Der Gaukler von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Und er befahl, alle Sünder auszumerzen… -------------------------------------------------- Erst Stunden später wachte Esmeralda, geweckt von einer gütigen, schwachen Hand auf, und wusste zuerst nicht, ob sie geträumt hatte oder nicht. Vor ihr kniete Tertulienne, seine knochige, aber voller Wärme gefüllte Hand auf ihrer Schulter. „Was hast du, mein Kind? Du bist so blass.“ Er hatte Recht. Esmeralda, normalerweise dunkel gefärbte Haut, sah aus wie eine lebende Moorleiche. Ihre Hände waren verschwitzt und sie zitterte am ganzen Körper. Neben ihr saß immer noch treu Djali, die nun erleichtert schien, dass Esmeralda das Bewusstsein zurück erlangt hatte. „Was ist passiert?“ Auf seine Frage hin, half Tertulienne dem Mädchen auf und wartete geduldig eine Antwort ab. Sie schien verwirrt zu sein, fasste sich nur an die Stirn und blickte auf den Boden vor sich. „Ich weiß es nicht genau.“ Sie seufzte und blickte in die alten Augen ihres Königs. Da erkannte sie etwas Vertrautes und irgendetwas rührte sich in ihr. „Clopin“, flüsterte sie. In ihrem Kopf sammelten sich Bilder der vergangenen Stunden zusammen und sie erschrak des Öfteren. Tertulienne schien besorgt und fasste sie am arm. „Esmeralda, was ist los?“ Sie sah erst zittrig auf den Boden, dann mit schneller Atmung wieder zum König des Hofes. „Clopin! Es ist Clopin!“ Sie krallte sich an seinen Oberarmen fest. „Sie haben ihn entführt!“ „Wer??“ „Homer und Germaine!“ Tertulienne schien erschrocken, andererseits noch zu ruhig, als dass es ihn wirklich überrascht zu haben schien. Stattdessen ging er nur vor. „Komm. Ich ahne Schreckliches.“ Ohne zu Zögern folgte Esmeralda ihm und ihr wiederum Djali. Er stürmte mit ihr aus den Katakomben hinaus, bis zum Eingang selbiger und ging weiter in Richtung Notre Dame. „Wo willst du denn hin?“, fragte Esmeralda aufgeregt. „Es gibt viele Männer von Claude Frollo in der Stadt, die Informationen über den Hof der Wunder sammeln.“ Esmeralda erschrak sichtlich. „Glaubst du etwa…?“ „Ja, das glaube ich.“ Tertuliennes Miene verfinsterte sich. „Sie wollen Clopin ausliefern.“ In einer Hinsicht irrte Tertulienne. Sie wollten ihn nicht ausliefern, sondern hatten es längst getan. Und als Clopin langsam erwachte, lag er in einer dunklen, dreckigen Zelle. Er sah sich schockiert um, als er den Ort erkannte, an dem er war. Links neben ihm in der Zelle lag ein alter Mann, ebenso Gefangener wie er, der sich wohl mit seinem Schicksal abgefunden hatte, rechts neben ihm lag ein Mann, der nur unwesentlich jünger war als er selbst und bangte der Dinge, die auf ihn zukamen. Da kam auch schon ein Wärter in den Raum, ging strickt auf die Zelle des Mannes zu und öffnete selbige. Durch eine einzige Kopfbewegung machte er dem Gefangenen klar, dass er hinauskommen sollte. Seine Zeit war gekommen. Als er ihn beinahe gewaltsam hinter sich her zog und Clopin die Tränen in den Augen des Gefangenen erkannte, wurde ihm schlecht. War es das, was auch ihn erwarten würde? So saß er mehrere Stunden in der Zelle, flehend und nervös, und gleichzeitig skeptisch und verängstigt. Wie war er hierher gekommen? Ebenso wie Esmeralda hatte auch er Probleme, sich an das Vorige zu erinnern. Er wusste nur noch, wie er Esmeralda gesehen hatte, wie er sie berührt und geküsst hatte. Oder war es nur ein Traum gewesen? Denn so kam es ihm vor: So fremd, so unwirklich. Der alte Mann neben ihm regte sich plötzlich. „Was hast du, Jungchen?“ Clopin sah ihn an. „Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin.“ Der Alte lachte. „Deine zwei charmanten Freunde haben dich ausgeliefert. Das nehme ich zumindest mal an.