gleich auch die Personenbeschreibungen machen. Das geht gemeinsam sicher leichter.“ „Ich habe schon eine Zusammenfassung.“, weiche ich aus und bemerke noch nicht, dass diese Äußerung blöd ist. „Mischa kann ja dann die Personen beschreiben.“ „Aber es wäre doch viel netter, wenn in beiden Teilen etwas von jeder von euch steckt, das ist sicher eher der Sinn der Sache, als die ganze Arbeit nur zu verringern!“, sagt Mischas Mutter überzeugt. „Ich kann nicht mit Mischa zusammen-“, setze ich noch einmal an. „Du hast schon Recht, Mama...“, unterbricht Mischa wieder. „Aber...“ Leider fällt ihr kein Gegenargument mehr ein, bei dem sie nicht erklären muss, dass wir verfeindet sind. Offensichtlich ist ihr das peinlich oder unangenehm oder sonst irgendwas. Ich versuche es noch einmal. „Frau Paolini, wir hassen un-“ „Wir hassen es eigentlich, solche Aufgaben, bei denen man Texte schreiben muss, zu zweit zu erledigen, weil man sich dann nicht so gut darauf konzentrieren kann.“, sagt Mischa schnell. Ich verdrehe die Augen. Aber ich starte keinen neuen Versuch, ihrer Mutter mitzuteilen, dass sie und ich nicht kooperieren können. Ich glaube, ich muss einfach einsehen, dass ich... oh mein Gott. Zu Mischa nach Hause muss. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und schüttle ein wenig verzweifelt den Kopf, aber Mischa wirft mir nur einen leicht verwunderten Blick zu, oder vielleicht sogar einen mitleidigen, was ich mir aber nur schlecht vorstellen kann. Die Rest der Fahrt sind alle stumm – ich sowieso, und Mischa traut sich auch nichts mehr zu sagen, aber auch ihre Mutter hält die Klappe – und darum bin ich froh. Irgendwann halten wir und steigen aus. Am liebsten würde ich mich wehren oder zur nächsten Bushaltestelle laufen, aber irgendwie halten sie mich ja doch auf – ich hätte doch schreien sollen, dass ich entführt werde, denke ich voll Gram... Ich folge Mischa und ihrer Mutter mit ein paar Metern Abstand ins Haus. Wie erwartet, ist es stilvoll eingerichtet, überall teure Bilder, Teppiche, Vasen und das ganze Zeug, wie man es von einer reichen Familie wie Mischas eben erwartet. Es ist außerdem groß, mehr als genug für eine dreiköpfige Familie. Als Mischa nach oben geht, offensichtlich in ihr Zimmer, muss ihre Mutter mir erst mal nahe legen, dass ich mit ihr mitgehen sollte. Ich steige lustlos die Stiegen hinauf und schwöre mir, hier sofort wieder zu verschwinden, sobald sie mich rauslassen. Mischas Zimmer ist ebenfalls riesig, meins würde vielleicht zweimal reinpassen. Ein großes Bett, weiche, bedruckte Bettwäsche und Seidenkissen, ein breiter Teppich, ein riesengroßer Schreibtisch, auf dem ein Computer steht, daneben ein Fernseher. Das Fenster ist ebenfalls übergroß, davor stehen lauter Blumentöpfe und eine Gießkanne. Freundlich eingerichtet, genau, wie es zu ihr passt. Ich unterdrücke ein verächtliches Schnauben. Mischa schließt die Tür hinter mir. Wie war das mit „uns zu zweit in einem Raum sperren“? Ich habe aber irgendwie mehr Lust, davonzulaufen, als sie zu zerfleischen – weiß auch nicht, woher dieser plötzliche Gnadeakt kommt. Mitleid vielleicht. „Wieso ist es eigentlich nicht möglich, deiner Mutter die Wahrheit zu sagen?“, blaffe ich sie an. „Ich weiß nicht, was du meinst.“, sagt sie kalt. „Natürlich weißt du, was ich meine! Du hast mich mindestens ein halbes Dutzend Mal unterbrochen, als ich versucht hab, ihr zu sagen, dass wir uns hassen!