Seeräuber von Terrormopf (Das Mädchen und die Piraten) ================================================================================ Kapitel 4: Folkhorn & Charles ----------------------------- Seit einem dreiviertel Jahr war sie nun schon 17. Von der Crew damals waren nicht mehr viele Mitglieder an Bord. Laffite war noch immer Quartiermeister der Vengeance, Bartholomew auf der Satisfaction und Garret war zum Quartiermeister der Fortune bestimmt worden, Jons drittem Schiff. Mit Leo war Kim schon lange nicht mehr zusammen, er war auf der Fortune, was die Sache erleichterte. Terry und Aodh waren noch auf der Vengeance, genau wie Edward. Was aus dem alten Jack geworden war, wusste Kim nicht, er hatte sich, noch als sie damals in der Hafenstadt in Westafrika waren, zur Ruhe gesetzt. Manchmal dachte Kim noch an ihn und überlegte, ob es ihm wohl gut ging. Von Untoten waren sie nicht mehr geplagt worden und alles an diesen Dingen kam Kim vor, als hätte sie es damals nur geträumt, doch wenn sie sich dann ihr Armband besah, wurde ihr wieder bewusst, dass es real gewesen war. Es herrschte Flaute und die sengende Sonne schien auf ihre Häupter. Kim hatte ihre Bluse lässig unter der Brust verknotet und saß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und einem Kopftuch auf dem Haupt bei Silvestro, einem groß gewachsenem lustigen gesellen, der allerdings nicht mehr allzu viele Haare auf dem Kopf hatte, Chidi, einem schwarzen, der ehemalig als Sklave verkauft werden sollte, dessen Schiff sie allerdings gekapert hatten, und Pio, der sich einen Ziegenbart züchtete, da sein Idol, irgendein italienischer Musikant, erklärt hatte, dass dies der absolut letzte Schrei war. Pio war der Jüngste der drei, er war ungefähr 25. Silvestro und Chidi waren beide 29. Sie lachten gerade wieder über eine Silvestros Geschichten, da sagte Chidi, der ihrer Sprache noch nicht ganz mächtig war: „Dort unser Kapitän kommt, lasst uns ihn herüber winken.“ Mit diesen Worten winkte er Jon zu, der dem folgte und fragte: „Na? Was gibt’s neues?“ Silvestro salutierte und sagte: „Captain, melde gehorsam, wir haben tote Hose, kein Lüftchen wagt sich in unsere Segel.“ Jon massierte sich die Schläfen und sagte: „Ich wollte wissen, was es neues gibt, dass Flaute herrscht, weiß ich schon seit heute Morgen.“ Kim, die den vermeintlichen Scherz ebenso wenig lustig fand, schlug Silvestro leicht auf den Hinterkopf und sagte an Jon gerichtet: „Setz dich doch zu uns, wir können Karten spielen, wenn du Lust hast oder…“ „Wir können auch unter Deck gehen, die Frage ist nur, zu dir oder zu mir?“, beendete Pio den Satz für sie. Kim regte sich nicht sonderlich auf. Die drei stichelten immer ein wenig, da sie schon früh mitbekommen hatten, dass sie sich bemerkenswert gut mit ihrem Kapitän verstand. Sie strafte ihn lediglich mit einem verachtenden Blick und beendete ihren Satz selbst: „Oder wir können würfeln. Ich danke dir, Pio, dass du mir Arbeit abnehmen wolltest, doch reden kann ich immer noch für mich selbst.“ Jon allerdings nahm das nicht ganz so gelassen wie Kim, denn er sagte frostig: „Noch einmal so einen dummen Kommentar und du darfst allein das Deck schrubben.“ Bei diesen Worten verging ihm das Lachen und er entgegnete zähneknirschend: „Ai Captain!“ Jon nickte zufrieden und ließ sich neben Kim nieder. Jedoch nicht, ohne Silvestro einen strafenden Blick zuzuwerfen, da er Anstalten machte, einen Kommentar loszulassen, der ihm, angesichts dieses Blickes, allerdings im Halse stecken blieb. Wie Kim vorgeschlagen hatte, spielten sie Karten und sie war gerade am Gewinnen, da hörten sie Terry vom Krähennest aus rufen: „Land in Sicht!