“ In Clopins Kopf wurden einige Erinnerungen wieder zurück gerufen und er bekam eine unbändige Wut in sich. „Germaine und Homer…“ Wieder stimmte der Alte zu. „Das waren die Namen, die diese Männer gesagt haben.“ „Diese Männer?“ „Ja“, der Mann sah von Clopin weg. Er konnte wohl ohnehin kaum noch etwas sehen. „Hier kamen zwei Männer mit dir an, richtige Schränke, die sagten, zwei Zigeuner hätten dich ihnen ausgeliefert.“ Clopin setzte sich an die Wand und verschränkte die Arme verärgert. „Wie konnte ich so dumm sein? Diese Verräter… all die Jahre!“ Er bemerkte das leise Kichern des alten Mannes und war empört. „Findest du das lustig, Greis??“ „Ja, durchaus“, lachte der nur weiter. „Weißt du, mein Bruder hat mich hierher gebracht. Korruptes Völkchen, was?“ Als er den Mann so lachen sah, konnte er sich nicht lange ernst halten. Trotz seiner so misslichen Lage, schien der Mann nicht verbittert zu sein. Zu komisch. Clopin stimmte in sein Lachen etwas ein und vergaß beinahe, wo er hier war. Doch da erinnerte er sich an Esmeralda und fragte sich, wie es ihr wohl ergangen war und ob man sie genauso hierher gebracht hatte, ob sie vielleicht überhaupt noch lebte oder nicht. Und der Alte schien seine Blicke erneut deuten zu können. „Bist du verliebt, Jungchen?“ Clopin lächelte, winkte aber ab. Liebe war es nicht, nein. Es war irgendetwas anderes. „Ah, verstehe.“ Sein Zellennachbar legte die Hände auf seine ausgestreckten Beine und sah zur Decke. „Junges Verlangen, was? Wie schön. Wie erfrischend.“ Das fand Clopin nun wiederum auch unpassend. „Ich habe sie aufwachsen sehen. Es ist seltsam“, sagte er leise. Der Alte verstand seine Situation wiederum. „Ich liebte meine jüngere Schwester“, sagte er geradeheraus, als sei dies das Normalste der Welt. Clopin aber schluckte und sah den Alten fassungslos an. Der Mann lachte auf. „Seltsam, wo die Liebe so hinfällt, nicht wahr? Deshalb brachte mein Bruder mich auch hierher. Eigentlich sehr nobel. Er wollte nicht, dass ich sie verletze.“ Er sah Clopin an. „Doch wie töricht. Wieso sollte ich jemanden verletzen, den ich liebe?“ Der Zigeuner erkannte, was der Mann ihm sagen wollte, nur nachvollziehen konnte er es nicht. „Ich liebe sie nicht“, sagte er. „Nicht auf diese Weise. Sie ist ein Teil von mir und wird es immer bleiben.“ Der Alte nickte und vervollständigte Clopins Aussage: „Aber du könntest es dir nicht vorstellen, sie deine Geliebte zu nennen, nicht wahr?“ Noch ehe er eine Antwort darauf bekam, sondern schon als Clopin gerade Luft holte, um eine Korrektur vorzunehmen, lachte der Mann auf und korrigierte selbst: „Nein, wie dumm. Natürlich könntest du dir das vorstellen. Wer könnte das nicht, hm? Sie ist wahrscheinlich wunderschön. Aber sie deine liebe Frau zu nennen, das könntest du dir nicht vorstellen, wie?“ Clopin schmunzelte und nickte. „So ist das“, murmelte der Alte zufrieden. „Also liebst du sie wie eine Schwester?“ „Nein.“ „Wie eine Freundin vielleicht?“ „Oh, nein.“ „Trifft es Seelenverwandte?“ Clopin grinste in sich hinein. „So etwas in der Art, ja.“ Tertulienne prüfte die Stellen, wo sonst immer Gesandte von Frollo warteten, doch in dieser Nacht war keiner von ihnen aufzufinden. Überhaupt schien ganz Paris wie verlassen zu sein. Und hinzukam, dass es schon wieder Mittag wurde und die Chancen somit ohnehin kleiner wurden, dass er und Esmeralda in Ruhe in den Straßen nach Clopin suchen konnten. Und auch Germaine und Homer, diesen Verrätern, waren sie nicht begegnet. Langsam wurde es dunkel in Paris, die Wachen zogen umher und zündeten die kleinen Fackeln auf den Straßen an, die es aber kaum ermöglichten, mehr