“, rufe ich aufgebracht. Jetzt ist es wieder sie, die mich auf die Palme bringen kann, sie sitzt am längeren Hebel. Das regt macht mich nur noch mehr auf. „Verdammt noch mal, wieso muss dich eigentlich jeder mögen? Wieso kannst du es nicht ertragen, wenn irgendjemand nicht auf dein ständiges Gegrinse und dein liebliches Verhalten anspringt?“ Mischa sieht mich wütend an. „Natürlich kann ich das ertragen. Aber ich tue mein Bestes, es zu verhindern, dass mich jemand nicht mag.“ „Das merke ich.“ Ich verdrehe die Augen. Eine kurze Pause entsteht. Dann fragt Mischa, ein wenig leiser: „Was habe ich eigentlich falsch gemacht?“ „Wie, falsch gemacht?“, frage ich verwirrt. „Dein bisheriges Leben mit Lernen vergeudet, falls du das-“ „Nein.“, unterbricht sie mich. Heute hat sie es wohl nicht so mit dem Ausreden lassen. „Was habe ich bei unserer ersten Begegnung falsch gemacht? Ich war doch nett zu dir!“ Sie klingt fast verzweifelt. „Ich habe dir keinen Grund gegeben, mich zu verabscheuen, ich war doch freundlich und habe-“ „Damit hat es doch nichts zu tun!“, sage ich genervt. Meine Güte, wieso kommt sie nach sechs Jahren auf einmal damit? Das kann ihr doch scheißegal sein. „Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, du hast nur das getan, was du immer tust – ich hasse dich nicht wegen dem Ersteindruck oder wegen dem, was du machst, sondern wegen dem, was du bist – eine Streberin, die allen gefallen will, viel zu nett, immer und zu jedem, selbst zu den Leuten, die ihr wahrscheinlich nichts bedeuten – zu Lehrern zum Beispiel.“ Sie sieht mich geschockt an, und auf einmal sieht sie aus, als wäre sie den Tränen nahe. Oh scheiße, egal wie sehr ich sie verabscheue, das habe ich nicht gewollt. Ich habe keine Lust, mit einer heulenden Mischa im Zimmer zu sitzen – trösten werde ich sie auf keinen Fall, damit das klar ist! „Was ist daran nun so schlimm?“, frage ich schnell, bevor sie echt in Tränen ausbricht. „Das heißt doch nicht, dass dich sonst niemand mag, das weißt du genau – es geht nur um mich, ich mag deine Art nicht, und aus diesem Grund habe ich das gegen dich, allen anderen scheint es ja zu gefallen!“ „Wieso dir nicht?“, fragt sie. „Wieso ist das so wichtig? Wieso muss dich jeder mögen?“ Es entsteht ein kurzes Schweigen, weil sie darauf nicht antwortet. „Immer versucht du, bei allen gut anzukommen, sagst das, was sie hören wollen, läufst mit einem Grinsen durch die Gegend, arbeitest für andere. Wozu das alles? Wieso kannst du es nicht einfach akzeptieren, wenn jemand dich nicht so mag, wie du bist? Das ist einfach... schwach!“, werfe ich ihr nun vor, wobei ich langsam wieder ein bisschen ärgerlicher werde. „Ist es denn nicht fürchterlich anstrengend, jedem vorzuspielen, dass du ihn gerne hast? Was hätte es gebracht, wenn ich damals, als du auf mich zugegangen bist, nett zu dir gewesen wäre? Ich hätte sowieso nie angefangen, dich zu mögen. Hättest du lieber eine Pseudo-Freundschaft, mich im Stillen gehasst, während du so tust, als hättest du mich gerne?“ Mischa sieht mich ausdruckslos an. „Ich hätte angefangen dich zu mögen, wenn du mir eine Chance gegeben hättest.“, behauptet sie. Gott, bin ich froh, dass ich es nicht so weit kommen lassen habe. „Na klar. Das redest du dir doch bloß ein. Du magst sicher nicht jeden, verdammt noch mal – du tust doch nur so, du bist zu jedem gleich nett! Es ist egal, ob dir wirklich etwas an den Personen liegt, Hauptsache, sie lassen sich von dir einlullen.“ Wieder dieser traurige Blick. Sie macht mich krank! „Wenn ich am ersten Schultag deine Freundlichkeit erwidert hätte, hätte das absolut nichts geändert! Ich hätte es nicht lange geschafft, deine andauernde Nettigkeit zu ertragen, weil ich weiß, worum es geht, du willst nur gemocht werden, bei allen beliebt sein.