両翼 von TARACHOMU ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Er fuhr in seinem neuen Auto durch die graue Herbstlandschaft und fragte sich gedankenverloren, wie der Winter wohl werden würde. Wann hatten sie zuletzt weiße Weihnachten gehabt? Er konnte sich nicht erinnern, so lange war es her. Aoi war in den stürmischen Wind hinausgetreten, und schloss das Auto ab, als ihm eine Frau entgegen kam. Sie war blond, hatte sehr kurz geschnittene Haare und war jünger als er erwartet hatte. Sie blieb vor ihm stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fror. Um den Hals trug sie eine Kette an der ein Ring hing. Vielleicht ein Verlobungsring. "Sie wollen mit mir sprechen?" fragte sie. "Kumiyo Yamada?" "Das bin ich." "Dann gehen wir rein. Wir brauchen nicht hier zu stehen und zu frieren." "Ich habe nicht viel Zeit." "Ich auch nicht" erwiderte er nur und zog sie mit in das Café gegenüber. Er betrachtete ihr Gesicht. Sie musste fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt sein. Sie trug einen schwarzen Rock und hatte schöne Beine. Ihr Gesicht war stark geschminkt. Er hatte das Gefühl, dass sie etwas, was ihr nicht gefiel, übermalt hatte. Sie war unruhig. "Hören Sie, ich muss zurück in die Forschungsstation" beharrte sie weiterhin. "Was wissen Sie über das Erdbeben vor zwei Jahren?" fragte er dazwischen. Frau Yamada schaute aus dem Fenster. Sie dachte nach. "Wir konnten es nicht vorausahnen. Die großen Erdbeben kommen nur alle 75 Jahre vor, wie sie wahrscheinlich wissen. Die Messgeräte haben nur leicht ausgeschlagen und trotzdem hat das Beben einen großen Teil Tôkyôs verwüstet. Dabei sind rund 500 Menschen ums Leben gekommen...", erzählte sie leise. Aoi starrte nachdenklich auf die Serviette vor ihm. "Der Ausgangspunkt lag rund 5000 Meter unter der neuen Universität des Stadtteiles Shinagawa und breitete sich auf rund 15 Kilometer aus. Die Leute waren in Panik, weil die Gebäude so sehr schwankten, dass das Verstecken unter den Tischen nicht half. Der U-Bahn- und S-Bahnverkehr wurde eingestellt nachdem ein Pfeiler der Yamanotelinie kurz nach vierzehn Uhr nachgegeben hatte.... wollen sie noch mehr wissen...?" Aoi sah auf. "Nein, danke sehr. Sie können wieder an die Arbeit zurückgehen... Danke nochmals." Sie schrieb ihren Namen und ihre Telefonnummer auf einen Zettel und reichte ihn ihm. "Damit sie nicht beim Chef nach mir fragen müssen..." Frau Yamada verabschiedete sich höflich und er konnte sehen, wie sie mit schnellen Schritten an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte. //Kai...// Er hatte geschworen nicht mehr an ihn zu denken und doch tat er es, sogar fast jeden Tag. Das Leben ging weiter. Das wusste er und doch machte es ihn traurig ohne seinen Freund leben zu müssen. Kaum mehr als er ertragen konnte. Er ging aus dem Café. Der Wind hatte aufgefrischt und gedreht, er kam jetzt direkt aus Norden. Es war ein langer Nachmittag. Aoi fuhr nach Hause. Ein Herbststurm braute sich über Tokyo zusammen. Das Laub wirbelte über den Parkplatz vor dem Hochhaus in dem er wohnte. Er hatte keine richtige Antwort erhalten. Die Zusammenhänge lagen noch im Dunkeln. Noch nichts war ernstlich durchleuchtet. Er war entsetzlich müde, er wusste nicht mal wovon. Oben, im neunzehnten Stock war seine Wohnung, von dort hatte er einen wunderbaren Blick über die Innenstadt. Ein einziger Nachteil war, dass es bei Sturm, wie an diesem Tag, an die Fenster knallte. Es war ein Mittwoch gewesen. Daran konnte er sich noch genau erinnern. Sie warteten schon genau eine halbe Stunde auf ihren Drummer. Kai war nie ein unpünklicher Mensch gewesen. Er vergaß auch nie