zu sehen. Stattdessen ließen sie die Dunkelheit nur noch etwas mehr durch die grellen, aber zentrierten Lichtpunkte verwischen. Doch das Licht verschwand nicht weit genug, als dass man gar nichts mehr gesehen hätte. Als Tertulienne, Esmeralda und ihre ihr immer noch folgende Ziege sich dem Marktplatz auf wenig Distanz näherten, hörten sie Stimmen. Es waren nicht nur einzelne Stimmen, nein, hunderte riefen und verursachten Lärm. Die beiden Freunde Clopins beschleunigten ihre Schritte und betraten nach einer langen Gasse den Marktplatz vor Notre Dame. Ihre Augen weiteten sich vor staunen. Eine Hinrichtung ging vor sich, das sah man. Nein, sie ging noch nicht vor sich, doch sie wurde vorbereitet. So stapelte man zum Beispiel auf einer Tribüne an einem Pfahl Holzstücke. Esmeralda schüttelte entsetzt den Kopf. „Die arme Seele, die es trifft…“ Tertulienne seufzte zustimmend. „Sei lieber froh, dass es nicht uns trifft.“ Esmeralda sah ihn fragend an, als ahnte sie, dass er weiß, wen man dort hinauf stellen würde. Clopin erhob müde seinen Kopf, als die Zellentür aufging und ein Wachmann, wie schon so oft an dem heutigen Tag, eintrat, um nach dem Rechten zu sehen, und gleich darauf wieder zu verschwinden. Die Tür schloss sich wieder, Clopin ließ seinen Kopf hängen und schlummerte weiter vor sich hin. Sein Zellennachbar, der alte Mann, tat es ihm gleich. Sie schienen Beide gelassen, besonders Clopin wirkte lange nicht mehr so nervös wie zu Beginn seines Aufenthaltes. Die Ruhe des Alten war sichtlich auf ihn übergegangen. Nur vor einem hatte Clopin noch Angst und es zerriss ihn beinahe, wenn er zu lange darüber nachdachte: Es kümmerte ihn nicht, wenn er jetzt sterben musste. Aber wenn er jetzt starb, dann in falscher Schuld. Man würde nie erfahren, wie schuldlos er gestorben war. „Clopin Trouillefou“, lachte der alte Mann neben ihm plötzlich auf. Verwundert sah der Zigeuner zu ihm. „Woher…?“ „Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne! Du bist der König der Zigeuner!“ Clopin verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke. „Wie? Nein, nein, das bin ich nicht! Tertulienne Lafayette ist der Kö…“ Erschrocken presste der vorlaute Mann die Lippen aufeinander und ärgerte sich über sein törichtes Verhalten. Doch der Alte ihm gegenüber lächelte nur zufrieden. „Keine Sorge, mein Junge. Von mir erfährt es niemand.“ Clopin schluckte und nickte zuversichtlich. Er traute dem Alten. Außerdem hoffte er, dass die Wachen ihn für tattrig und verwirrt halten würden, würde er es ihnen erzählen. „Aber“, setzte der Greis wieder an, „du bist doch der, den ich auf den Straßen singen gehört habe. Am sechsten Januar. Nicht wahr?“ Clopin gab ein zögerndes Nicken von sich. Er konnte es wohl nicht leugnen, immerhin war seine Stimme sehr markant. „Du bist also derjenige, der zum Fest der Narren das größte Theater macht und du bist der Einzige, den sie am Fest der Narren sehen wollen, aber der König der Narren bist du nicht?“ Statt zu antworten, hob Clopin nur unwissend die Schultern an, als wolle er wissen, was er denn dagegen tun solle. Doch das sah der Alte wegen seiner schlechten Augen wohl nicht. „Ich sage dir was: Du hättest es verdient, der König deines Volkes zu sein, Junge. Sie rufen deinen Namen auf den Straßen, wenn der sechste Januar beginnt. Ich mag fast blind sein, aber ich habe Ohren wie ein Luchs. Und der Name Clopin hallt durch die ganze Stadt, wenn das Fest naht.“ Das Gesicht des Zigeuners füllte sich mit einer Mischung aus Stolz und Glück. „Clopin Trouillefou!