“, sage ich abfällig. „Vergiss es, Mischa, du hast nichts falsch gemacht. Es ist nun mal so.“ Sie schweigt immer noch, und mir ist es langsam zu blöd. Na ja, das war es mir schon, bevor ich in das Auto gestiegen bin. Halt, Korrektur, schon als ich neben ihr im Gang herlaufen musste. „Kann ich jetzt gehen?“, frage ich ungeduldig. Sie nickt wortlos, und ich schaue, dass ich hier rauskomme. Nachdem ich ihrer Mutter versichert habe, dass ich lieber alleine nach Hause fahre und mich noch nach der richtigen Linie erkundigt habe (ich bin stolz, aber nicht blöd), mache ich mich nachdenklich auf den Weg zur Bushaltestelle. Und wenn ich über das überlege, was ich Mischa eben gesagt habe und wie sie reagiert hat, verspüre ich ihr gegenüber zum ersten Mal, seit ich sie damals kennen gelernt habe, ein anderes Gefühl als pure Abscheu – irgendwo in mir flammt ein kleines Fünkchen Mitleid für sie auf. * Mischa war von klein auf schon immer so etwas wie das Vorzeigetöchterchen gewesen. Als einziges Kind ihrer wohlhabenden Eltern war sie es, die sie bei vielen Anlässen begleitete – zumindest bei solchen, bei denen kein Babysitter einsprang. Als kleines Mädchen trug sie immer hübsche Kleidchen, hatte immer hübsche Frisuren, das goldblonde Haar umrahmte ihr Gesicht und ließ sie wie ein kleines Engelchen aussehen. Mischa war von Natur aus ein sehr süßes, hübsches Mädchen, und durch die liebevolle Umsorgung ihrer Mutter, die sie liebend gerne frisierte und einkleidete, bezauberte sie wirklich jeden. Je älter Mischa wurde, desto mehr wurde ihr klar, dass zwar alle das niedliche, kleine Prinzesschen bewunderten, das sie war, aber wenige versuchten, hinter diese Fassade zu dringen. Viele schienen sie zu bewundern, wie sie in ihrer Schulzeit bemerkte, aber nicht viele trauten sich, sie anzusprechen. Vielleicht hatten auch viele den Eindruck, dass sie eben ein hübsches, reiches Dummchen war. Beim ersten Mal erschreckte sie dieser Gedanke. So etwas hatte sie nie gewollt – Mischa war selbst nie oberflächlich gewesen, ihr war es seit jeher wichtig, wie ein Mensch mit ihr umging, was er bereits erlebt hatte, inwiefern er sich ihren Respekt verdiente. Schönheit oder gutes Aussehen waren nur eine Nebensache. Ungefähr zum Zeitpunkt dieser Erkenntnisse beeilte sie sich, sich zwei neue Eigenschaften zuzulegen, bloß um von diesem Klischee wegzukommen. Sie wollte, dass andere sie für intelligent hielten, für jemandem, mit dem man immer reden konnte, sowohl über Gefühle, als auch über alltägliche Themen, eine würdige Diskussionspartnerin, die gute Argumente bringen konnte. Also begann sie auf der einen Seite, sich für die Schule besonders anzustrengen. Schon früher war sie in diesem Bereich nie nachlässig gewesen, sie war schon immer eine fleißige Schülerin gewesen; aber nun war sie noch gewissenhafter, arbeitete in jedem Fach auf die bestmögliche Note hin. Sie hatte immer alle Unterlagen mit, und sie kannte sich mit dem Stoff immer gut genug aus, um ihn auch noch anderen zu erklären. Natürlich machte sich dieser neu gewonnene Enthusiasmus damals in der Volksschule noch nicht so drastisch bemerkbar. Erst, als sie auf das Gymnasium kam, fing sie nach und nach an, sich mehr von den anderen abzuheben, da sie nie zu denjenigen gehörte, die Hausaufgaben vergaßen, Blackouts bei Schularbeiten hatten oder auch nur zu spät kamen. Die andere Eigenschaft aber begann schon früher, sich auszuprägen. Sie war schon immer