Termine, schließlich legte er sie selbst fest und strich sie sogar noch dick und rot in seinem Kalender an. Aber an diesem Tag kam er nicht. Die Erde wackelte schon seit dem Morgengrauen etwas, nichts ungewöhnliches. Ruki wanderte unruhig von einer Ecke des Proberaums zur anderen, und je mehr Minuten verstrichen, desto hektischer wurde er als es plötzlich rumpste und sich ein Bandmember nach dem Anderen au dem Boden wieder fand. Der Fußboden knackte bedrohlich, das Gebäude neigte sich etwas. Die vier Musiker krochen verängstig unter den großen Tisch, der an der Wand der provisorischen Küche stand. "Scheiße.... verdammt was ist mit Kai?" kreischte Aoi völlig panisch ehe Uruha ihn schützend in den Arm nahm. Erst drei Stunden später und etlichen Nachbeben trauten sie sich wieder aus ihrem Versteck. Reita stand vorsichtig auf und schlich zum Fenster. Die Scheibe war gesprungen. Und es schneite. "Oh Gott...." Aoi wagte sich dazu. Ihm blieb der Mund offen stehen, nach und nach kamen auch die restlichen Zwei um sich die Misere anzusehen. Die Straße war zusammengefallen, schien fast wie eine Wunde aufgeplatzt zu sein und die Häuser darum herum waren in sich zusammengesunken, hatten die Trümmerteile weit von sich geschleudert. Viele davon waren auf den Autos gelandet. Aus mehreren Nebenstraßen drang Feuer. Und schon damals ahnte er, dass Kai nie mehr im Proberaum ankommen würde. Als Aoi sich auf das Sofa fallen ließ, entdeckte er dass das rote Lämpchen an seinem Anrufbeantworter blinkte. Ruki fragte, ob er mit ihm und Uruha einen trinken gehen wollte. Es war noch nicht nach acht. Er dachte an seinen Anfall von Müdigkeit, den er vorhin auf dem Parkplatz hatte. Das Gefühl etwas Kostbares verloren zu haben, wenn ihm ein bestimmter Gedanke durch den Kopf ging. Und nicht zuletzt, das Gefühl etwas Wichtiges an dem Tag als Kai gefunden wurde, übersehen zu haben. Vielleicht ein kleines Detail. Denn es stellte sich noch immer eine Frage. Warum war Kai an diesem Tag mit der Yamanotelinie in die entgegengesetzte Richtung des Proberaums gefahren? Was wollte er dort? In die falsche Bahn hätte er nicht steigen können, denn sie fuhren im Kreis alle wichtigen Bahnhöfe Tôkyôs ab und kamen garantiert beim Ueno vorbei. Wollte er nach Shinagawa? Wenn ja, was genau wollte er da? //Menschen sind selten das, was man von ihnen denkt// Doch er dachte Kai genauer zu kennen, in irgendeiner Weise. Wenn er ehrlich war, vergaß er langsam die Person Kai. Nur dessen so warmes Lächeln blieb in seinen Gedanken erhalten. Er sah es ständig vor sich. Und er konnte sich dessen Stimme vorstellen, die er manchmal so süß verstellte, dass man selbst nur lächeln konnte. Das alles wusste er noch so genau als würde der Drummer vor ihm stehen. Aoi Blick war traurig geworden. Der Wind krachte gegen das Fenster. Langsam stand er auf, gähnte und begab sich in Richtung Schlafzimmer. Es war Dezember der 23. Kein schöner Tag. Es war trocken und keine Spur von Schnee, nicht einmal von Regen. Aoi streifte lustlos durch die Straßen. Kumiyo Yamada. Er wusste er hatte denn Namen schon vor ihrem Gespräch einmal gehört oder gelesen. Weiterhin lief er, an bunten Schaufenstern und Neonreklame vorbei ohne das Ganze wirklich zu registrieren. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Inmitten von Zerstörung und Verschüttung schien der eigentliche Geist der Menschheit, wie eine schöne Blume, aufgegangen zu sein. Man sah Menschen, die sich gegenseitig halfen, bemitleideten. Und Tapfere, die noch immer bei den Räumungsarbeiten halfen. Aoi saß im Warteraum auf dem Polizeirevier, dort wurden die aktuellen Listen der Toten ausgestellt. Gleich würde er die Wahrheit präsentiert bekommen. Seine Hände zitterten. "Herr Shiroyama?" Aoi erhob sich und ging dem Beamten hinterher. Er wurde gebeten, sich zu setzen. Kurze Zeit später kam der Polizei mit einem Stapel von Papieren wieder in den Raum. "Nehmen Sie sich Zeit. Es sind über 500 Personen und nicht unbedingt in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Rechts stehen noch ein paar Fakten wie z.B. Fundort oder Alter. Vielleicht ist Ihr Freund gar nicht mit dabei?" Er spürte, wie er versuchte ihm Mut zu machen. Es roch vertraut in diesem Raum, auf dem Fensterbrett standen ein paar Topfpflanzen, der Polizist war in den Flur verschwunden. Gedämpft hörte er Stimmen durch die dicken Wände. Terminkalender hingen an den Wänden. Langsam beruhigte er sich und begann die Papiere durchzusehen. Seite für Seite, nichts. Nur unbekannte Namen, unbekannte Personen. Auf den letzten Seiten ein paar Namen. Er überlas sie nur flüchtig... und doch konnte er sich später noch genau an sie erinnern. Aoi kam zuhause an. Der Fahrstuhl stand zwischen dem dritten und vierten Stock. Er musste wohl oder übel die Treppe nehmen. Schnaufend kam er oben an, zog seine Jacke aus und die Schuhe, ehe er sich ins Wohnzimmer setzte und den Zettel mit Frau Yamadas Adresse heraussuchte. Wahrscheinlich war es unhöflich sie so spät abends noch anzurufen, doch er musste Klarheit haben. Obwohl es ihm ein schlechtes Gewissen bereitete. Sie war sicher schon genug beschäftigt. Dennoch wählte er die Nummer ein und das Freizeichen erklang. Nach einer Minute legte Aoi auf, rief nach ein einer Viertelstunde, die er, ungeduldig auf die Uhr schauend, neben dem Telefon verbracht hatte, noch einmal an. Und diesmal hatte er Glück. Kurz bevor er auflegen wollte drang Frau Yamadas kräftige Stimme an sein Ohr. "Guten Tag, Shiroyama. Wir hatten uns letztens wegen des Erdbebens..." "Ach Sie! Was wollen Sie? Es muss wichtig sein, wenn Sie so spät abends noch stören" stellte sie mit leicht bitterem Unterton in der Stimme fest. Aoi war eingeschüchtert. Er hatte erwartet, dass der Anruf nicht gut ankam, doch so...? "Was wollen Sie wissen?" fragte sie. "Wo waren Sie am Tag des Erdbebens?" "Was interessiert Sie das?" erwiderte sie barsch. "Es... es geht um meinen Freund. Er war mit der Bahn in Richtung Shinagawa auf der Yamanotelinie unterwegs..." Stille. "Und was hat das mit mir zu tun?" fragte sie plötzlich. "Ich bitte Sie, sagen Sie mir bitte wo sie zum Zeitpunkt als der Pfeiler brach waren..." bat er so höflich wie möglich. "Ich war in der Bahn" meinte sie dann und Aoi stutzte. Doch er blieb vorsichtig. "Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?" "Ja." "Haben Sie dort einen jungen Mann mit hellbraunen Haaren gesehen?" Sie schwieg eine Weile. "Beschreiben Sie den Mann näher den sie suchen. Vielleicht ist es der, mit dem ich mich unterhalten hatte." Aois Herz schlug höher. Sein Atem ging hastig. "Er ist ungefähr 1 Meter 72 groß, ist zu allem und jedem freundlich und hat ein unbeschreibliches Lächeln..." Noch eine ganze Weile beschrieb er alles mögliche bis zum kleinsten Detail. "Das klingt fast so als wären Sie in ihn verliebt~" kicherte sie plötzlich und der Schwarzhaarige wunderte sich erst über den plötzlichen Sinneswandel und dann über diese Feststellung.... Es verwirrte ihn. Entgegen seinem Gefühl den Drummer langsam zu vergessen, konnte er sich wieder an Alles haargenau erinnern. Er konnte nicht vergessen. Zumindest nicht diese Person, diesen Mann, mit dem er so viele schwierigen Phasen gemeistert hatte. "Sind Sie noch dran?" Er schreckte hoch. "Entschuldigung, aber