“ Als sein Name diesmal in voller Pracht ertönte, geschah dies in einem weit aus unangenehmerem Tonfall, fast mit Zorn in der Stimme. Es war ein Wachmann, der hinein getreten war und auf Clopins Zelle zuging. „Es ist Zeit.“ Clopin stand auf und ging an die Zellentür. „Was meint Ihr?“ Die Wache seufzte, scheinbar aus Mitleid. „Dein Urteil wurde vollstreckt. Auf den König der Zigeuner wartet der Scheiterhaufen.“ Wie ein Dolch stachen sich seine Worte in Clopins Brust und ließen in augenblicklich zusammenbrechen. Er erblasste und ihm wurde übel. Schweiß der Angst brach ihm aus, sein Blick raste von einem Punkt zum anderen, nur zu dem Wachmann zu sehen, das wagte er nicht. Als dieser aber einfühlsam in die Zelle des Angeklagten kam und seine Hand nach ihm ausstreckte, um ihm auf und hinaus zu helfen, wich Clopins Blick zu ihm. „Nein.“ Die Hand des Wärters griff nach Clopins Oberarm, er zog ihn etwas. „Nein!“ Ängstlich drückte sich der Zigeuner an die steinerne Mauer hinter ihm. „Nein!! Ich bin unschuldig!!“ „Mach es uns nicht so schwer“, seufzte der Wärter voller Mitleid und legte seine zweite Hand an den anderen Oberarm von dem dürren Clopin. Er zog ihn auf die Beine, da begann selbiger sich mit Händen und Füßen zu wehren, zu schreien und vor Panik fürchterlich zu zittern. „Nein!! Bitte! Nein!! Ich bin unschuldig!! Ich habe nichts getan!!“ „Clopin!“ „Nein!!“ „Clopin Trouillefou!!“ Dieses Mal wurde sein Name wieder von dem Alten gerufen. Verängstigt drehte sich Clopin zu ihm. Der Alte erschrak. Clopins Augen waren rot angelaufen, ebenso wie fast sein ganzer Kopf, er sah aus, als sei er bereits tot. Da versuchte der Greis sich wieder zu fassen und sprach mit ruhigen Worten zu ihm: „Glaube an eine höhere Macht. Glaube daran, dass es nicht vorbei ist. Dass ihr euch wieder sehen werdet.“ Er begann auf einmal wieder zu lachen. „Du kannst sowieso nichts mehr daran ändern.“ Vom Wahnsinn getrieben, lachte er lauter und brachte Clopin damit nur noch mehr zur Verzweiflung. Ein lauter, aus voller Kehle erklingender Schrei war in der näheren Umgebung überall zu hören. „NEIIIIN!!!“ Esmeralda lauschte auf. „Hast du das gehört?“, fragte sie Tertulienne, der weiter vor ihr ging. Er winkte ab und betrachtete das Spektakel, das sich weiter vorne an der Tribüne abspielte. Die Leute begannen mürrisch zu werden. Sie schrieen Flüche und warfen faulige Tomaten auf die Männer, die den Scheiterhaufen vorbereiteten und gerade mit Öl tränken wollten. „Wie können die Menschen nur so ungeduldig sein, jemanden sterben zu sehen?“, fragte Esmeralda fassungslos. Tertulienne wusste es besser. „Das ist nicht ihr Grund zur Beschwerde.“ Esmeralda sah ihn verwundert an. „Was ist es dann?“ „Sie wissen es. Sie kennen die Person, die auf den Scheiterhaufen kommt und wollen es verhindern.“ „Bist du sicher?“ Tertulienne nickte. Er hatte sie rufen hören. „Nicht ihn“, hatten sie gebrüllt, „Bastarde, nicht ihn!“. Und ein flaues Gefühl breitete sich langsam, aber sich in seinem Magen aus. „Bitte nicht.“ Er schloss die Augen und, seit vielen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder, faltete die Hände zum Gebet. „Herr… bitte nicht er. Lass es jemand anderen sein. Erhör mein Gebet.“ Esmeralda betrachtete sein Verhalten und ihr wurde klar, was er befürchtete. Sie musste schlucken und suchte nach Halt in ihrer Nähe. Doch sie fand keinen und stürzte zu Boden. „Nein!! Nicht ihn!!