Kurzgeschichten von Medihra (24-Stunden-Schreibaufgabe) ================================================================================ Kapitel 4: Die letzte Reise --------------------------- Die Sonne stand hoch am Himmel, jedoch durchbrachen kaum ihre Strahlen das dichte Blätterdach des Amanwaldes. Eine feuchte Hitze baute sich zwischen der Flora auf. Die Frauen des Amazonenstammes Torîl legten ihre Arbeiten nieder und zogen sich in die kühlenden Schatten ihrer Lehmhäuser zurück. Einzig aus der großen mit Blumen geschmückten Hütte der alten Schamanin Néara ertönte ein monotoner Gesang. Ein süßlicher Weihrauchduft wehte jeder Frau entgegen, wenn sie die Hütte passierte. »Göttlicher Dinësh, Tag für Tag schickst du uns deine kraftvollen Strahlen. Ich flehe dich an, deine Macht zu zügeln. Die Hitze trocknet die Tränken des Viehs aus. Unser Getreide auf den Feldern geht ein.« Ein qualvolles Husten erklang von der alten Néara, welches sie in der Meditation störte. Fast kraftlos stützte sie sich ab und rang nach Luft. Vereinzelt klebten Strähnen ihres ergrauten Haares in ihrem schweißnassen Gesicht. »Mutter? Oh, bei allen Göttern!« Aaryanna betrat die Hütte. Vor Schreck ließ sie die Tonschale mit den Lilienblüten fallen, die sie eben im Garten gepflückt hat. Die junge Frau eilte zu ihrer gebrechlichen Mutter. »Hast du dich heute noch nicht mit dem Thymianöl eingerieben?« »Meine Tochter, gegen das Alter ist noch kein Kraut gewachsen. Ich spüre es. Ich spüre mein Ende meines sterblichen Lebens.« Tränen liefen über die zarten Wangen der jungen Aaryanna. Mit zitternder Hand strich sie ihr feingelocktes dunkelbraunes Haar hinter das rechte Ohr. »Nein, Mutter, sag bitte nicht das. Es ist noch zu früh für dich.« Ein mildes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Schamanin aus. Vorsichtig legte sie ihre runzelige Hand auf das Haar ihrer Tochter. »Deine Ausbildung zur Schamanin ist bereits abgeschlossen, Aaryanna. Du bist klug und weise. Dein Wissen kannst du hervorragend anwenden. Ich jedoch bin eine alte Frau, die keinen Mörser mehr halten kann. Nicht einmal die Meditation kann ich ohne Unterbrechungen durchführen.« Erschöpft vom Sprechen schloss Néara ihre Augen. Ein Rasseln erklang aus ihrer Lunge. »Mutter?«, flüsterte Aaryanna mit tränenerstickter Stimme. »Tochter. Die Zeit ist für mich gekommen. Mit meiner verbleibenden Kraft werde ich auf den Veda gehen und dort meine ewige Ruhe finden.« Néara richtete sich ächzend auf. Mit wackeligen Knien humpelte sie in Richtung Tür. »Mutter, ich werde dich begleiten. Ich will nicht, dass du alleine stirbst.« »Ich hatte gehofft, dass du diese Worte aussprechen wirst. Es ist als meine Nachfolgerin deine Pflicht mich zu begleiten. Nur so erlangst du den Segen der Götter und von den Göttern als Schamanin akzeptiert.« Die beiden Frauen verließen ihre Hütte, während Aaryanna ihre Mutter stützte. Néara hatte kaum noch die Kraft zu laufen. Die anderen Frauen beobachteten dies und kamen aus ihren Hütten. »Ehrwürdige Néara…« »Der Veda ruft mich, meine Freundinnen. Ich bin alt und meine Tochter wird meinen Platz übernehmen. Lebt wohl.« Die Frauen fingen an zu jammern. Sie umarmten ihre scheidende Schamanin und vergossen viele Tränen. Néara wurde bunte Bänder ins Haar geflochten. Ein kleines Mädchen hängte ihr eine Kette aus Nagetierknochen und Federn von exotischen Vögeln um den Hals. »Ihr ward eine sehr gute Schamanin und habt uns bei vielen Krankheiten geholfen«, sagte die Stammesanführerin, die aus ihrer Hütte kam. Eine prachtvolle Pfauenfederkrone zierte ihren Kopf, während ein scharlachrotes Tuch um ihre Hüften geschlungen war. Aaryanna und Néara und auch die anderen Frauen neigten ihre Köpfe. »Trauer erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke, dass du nun zu den Göttern gehen wirst. Aber Freude kommt in mir auf, weil ich weiß, dass deine Tochter eine sehr gute Lehrmeisterin hatte und so gerecht dein Erbe antreten kann.