“ Waren sie schon in New Providence angekommen? Auf dem Schiff hatte Kim nahezu jegliches Zeitgefühl verloren. Genau wie die anderen stürmte sie nach vorne um nachzusehen, ob er wirklich die Wahrheit gesagt hatte und tatsächlich konnte sie dort am Horizont einen schmalen Streifen Land erblicken. Eine Weile blieb sie noch stehen und starrte voller Vorfreude auf das vor ihr liegende, dann ging sie wieder zu den Karten zurück und nahm ihr Blatt zurück in die Hand. Skeptisch fragte sie: „Wer von euch hat sich an meinem Blatt zu schaffen gemacht?“ Natürlich wanderte ihr Blick zuerst zu Silvestro, doch der schaute genauso verblüfft wie sie in seine Karten. Es war klar, wer es getan hatte, als sie auch in Jons und Chidis Gesichtern diese Verwunderung sehen konnte und sich auf Pios Gesicht ein breites Grinsen bemerkbar machte. Verärgert sagte sie: „Mensch, Pio, was soll denn das schon wieder? Ich war gerade am Gewinnen!“ Silvestro schaute vom einen zum anderen und fragte dann: „Warst du das, Pio?“ Dieser schüttelte entschlossen den Kopf, aber Jon meinte: „Und warum haben dann alle, außer dir, ein schlechteres Blatt als vorher?“ Pio zuckte die Achseln und Jon seufzte: „Solange es keine Zeugen gab, kann ich nichts tun, so gerne ich diese kleine Mistratte auch aussetzen würde. Lasst uns einfach noch einmal die Karten neu mischen.“ Also mischten sie die Karten erneut. Diesmal sah es nicht so rosig aus für Kim. Wie in den beiden Spielen davor verlor sie haushoch und als Silvestro gerade die nächste Runde geben wollte, erhob sie sich und lächelte: „Ich glaube, ich habe für heute genug Geld beim Spielen verloren. Ich mache mich fertig, schließlich will ich an Land gut aussehen, man weiß nie, wem man begegnet.“ Sie zwinkerte den vieren zu und ging unter Deck. Als sie an diesem Abend in einer Spelunke saßen und alle schon gut bei der Sache waren, gesellten sich einige Damen zu ihnen. Eine saß bei Terry, der immer wieder von Aodhs giftigen Blicken gestreift wurde, die ihn allerdings vollkommen gleich waren. Die nächste saß bei Silvestro, der sie so zum lachen brachte, dass die arme schon nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Eine dritte saß bei Pio im Arm, der seine Finger nicht vom ihrem Gesäß lassen konnte. Eigentlich wollte sich auch eine zu Jon gesellen, doch der wies sie, zu Kims Verwunderung, ab und kurz darauf lächelte er ihr zu. Nach und nach verschwanden sie, bis nur noch Kim, Jon, Aodh und Chidi, der keinen großen Wert auf diese Dinge legte, da er eine Frau und Kinder hatte, die in Amerika auf ihn warteten, dass er sie aus der Sklaverei befreite, da saßen. Wie immer, wenn Terry mit einer Frau alleine war, war Aodh übellaunig und antwortete nur teils. Die anderen drei wussten dies und redeten erst gar nicht mit ihm. Insgesamt wurde an ihrem Tisch nicht viel gesprochen. Allmählich wurde Kim müde und gähnte herzhaft, bevor sie sagte: „Ich glaube, ich werde mich schlafen legen, ich wünsche eine gute Nacht allerseits.“ Aodh und Chidi erwiderten ihren Gruß, Jon allerdings erhob sich und zog seinen Mantel an. Als sie ihn verwirrt anschaute, fragte er: „Was denn? Ich begleite dich natürlich oder denkst du, ich lasse dich alleine durch dieses Nest laufen?