“ Der Protest der Menschen wurde lauter, sie drängten sich um den Scheiterhaufen und die vielen Wachen hatten alle Mühe, sie in Schach zu halten. Tertulienne wagte es kaum, aufzusehen. Zu groß war die Angst, dass es Clopin war, den sie nun auf die Tribüne brachten. Doch er musste aufsehen. Er brauchte Gewissheit. „Herr, bitte nicht. Herr, bitte, ich bitte dich, Herr…“ Unter diesem Flehen öffnete er die Augen und sah langsam auf. Sein Herz machte einen entsetzlichen Sprung, als sich all seine Furcht bestätigte. Zuerst erkannte er nur einen schwächlichen Mann, dünn, in einem weißen Hemd. Als er genauer hinsah, erkannte er den Kampf, den zwei Wachen mit ihm führten. Der Verurteilte versuchte sich loszureißen, er schrie und flehte, er sei unschuldig, warum sie ihn den nicht anhören würden. Tertulienne verstand wegen dem Schreien der Menschen seine Stimme nicht, doch er hatte ihn erkannt und versuchte nicht gänzlich zusammen zu brechen. „Clopin…!!“ Bei dem Fallen seines Namens raste Esmeraldas Blick nach oben und zum Scheiterhaufen. Mit einem Schrei legte sie die Hand vor den Mund, um gleich darauf panisch los zu laufen. Tertulienne versuchte noch, sie aufzuhalten, doch sie war zu schnell für ihn und erkämpfte sich ihren Weg durch die Menschenmenge rasch. „Bitte! Bitte, lasst mich durch! Ich muss zu ihm! Bitte!“ So errang sie sich Zugang zu der Tribüne. Als einer der Wachen sie aufhielt und es kaum alleine schaffte, half ihr ein zweiter. Esmeralda drängte sich zwischen den mächtigen Schultern der Männer durch und streckte ihren Arm nach Clopin aus. Mit der letzten Kraft, die ihr geblieben war, schrie sie dem Kämpfenden zu: „Clopin!!!“ Erschrocken von dieser Stimme, gab Clopin seinen Kampf kurzzeitig auf, um ihn gleich darauf wieder zu beginnen, als er sie in der Menschenmenge ganz vorne entdeckte und zu ihr wollte. „Esme!“ Als ein Wachmann ihn wieder packte, platzte ihm der Kragen und er biss ihm rasend vor Wut in die Pranke. Schmerzerfüllt schrie er auf und ließ Clopin kurzzeitig los. Der Zigeuner stürmte zu seiner Freundin und ergriff ihre schwache Hand mit seinen beiden Händen. „Esme, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich bin unschuldig!“ „Ich weiß, Clopin! Ich weiß!!“ Sie riss auch noch ihre andere Hand noch vorne und schaffte es, ihn kurz in den Arm zu nehmen und ihm leise etwas zuzuflüstern, ehe Wachen sie trennten und Clopin an den Pfahl zerrten, um ihn dort festzubinden. Als Clopin bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte, bekam er Angst, denn er erinnerte sich auch an die letzten Worte des alten Mannes. „Esmeralda!!“ „Hab Zuversicht! Glaube!“ „Ich ertrage das nicht.“ Mit diesen Worten drehte sich die schwache Germaine um und sah weg. Homer legte ihr die Hand auf die Schulter. Er bemerkte, wie sie vor Schreck zuckte, als er Tertulienne und Esmeralda, die sich gegenseitig stützten, vor sich herlaufen sahen. Sie versuchten noch, sich zu verstecken, doch zu spät. Der wahre König und sein Gefolge hatten sie entdeckt und gingen strickt auf sie zu. Während Tertulienne Homer am Kragen packte und ihn wütend anschrie, ging Esmeralda auf Germaine zu, holte aus und verpasste ihr ohne auch nur kurz zu Zögern, eine schallende Ohrfeige. „Du Miststück!! Er liebt dich, du Hexe!!“ Germaine ersuchte sie, leise zu sein. Bei dem Wort Hexe könnte das Volk empfindlich reagieren. Da reichte es Esmeralda und sie begann wie eine Furie schreiend und weinend auf sie einzuschlagen. „Du Miststück!! Er hat dir vertraut! Er hat dich geliebt!! Du Miststück! Hexe!! Fahr zur Hölle!!“ Germaine suchte nach Schutz, doch Esmeralda war viel zu wütend, als dass sie sie hätte aufhalten können. Doch Tertulienne bemerkte, wie sie in Rage geriet, packte die junge Frau von hinten und zog sie von Germaine weg. „Esmeralda!!“ „Nein!! Sie haben Clopin ausgeliefert!! Sie sind Schuld!!“ „Esmeralda!!