ich musste das erst mal verarbeiten..." "Ich denke, er war es. Ich wurde von einem Mann angesprochen. Er war sehr nett und man konnte sich vorzüglich mit ihm unterhalten. Er sagte, er wäre in einem Schmuckgeschäft in der Nähe gewesen. Wir plauderten bis die Bahn ins Stocken geriet, der Pfeiler kippte und die Gleise samt Bahnabteil auf der Straße aufkamen." Sie machte eine Pause. Aois Herz schlug laut in seiner Brust. Er wagte nicht zu atmen. "Ich möchte Sie auch gern etwas fragen... Sind Sie Aoi?" "...Ja, das bin ich... wieso?" Es dauerte bis er antwortete. Die Situation machte ihn nervös und traurig. Er spürte bereits die ersten Tränen aufsteigen, doch er hielt sich zurück. "...Ich sollte zu Ihnen kommen, ich denke, da ist etwas, das Ihnen gehört...." Er konnte den Ton ihrer Stimme nicht einordnen. Mit leicht zittriger Stimme gab er seine Adresse an, bevor sie auflegte und er seinen Tränen freien Lauf ließ. Ungefähr eine Stunde später klingelte es unten an der Eingangstür. Aoi wischte sich auf dem Weg zum Türöffner schwerfällig die Tränenspuren aus dem Gesicht. "Herr Shiroyama?" "Ja, einen Moment bitte... Sie müssen in den neunzehnten Stock..." Er betätigte den Knopf und hörte noch kurz und abgehackt das Surren, bis er wieder zurück durch das Wohnzimmer in die Küche schlurfte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass in den Häusern bereits Licht in den Fenstern brannte und kein einziger Mensch mehr auf den Straßen unterwegs war. Ein Wunder, dass sie sich wirklich auf den Weg gemacht hatte. Der Fahrstuhl kam oben an, Aoi lief in den Flur und öffnete die Tür. Frau Yamada zog sich gerade die Schuhe aus. Dann folgte sie ihm in das große Wohnzimmer. Ihre Haare waren leicht feucht. "Setzen Sie sich doch", bot er höflich an. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und sah sich dann im Raum um. "Wollen Sie etwas trinken?" "Sie leben allein?" "Ja.", antwortete er etwas verdutzt, hatte sie doch nicht auf seine Frage reagiert. Dann schwiegen beide eine Zeit lang. "Ich schätze, die Erklärung wird lang?", fragte er zögerlich lächelnd. Ein sehr aufgesetztes Lächeln. "Das kommt ganz auf Ihre Reaktionen an..." "Ich verstehe." Er senkte den Kopf etwas, das künstliche Lächeln war schon wieder verschwunden. Sie atmete tief durch. "Ich habe ihn mehrere Male gesehen in der Bahn. Immer mit einem strahlendes Lächeln. Das fällt schon auf. Irgendwann kam ich wegen einer Nichtigkeit mit ihm ins Gespräch. Er hat viel von Ihnen erzählt. Vielleicht sogar geschwärmt. Daher kenne ich auch Ihren Spitznamen..." Sie lächelte. "Er muss Sie wirklich sehr gemocht haben..." In Aois Kopf begann es zu arbeiten. Langsam sickerte es zu ihm durch. Aber sollte er sich jetzt freuen? "Alles ok?" "Ja, bitte...erzählen Sie weiter...." Sie sah ihn etwas besorgt an. Aoi spielte mit den Zähnen an seinem Piercing. "An diesem Tag kamen wir wieder ins Gespräch. Er hat mir von einem Juwelier erzählt, Er erzählte auch, er wäre Musiker. Stimmt das?" Aoi nickte. Aber er versuchte sich weiterhin auf die Erzählung zu konzentrieren. "Er hat einen Ring gekauft. Ein Gegenstück, wie mir schien, mit einer Widmung." Sie nahm ihre Kette ab und ließ sie in die Hand des Schwarzhaarigen fallen. An ihr hing der besagte Ring.. Kais Ring. Das Metall war silbern und schimmerte matt. "Woher haben Sie ihn?" Sie schwieg. Dann stand sie auf. "Sagen wir, weibliches Gespür. Entschuldigen Sie mich dann bitte, meine Tochter wartet zuhause." "Haben Sie keinen Mann?", fragte er. "Nein, nicht mehr." Er hörte wie sie aus der Haustür trat und diese schloss. Er seufzte. Aoi legte den Kopf in den Nacken, dann hielt