“ Dankbar lächelte Kim ihn an und gemeinsam verließen sie dann den Raum und traten ins Freie. Auf dem Schiff angekommen verabschiedeten sie sich, denn Jon musste noch ins Logbuch eintragen und Kim wollte noch ein Buch von Leo ausleihen, das er sich bei ihrem letzten Aufenthalt gekauft hatte. Also ging sie zur Fortune und fragte den erst besten, der ihr über den Weg lief, ob er wisse, wo Leo sei. Er rülpste und schallte: „Leo? Kenn ich nicht! Such woanders oder geh zurück in n Puff!“ Genervt schüttelte sie den Kopf und ging unter Deck, um zu sehen, ob sie irgendwo Garret finden konnte. Und tatsächlich, er saß in der Kapitänskajüte mit einer Flasche Rum in der Hand auf dem Bett und summte leise vor sich hin. Er erblickte sie und sprang freudig auf. Schwankend kam er auf sie zu und drückte ihr die Flasche mit den Worten „Hier, trink was! Die Schlacht neulich war hart und hat viele Verluste mit sich gebracht, aber wir lassen uns nicht unterkriegen, was?“ in die Hand. Kim allerdings stellte sie beiseite und fragte schlicht: „Sag mal, weißt du, wo Leo ist? Ich wollte mir ein Buch von ihm ausleihen, oder ist er in der Stadt?“ Garret sah sie erst mit großen Augen an und für einen Moment schien er die Luft anzuhalten. In diesem Augenblick war es still und Kim überkam ein ungutes Gefühl. Langsam flüsterte Garret: „Du weißt es noch gar nicht? Hat es dir noch niemand gesagt?“ Verwirrt schüttelte Kim den Kopf und sah Garret fragend an. Dieser schluckte schwer und fuhr dann fort: „Nun, also, weißt du? Wie gesagt, die letzte Schlacht war hart und außerdem, ach wie heißt das doch gleich? Ach ja, wir haben große und schwere Verluste zu beklagen. Und wie du weißt, kann man nicht bestimmen, wer bei solch einer Schlacht stirbt und wer am Leben bleibt…“ „Was willst du damit sagen?“ Eigentlich wusste sie genau, was er sagen wollte, doch sie konnte es nicht fassen. Verzweifelt klammerte sie sich daran, dass er etwas anderes meinen könnte, als das, was sie dachte. Doch es war genau das, denn Garret sah zu Boden und sagte leise, so, dass sie es kaum verstehen konnte: „Leo ist tot.“ Langsam schüttelte Kim den Kopf und ging rückwärts aus der Tür. Bedächtig ging sie zurück auf die Vengeance. Sie wollte sich schlafen legen, am nächsten Tag aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch sie schaffte es nicht einmal einzuschlafen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und stand auf. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu Jons Kajüte und öffnete vorsichtig die Türe. Sie trat in den dunklen Raum ein und setzte sich an die Bettkante. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Es war beruhigend. Ihre Augen waren schon längst an die Dunkelheit gewöhnt und so streckte sie ihre Hand aus und streichelte Jon durch sein verwuscheltes Haar. Er wachte nicht auf, sondern drehte sich und schmatzte ein wenig. Kim lächelte mild und stand auf. Gerade öffnete sie die Türe, da hörte sie ihn fragen: „Kim? Bist du das?“ Sie ging wieder zu ihm und nickte stumm. Er fragte weiter: „Was machst du denn hier? Ist etwas passiert?“ Leise, mit weicher Stimme, flüsterte sie: „Leo ist tot.“ Irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde sie lächeln, konnte sich aber nicht erklären warum, denn zum Lächeln war ihr nun wirklich nicht zumute. Jon hingegen setzte sich auf, drückte sie an sich und flüsterte: „Oh mein Gott, Kim, das tut mir ja so Leid!“ Doch sie entgegnete: „Aber warum? Leo und ich sind doch schon über ein Jahr nicht mehr zusammen und er war die ganze Zeit auf der Fortune. Warum sprichst du mir dein Beileid aus?“ Jon hielt sie von sich und starrte ihr bestürzt in die Augen. Er fragte: „Warum ich dir mein Beileid ausspreche? Kannst du dir das nicht selbst beantworten?