“ Die Zigeunerin schwieg, raste aber immer noch. Ihr Atem war schwer, aber kurz angebunden. Als sie sich plötzlich wieder klar machte, was in wenigen Minuten geschehen würde, brach sie mit einem verzweifelten Schrei auf die Knie und legte ihre Hände vor ihr verweintes Gesicht. Mitleidig betrachteten Germaine und Homer sie, da fuhr Tertulienne sie grob an: „Wieso?? Was habt ihr Zwei euch dabei gedacht, ihn auszuliefern?? Was hat es euch gebracht??“ „Sie“, stotterte der sonst so mutige Homer nun ängstlich, „sagten, wenn wir ihn ausliefern, geschieht den anderen nichts mehr.“ Tertulienne rümpfte die Nase und schien nicht zu verstehen. „Was??“ „Sie sagten“, ergänzte Germaine, „sie würden weiter jeden Zigeuner töten, bis wir ihnen“, sie sah kurz Homer an, dann wieder zum Boden vor sich, „bis wir ihnen den König der Zigeuner ausliefern.“ „Was gibt das für einen Sinn, ihr Narren?? Ich bin der König! Wenn ihr jemanden ausliefern musstet, wieso dann ihn und nicht mich??“ „Es klang plausibel! Wir wussten, dass sie uns glauben würden!“ „Nein!! Wieso?? Warum er??“ Homer warf stotternd ein: „W-weil wir dich doch viel länger kennen, als ihn! Wir hätten dich niemals verraten können!“ „Ihr kennt mich länger?? Das war euch Grund genug den Jungen, der euch vergöttert, zum Tode zu verurteilen??“ Germaine winkte panisch ab. „Das wollten wir nicht!!“ „Das habt ihr aber! Ihr habt sein Schicksal besiegelt, als ihr ihn ausgeliefert habt!!“ „Aber, Tertulienne, wir hätten dich niemals…!“ Rasend warf Tertulienne ein: „Ich habe mein Leben gelebt, er nicht! Er hat seines noch vor sich!! Jeder andere hätte das erkannt!! Ihr nicht!“ Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme und warf ihnen nur noch abgrundtief verärgerte und vorwurfsvolle Blicke zu. Und da wurde Homer und Germaine klar, was sie getan hatten. Ihnen wurde anders zumute, ihre Gesichter nahmen die Farbe von Schnee an. Die Übelkeit überkam sie. Was hatten sie nur getan? Der Richter, Don Claude Frollo, war angekommen, um die Klage und das Urteil zu verlesen. Er stand neben Clopin, beachtete ihn wenig, sondern rollte nur ein Papierstück aus. „Der Zigeuner Clopin Trouillefou wird der Hexerei und dem Verrat der französischen Kirche angeklagt. Dieser Gesandte des Teufels bringt Übel über die gesamte Menschheit. Seine Taten müssen hier und heute ein Ende nehmen. Als Repräsentant aller Zigeuner, als ihr König, nimmt er einen Teil ihrer Sünde auf sich und mildert die Sühne, die sich über die Bürger verbreitet.“ Er pausierte und betrachtete Clopin. „Sprich! Willst du deine Sünde eingestehen und dich von allen Fehlern befreien, um vor der ewigen Hölle bewahrt zu werden?“ Clopin beugte sich mit aller Kraft nach vorne und schrie dem Richter entgegen: „Ich habe keine Sünde begangen!!! Ich bin unschuldig!!!“ Der Richter schien von diesem Aufschrei, der von dem Volk allerdings laut unterstützt wurde, wenig beeindruckt zu sein. „Der Zigeunerkönig weigert sich, Buße zu tun. Hiermit ist das Urteil gefällt. Es lautet: Tod durch Verbrennung!“ Das Volk schrie auf, als das Feuer an der Fackel des Scharfrichters angezündet wurde und dieser die Scheite unter Clopin auf Claude Frollos Zeichen hin in Brand setzte. Clopin schrie jämmerlich, als der Rauch aufstieg und die Flammen langsam größer wurden. Das Volk schrei mit ihm, es versucht den Scheiterhaufen zu stürmen, protestierte, was dies doch für eine Unmenschlichkeit sei, doch die Wärter konnten sie mit gemeinsamer Kraft zurückhalten. In der Ferne kreischte Esmeralda laut auf, erneut begannen Tränen ihr Gesicht zu fluten. „Clopin!!