« »Das Wissen wird auch nur von der Mutter an die Tochter weitergegeben«, lächelte die alte Schamanin. Die Stammesanführerin stieß einen Schrei aus, dem alle Frauen mit einstimmten. Mit einer Gänsehaut wandte sich Aaryanna von ihnen ab. Sie konnte es sich nicht vorstellen, von nun an allein die Schamanin des Stammes zu sein. Ihre Mutter hatte ihr immer als Rückenstärkung gedient. »Du wirst das schaffen, das weiß ich, meine Tochter«, ermutigte Néara sie. Beide liefen sie tiefer in den Wald hinein. Die Schwüle war schier unerträglich, sodass Aaryanna ihre Mutter auf den Rücken nahm und sie weiter Richtung Veda trug. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, doch musste sie es schaffen, da sie selbst von den Göttern den Segen erhalten wollte. Der Schweiß lief an ihr herab. Das weiße Hüfttuch klebte an ihrer Haut, als sie eine Lichtung in dem dichten Regenwald erreichten. »Wir sind da«, flüsterte Aaryanna ihrer Mutter zu. »Aber ich sehe den Göttlichen Berg nicht, Mutter.« Die alte Frau öffnete ihre Augen und lächelte. »Ich sehe ihn. Nur eine Gesegnete, die sterben wird, kann ihn sehen.« Aaryanna stockte. »Aber wie soll ich…?« »Die Götter werden sich dir zeigen, wenn sie meinen, du wärst meiner würdig, Aaryanna«, unterbrach Néara sie. »Ich werde nun in die Mitte der Lichtung laufen, die du gerade siehst. Deine Pflicht ist es, hier stehen zu bleiben, sonst wirst du dich in der Unendlichkeit verlieren.« Die Tochter umarmte ihre Mutter. Ihre Augen brannten, unablässig liefen Tränen aus ihren Augenwinkeln. »Ich werde dich nie vergessen, Mutter. Du warst so voller Güte und hattest sehr viel Geduld mit mir.« »Lebe wohl, meine Tochter«, flüsterte die Sterbende. Mit letzter Kraft schritt sie auf den Berg vor ihr zu. »Ihr Götter! Ihr habt mich vor fünfzig Jahre zur Schamanin des Stammes Toríl erwählt. Nun flehe ich euch an: Gebt mir die Ruhe, die ich verdiene und gebt meiner Tochter Aaryanna den Segen, den ihr mir einst gab.« Aaryanna hatte ihre Mutter aus den Augen verloren. Ihr schien, ihre Mutter wäre in einem Nebel verschwunden. Sie wollte Néara hinterherlaufen, doch sie erinnerte sich an die Warnung ihrer Mutter. Widerwillig blieb sie an ihrem Platz stehen und wartete ungeduldig auf das, was wohl passieren würde. Enttäuscht dachte sie, die Götter würden sie als Schamanin verweigern. Doch dann wurde die Lichtung von einem hellen Licht erfüllt. Sie schloss ihre Augen, als sie geblendet wurde. »Öffne deine Augen, Götterkind«, hörte sie eine sanfte Stimme. Vorsichtig hob sie ihre Augenlider und blinzelte kurz. Aaryanna sah einen Mann vor sich, der eine goldene Haut hatte. Als sie erkannte, wer vor ihr stand, warf sie sich auf die Knie. »Göttlicher Dinësh.« »Stehe auf und sieh.« Neugierig blickte sie an ihm vorbei. Ihre Augen weiteten sich, als sie einen Berg vor sich sah. »Der Göttliche Berg Vedu«, sagte sie ehrfürchtig. »Aaryanna…« »Mutter«, keuchte die junge Frau. Sie konnte ihren Augen nicht trauen, als sie ihre Mutter vor sich sah, die um Jahre jünger war. Ihr faltenloses Gesicht wurde von tiefschwarzen Locken umrahmt und in ein goldenes Gewand gehüllt. »Ich werde nun zu den Göttern gehen. Lebe wohl, meine Tochter.« Néara blickte auf, als ein Regenbogen über ihr erschien. Sie hob zum Abschied ihren linken Arm und trat in das bunte Licht von grün, blau, rot und orange. »Ich liebe dich, Aaryanna.« »Mutter!«, schrie Aaryanna, als Néara in einem gleißenden Licht verschwand. »Ihr wird es bei uns an nichts fehlen, Schamanin des Stammes Toríl. Ich habe erkannt, dass du dem Erbe deiner Mutter würdig bist. Kehre nun zurück in dein Dorf und nimm deine Arbeit auf.« Die Brünette senkte ihren Kopf zum Gruß. Der Gott verschwand und Aaryanna fand sich auf der Lichtung wieder. Tiefe Trauer erfüllte ihr Herz, als sie sich zum Gehen umwandte. Sie stockte kurz, als sie merkte, dass etwas in ihr anders war. Sie blickte über ihre Schulter, doch da war niemand, der ihr noch etwas mitteilen wollte. »Schamanin Aaryanna«, hallte die Stimme Dinësh’ über die Lichtung. »Lehre dem Götterkind in dir das, was du von Néara gelernt hast.« Die junge Schamanin konnte es nicht fassen. Sie hatte das Kind Dinësh’ empfangen, damit die uralte Tradition weitergeführt werden konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)