darauf „trainiert“, anderen zu gefallen, und in ihrer Kindheit hatte sie es dadurch erreicht, indem sie ganz einfach niedlich und herzallerliebst war, jeden anstrahlte und bezauberte. Als sie realisierte, dass die meisten sie darum nur auf oberflächliche Weise zu schätzen wussten, kam noch etwas dazu: ihre unerbittliche Freundlichkeit jedem gegenüber, ob ihr jemand sympathisch war oder nicht – wichtig war, dass die neue Person sie mochte. Mischa ging fröhlich durchs Leben, ließ sich niemals dazu hinreißen, wegen irgend einer Sache mürrisch zu schauen, versteckte Ärger, Trauer oder Müdigkeit hinter einer Fassade. Niemand musste es wissen, wenn sie Unmut hegte, niemand konnte etwas dafür, darum würde sie es auch nicht an anderen auslassen. Stella war seit der Volksschule Mischas allerbeste Freundin, und sie hatte von allen deren Charakterwandel am intensivsten miterlebt. Wenn Mischa früher ein ebenso fröhliches, aber ab und zu einmal trotziges Mädchen gewesen war, das manchmal verwöhnt wirkte und möglichst das haben wollte, was sie bekommen konnte, war sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bescheiden und gelassen geworden, so schien es wenigstens. Sie ließ sich kaum von jemandem ärgern oder aus der Ruhe bringen. Sie hatte immer wieder ein Lachen für jeden übrig, bis böse Blicke, die an sie gerichtet waren, weicher wurden und sich oft genug zu einem sanften Lächeln verwandelten. Und bis jetzt hatte das auch immer funktioniert. Jeder beschrieb Mischa als sympathisch, niemand hielt ihrer Freundlichkeit stand – bis auf Anna. Kaum hatte Mischa sich völlig daran angepasst, jedem freundlich zu begegnen, versuchte das unbekannte Mädchen scheinbar nach Kräften, dieses Vorhaben wieder aufzuhalten. Anfangs konnte Mischa sich damit abfinden, dass sie eine Ausnahme war. Jeder andere ging auf ein nettes Gespräch ein, wenn sie eines anfing, keiner nannte sie Streberin, auch wenn sie es vielleicht war, oder wenigstens nicht boshaft. Niemand war gemein zu ihr, nur in Annas Fall steigerte sich die offensichtliche Abneigung von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr mehr, und bald beruhte sie auf Gegenseitigkeit. Dann brach Mischas anerzogene Eigenschaft durch, dass sie sich nicht damit abfinden konnte, wenn etwas nicht nach ihrem Willen funktionierte – zumindest nicht, wenn sie sich so gut dafür einsetzte, wie sie konnte. Sie konnte jeden dazu bringen, sie zu mögen, sie konnte in der Schule alles meistern, und das waren ihre beiden Hauptziele – nur diesmal wollte es einfach nicht klappen. Sie versuchte, mit Anna zu reden, überlegte, wie sie ihr begegnen konnte, damit sie ihr doch zuhörte oder von ihr beeindruckt war, aber Anna war einfach nur desinteressiert. Auch, wenn keiner, der Mischa näher kannte, sie als verwöhnt beschreiben würde, traf es doch auf eine Weise zu, die den meisten nicht ganz klar war. So passierte das, was ein zu sehr verhätscheltes Kind macht, wenn es nicht das bekommt, was es unbedingt will: es wird trotzig. Und Mischas Trotz wurde zu Ärger, machte all die Beherrschung zunichte, die sie die letzten Jahre in jeder Lebenslage gezeigt hatte. Wurde sie getriezt, fing sie an, zurückzuschlagen. Es hätte vielleicht nicht gereicht, wenn Anna einfach nur gemein zu ihr gewesen wäre – ein entscheidender Faktor, der dazu beigetragen hatte, dass sich ihre Feindschaft entwickelte, war es auf jeden Fall, dass Mischa nicht einsehen wollte, warum Anna nicht ihre Freundin sein wollte, so wie alle anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)