er den Ring über sich. Er glänzte im Licht der Lampe. Es war 22:36 Uhr als er sich seinen Mantel schnappte und aus der Tür trat. Der kräftige Wind hätte ihm fast seine Umhängetasche von der Schulter gerissen. Die Straßen waren wie leergefegt. Die kräftigen Sturmböen sorgten dafür, dass die Menschen zu Hause blieben. An einem Musikgeschäft blieb er stehen. Neue Gitarrenmodelle. Er sah sich die Preise an. Oder sollte er sich diesmal etwas anderes zu Weihnachten leisten? Er riss sich vom Schaufenster los und bog bei einem Restaurant in die Fußgängerzone ein. Beim dritten Eingang klingelte er an dem Knopf neben dem Namensschild. Nach einer Weile ertönte eine etwas verschlafen klingende Stimme. "Wer da?" "Aoi." "Ach... Alles klar, komm rein." Es surrte und Aoi trat ein. Seine Hände waren ganz rot und steifgefroren von der Kälte. Sogleich machte er sich daran, die fünf Treppen zu überwinden, die ihn noch von Kaffee und einer Heizung trennten. Der Blonde stand schon im Türrahmen. Er hatte sich wohl noch schnell etwas ordentliches angezogen, denn so ganz wollten die Sachen nicht zueinander passen. Aoi zog seine Schuhe aus und folgte ihm ins Wohnzimmer, aus dem Reita aber sofort wieder hinausging und in der Küche verschwand. Aoi setzte sich auf das kuschelige Sofa und betrachtete wie so oft fasziniert die stattliche Sammlung an Bässen in der Wohnung des Blonden. Auf dem Sofa lag einer, daneben lag ein weiterer auf dem kleinen Tisch, in zwei an der Wand lehnenden Taschen waren auch noch jeweils einer und Aoi wusste, dass der ehemalige GazettE-Bassist noch etliche weitere in der ganzen Wohnung verteilt zu stehen hatte. Ihre Freundschaft hatte dem Ganzen stand gehalten. Nachdem sie sich früher jeden Tag gesehen hatten, war es jedoch nun eine Woche her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. "Du bist dünn geworden", meinte Reita als er wieder kam und nahm einen Stapel Zeitungen von der Couch um sich neben Aoi hinzusetzen. "Du auch", erwiderte Aoi und spürte, dass ihn die Bemerkung irritierte. "Wenn du meinst", gab der Blonde zurück und lachte ein etwas nervöses Lachen. "Ich hab in letzter Zeit etwas Stress..." Der Bassist hatte sich nach der offiziellen Trennung von GazettE eine andere Band gesucht. Aoi wusste, dass sein Freund es nicht lange ohne Musik aushielt. Das tat er eigentlich auch, doch er konnte und wollte nicht mehr ohne Kai und so spielte er nur noch manchmal, wenn er allein war. "Wie läuft es denn so?", fragte Aoi. "Weder gut noch schlecht", antwortete der Blonde. "Ich hab weder besonderes Glück noch besonderes Pech. Die Konzerte sind zwar meistens ausverkauft aber..." Er brach ab, ohne den Satz zu beenden. Dann streckte er sich, griff nach der halbleeren Sakeflasche. "Magst du?" Statt Kaffee Sake? Aoi schüttelte den Kopf. "Trotzdem Prost", sagte Reita und nahm einen Schluck aus der Flasche. Er nahm eine Zigarette aus der zerknitterten Packung und suchte zwischen Musikzeitschriften und Notenblättern sein Feuerzeug. "Weißt du wie es Ruki geht?", fragte er. "Und Uruha? Ich höre irgendwie gar nichts mehr von ihnen..." Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche, und Aoi sah, dass ihn etwas bedrückte. Vielleicht war es gut, dass er ihn besuchte? Doch er wollte auch nicht daran erinnert werden, was einmal gewesen war. "Ruki hat sich von seiner Freundin getrennt", antwortete er. "Und Uruha sitzt in seiner Wohnung und malt seine Bilder. Er scheint immer unglücklicher zu werden. Aber ich weiß auch nicht, was ich mit ihm machen soll." "Wusstest du, dass ich mir einen neuen Bass gekauft hab?", fragte Reita. Aoi überkam das Gefühl, dass er ihm überhaupt nicht zugehört hatte. "Nein, zeig mal..." Reita stand auf und lief kurz ins Schlafzimmer. Dann kam er mit einer Gitarrentasche wieder, setzte sich und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, und Aoi merkte, dass er langsam betrunken wurde. Der Bass war grau-schwarz und hatte eine Oberfläche, als würde man über Granit streichen. "Jeden Tag spiele ich. Aber eigentlich macht es keinen Spaß. Vielleicht sollte ich auch anfangen Bilder zu malen... Oder ich kauf mir ein neues Motorrad..." "Wozu denn?" "Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht." Aoi gefiel nicht was er da hörte. Auch wenn Reita nach außen hin derselbe war wie vor zwei Jahren, schienen sich in seinem Inneren große Veränderungen ereignet zu haben. Es war wie eine Geisterstimme, die zu ihm sprach, gebrochen und verzweifelt. Vor zwei Jahren war Reita fröhlich gewesen, nicht immer sehr gesprächig, aber immer voll guter Laune. Heute schien jegliche Lebensfreude wie weggeblasen. Eine längere Pause entstand bis Aoi endlich auf sein eigentliches Problem zurück kam. "Ich muss mit dir reden. Es geht um Kai. Ich möchte, dass du mir sagst, was in diesem Ring eingraviert ist." Er gab dem Blonden den Ring. Reita leerte die Flasche und zündete sich eine neue Zigarette an. "Warum soll ich das machen?", fragte er. "Du bist hergekommen, um mich darum zu bitten, dir eine Gravur vorzulesen?" "Ja, genau das möchte ich", erwiderte Aoi kurz entschlossen. Reita sah ihn mit glasigen Augen an, dann seufzte er. "Gut.... ok, weil du's bist." Der Bassist besah sich den Ring, brauchte etwas Zeit um die winzige Inschrift entziffern zu können.. Aoi beobachtete wie sich seine fein gezupften Augenbrauen etwas zusammenzogen. Letztendlich seufzte er noch einmal Und damit stand er auf, lief leicht schwankend noch einmal in die Küche und kam mit zwei Bierflaschen wieder, die er mit seinem Feuerzeug öffnete. Eine ließ er auf dem Tisch stehen. Aoi spürte instinktiv, dass er noch etwas warten sollte. Reita starrte weiter auf den Ring, und Aoi wartete. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher ob es richtig war herzukommen. "Ich habe schon immer gespürt, dass Kai hinter seiner freundlichen und stillen Fassade ein anderer war. Für mich hatte er etwas trauriges an sich, ich weiß nicht wieso. Ich habe drei Jahre damit verbracht herauszufinden, wer er wirklich war. Und am Ende habe ich Recht gehabt...?" Aoi betrachtete den neben ihm sitzenden Mann. Er hatte etwas Hartes und Verbissenes. Anscheinend war er wirklich enttäuscht über die Wendung der Dinge. Noch immer betrachtete er nachdenklich den Ring. "Da steht >Ryouyoku<..." Reita stand auf. "Ein Flügel", sagte er. "Ein Flügelpaar. Du wirst es später begreifen." Aoi dachte an Reita und sich. Dass sie eng mit einem Menschen zusammengelebt hatten, der überhaupt nicht derjenige war, für den er sich ausgegeben hatte. Jemand, der ein Doppelleben führte und dem eigentlich gar nicht so sehr nach Lächeln zumute war. Er fühlte sich schuldig, dass er es niemals gemerkt hatte. Ich bin ein Scheißfreund, dachte er. Ein Durchbruch, dachte er. In allen Erinnerungen, die man durchdenkt, gibt es einen Punkt, an dem wir eine Wand durchbrechen. Wir wissen nur nicht genau, was sich dahinter zu sehen bekommen. Aber irgendwo dort wird sich die Lösung auf alle Probleme finden. Er ging zum Fenster und sah in die Dämmerung. Von den undichten Fensterleisten zog es kalt herein, und an einer schaukelnden Straßenlaterne konnte er erkennen, dass der Wind noch stärker geworden war. Es schneite. "Es tut mir Leid, Kai..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)