“ Tertulienne ergriff sie und drehte ihren Blick vom Feuer weg. „Sieh nicht hin…!” Zitternd drückte sich Esmeralda an ihn und weinte noch mehr. Clopin hatte nie jemandem etwas getan. Wofür sühnte er? Clopins Lungen füllten sich mit Qualm. Sein Atem ging schnell, so dass er durch den aufsteigenden Rauch sogar noch schneller benommen wurde. Er spürte, wie sein ganzer Körper sich dagegen sträubte, weiter zu atmen. Gleichzeitig stiegen die Flammen an und ihm wurde heiß. Die Flammen hatten ihn noch nicht erreicht, aber trotzdem hatte er das Gefühl, er brannte bereits und schrie vor Schmerzen auf, immer wieder, aber jedes Mal nur kurz und abgehakt, denn wieder und wieder kratzte der Rauch in seinen Lungen und seinem Hals und er musste husten. Das Volk tobte vor Erregung. So einen schrecklichen Tod hatten sie noch nicht miterlebt. Bis jetzt hatten nur Leute dort gestanden, die sie alle als schuldig empfunden hatten. Diesmal war alles anders. Wirklich alles. Ja. Alles. Auch der Ausgang dieser Hinrichtung. „Zum Scheiterhaufen!!“ Esmeralda und die anderen sahen erschrocken auf, als sie diese Stimme hörten, die hinter ihnen wie ein Soldat Kommandos um sich warf. Ein kleiner, schwächlich erscheinender Zigeuner war es aber, der nun durch die Menge an ihnen vorbei raste, hinter sich griff und Pfeil und Bogen hervorzauberte. Mit gebanntem Blick beobachteten Tertulienne, Esmeralda, Homer und Germaine, was er da tat, da rauschten mit einem Mal ein Dutzend anderer Zigeuner an ihnen vorbei, die eine Hälfte folgte dem Anführer, die andere setzte die wenigen Wachen, die nicht in der Nähe des Scheiterhaufens standen, außer Gefecht. Der kleine Anführer blieb stehen, als sein Gefolge an ihm vorbei rannte, in Richtung des Scheiterhaufens, und spannte einen Pfeil in seinen Bogen. Präzise zielte er auf Clopin, zumindest schien es so, was Esmeralda stocken ließ. Was hatte er vor? Wollte er wie ein Märtyrer dastehen, der Clopin frühzeitig von seinen Schmerzen erlöste? Nein, das war ganz bestimmt nicht seine Absicht. Den Männern, die sich den Weg zum Scheiterhaufen rasch freikämpften, schrie er noch ein schnelles „Achtung!!“ zu, dann ließ er den Pfeil los und selbiger düste auf sein Ziel zu. Dieses war aber nicht der mittlerweile vom Rauch betäubte Clopin, sondern das Seil, das ihn um den Oberkörper herum an den Pfahl band. Mit einem einzigen Treffer zerschnitt die Spitze des Pfeils das Seil hinten am Pfahl und Clopin sank nach vorne, in Richtung des Feuers. Da kam der Moment der sechs Männer, die dem kleinen Zigeuner gefolgt waren: Während vier von ihnen kraftvoll die wachen auseinander drückten und sie zu Boden schlugen, sprangen zwei auf die Tribüne und fingen Clopin auf, ehe er in die Flammen stürzen konnte. Einer von ihnen warf sich ihn über die Schulter und rannte los, der andere legte sich mit dem Scharfrichter an. Tertulienne und die anderen konnten nicht fassen, was sie da sahen, aber sie lachten erleichtert, als sie Clopins Leben in Sicherheit wussten. Doch nun sollte der Spaß erst anfangen. Der kleine Zigeuner kam ihnen wieder entgegen, verfolgt von einem Wachmann, und schrie panisch. Erst jetzt erkannte Tertulienne den Zwerg als Alain, den Clopin zuvor mitgebracht hatte. Ohne ihnen groß Aufmerksamkeit zu schenken, rannte der an der kleinen Gruppe vorbei. Der Wärter folgte ihm fluchend. Gleichzeitig überrannte sie nun von hinten beinahe eine Gruppe weiterer Verstärkung. Und dieses Mal waren es nicht nur wenige Männer, sondern Dutzende und abermals so viele Zigeuner, sowohl Männer als auch Frauen, angeführt von dem Schrank und Anführer der Wachen. „Rien??“ Tertulienne sah ihm entsetzt hinterher. Hatte er doch gedacht, dass gerade der Wachposten seiner Männer Clopin nicht ausstehen konnte, so trug dieser nun begeistert zu dessen Rettung bei. Der Gerufene drehte sich im Laufen kurz grölend um und schrie seinem König nur ein „Wohoo!“ zu, dann rannte er weiter geradeaus und stürzte sich auf die Wachen. Während Tertulienne herzlich lachte und einfach nur erleichtert war, hielt Esmeralda nach den Kerlen Ausschau, die Clopin eben so ritterlich vom Scheiterhaufen gerettet hatten. Im selben Moment begannen Germaine und Homer auch mit zu kämpfen, allerdings eher unbeabsichtigt: Ein Wachmann, rasend vor Wut, kam auf die zu gerannt, wohl der Überzeugung, sie seien ja auch Zigeuner, also könne man sie ebenso angreifen wie die anderen, und gab einen Kampfschrei von sich. Da stimmte Germaine mehr panisch als kämpferisch in sein Schreien ein und streckte einfach nur die Faust nach vorne und schloss erschrocken die Augen. Und just rannte der Wachmann auch in die ausgestreckte Faust hinein und fiel zu Boden. Homer beugte sich über ihn. „Unglaublich…!“ Er wedelte mit seiner Hand vor dem Gesicht des Mannes herum, der aber tatsächlich bereits K.O. zu sein schien und klatschte Germaine beeindruckt Beifall. „Alle Achtung, Madame!“ Germaine schien von sich selbst überrascht, machte aber einen vornehmen Knicks und erwiderte: „Mademoiselle, wenn ich bitten darf, junger Mann!“ Die Zwei machten sich auf, um die Bürger etwas mit anzuheizen und selbst in die vermeintliche Schlacht zu ziehen. Nach einer Weile des Kampfes, hielt Tertulienne einen vorbeilaufenden Zigeuner auf, indem er ihn am Oberarm packte. Er hatte Rien erwischt und lachte. „Du schon wieder!“ Rien machte eine fast edle Verbeugung. „Mein König“, sagte er, treu wie eh und je. „Kann ich dir helfen?“ „Ja, kannst du wirklich“, sagte Tertulienne etwas ungeduldig. „Wo habt ihr Clopin hingebracht?“ Rien deutete in eine Seitengasse, nachdem er sich aber vorher versichert hatte, dass keine verräterische Wache in der Nähe stand, und antwortete: „Durch diesen Gang gelangst du an eine kleinere Passage, einen Durchgang, wenn du so willst, zu den Katakomben. Pass auf, dass dir niemand folgt.“ Tertulienne lachte etwas ignorant, als wolle er ihm klar machen, wer von ihnen der König der Zigeuner war, dann rannte er los, um Esmeralda zu suchen und mit ihr nach Clopin zu sehen. Rien blickte ihm schmunzelnd hinterher. Und da passte er für einen Moment nicht auf und eine wütende Wache rannte ihn mit einem Kampfgebrüll um und warf ihn zu Boden. „Autsch…“ „Tschuldigung.“ Die Wache erwies sich als ein Zigeuner, der die Jacke eines Wachmannes scheinbar geklaut hatte. Er stand von Rien auf und sah sich um. „Ich suche eigentlich mehr Wachen, die ich umhauen kann.“ Rien stand auch auf und folgte seinem Blick. Doch es schien, dass alle anderen dasselbe Problem wie sie hatten. In der Mitte hatten die Bürger und Zigeuner alle Wachen gefesselt und zu einem Haufen zusammengesetzt oder gelegt, je nachdem, welchen Bewusstseinszustand sie hatten. Und das war ein riesiger Haufen. Und auch sonst lief keine Wache mehr herum. Claude Frollo, den hohen Richter, hatten sie nicht erwischt. Er war wohl bereits aus Desinteresse nach der Urteilsverkündung gegangen. „Das kann doch nicht sein… war das schon alles?“ Rien sollte sich wundern, aber er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Zigeuner und die Bürger, die sich mit ihnen verbunden hatten, hatten gesiegt. Das genügte den Gauklern aber auch an Ruhm. Sie zogen sich zurück, ebenso wie die Bürger, die nun Angst davor hatten, bestraft zu werden. Und so kam es dann, dass der Marktplatz, wenige Minuten, nachdem der Sieg errungen worden war, leer zurück blieb, bis auf die immer noch gefesselten Wachen, die erfolglos versuchten, sich zu befreien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)