“ Kim lächelte: „Nein, ich verstehe es nicht, er ist mein Ex, wieso sollte ich da traurig sein? Ich habe ihn doch sowieso fast nie gesehen.“ Jetzt wurde Jon lauter, er schrie schon fast: „Was ist denn mit dir los? Ihr habt doch trotzdem in den Spelunken zusammen gelacht und habt zusammen getrunken, ihr habt euch ständig irgendwelche Bücher oder dergleichen ausgeliehen! Du solltest mir mal erklären, wie dich das so kalt lassen kann!“ „Warum mich das kalt lässt? Wir haben zusammen gelacht, weil Silvestro mal wieder eine seiner Geschichte erzählt hat, wir haben zusammen getrunken, weil er immer mit Garret gekommen ist und der mit dir und mir getrunken hat und die Bücher haben wir uns ausgeliehen, weil es sonst viel teurer wäre! Die meisten Mädchen hassen ihren Ex abgrundtief, warum sollte das bei mir anders sein? ... Warum sollte das bei mir anders sein?“ Ihre Stimme war leiser geworden, hatte begonnen zu zittern. Warum war es bei ihr anders? Warum hatte sie Leo nicht hassen können, wie jedes normale Mädchen ihren Verflossenen hasste? Dann würde ihr Herz jetzt nicht so schmerzen. Dann würde ihre Seele nicht zerreißen, wenn sie ihn verleugnete. „Warum bin ich anders?“ Eine Träne kullerte über ihre gerötete Wange, es folgte eine zweite. Erst langsam, dann glänzte ihr Gesicht von einem Schleier aus Tränen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und wehrte sich nicht gegen Jons Umarmung. Laut zu schluchzen traute sie sich nicht, doch nach einer Weile klammerte sie sich an Jon und suchte verzweifelt Halt in seiner Umarmung. Für einen winzigen Augenblick, für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihr vor, als wäre es Leo, der sie da in den Armen hielt und versuchte, ihr Halt zu geben. Doch als ihr wieder bewusst wurde, dass es Jon war, tat sie einige Schritte zurück, wischte sich die Tränen, so gut es ging, aus dem Gesicht und lächelte: „Es geht wieder, danke. Ich denke, ich werde mich schlafen legen. Gute Nacht.“ Und bevor er noch etwas erwidern konnte, fiel die Tür ins Schloss und sie atmete, an der Tür gelehnt, tief durch. Langsam schlich sie in die Kombüse und holte sich eine Flasche Rum aus der Vorratskammer. Damit ging sie zurück in ihre Kajüte und setzte sich auf ihr Bett. Sie zog die Beine an ihren Körper und nahm einen kräftigen Schluck. Irgendwie schmeckte es anders als sonst. Es war bitter und brannte im Hals. Es war sogar noch schlimmer als damals, als sie ihren ersten Schluck Rum getrunken hatte. Weinend lehnte sie den Kopf an die Wand und fragte, die Augen geschlossen: „Ich dachte, du wolltest, dass ich glücklich bin, warum tust du mir das jetzt nur an? Wie kannst du nur?“ Als sie am nächsten Morgen aufwachte, sah sie, dass die Flasche über Nacht umgefallen und der Rum sich über ihr Bett verteilt hatte. Sie fluchte rüde, wie sie es von den Piraten gelernt hatte und stand auf, um die Matratze abzuziehen und zum trocknen aufzustellen. Jon würde sie nichts davon erzählen, der würde sich nur unnötig aufregen. Erstens wegen der Matratze, er würde sie zwingen eine neue zu kaufen, und zweitens, weil sie sich, ohne Erlaubnis, spät nachts, eine Flasche Rum stibitzt hatte. Sie fragte sich, warum sie überhaupt eine Flasche Rum bei sich hatte, sie trank doch sonst nicht alleine. Doch mit einem Schlag fiel ihr wieder ein, warum sie sich hatte betrinken wollen. Fast wünschte sie sich, dass sie gar nicht mehr aufgewacht wäre, aber andererseits, im letzten Jahr hatte sie Leo auch kaum gesehen. Einen so großen Unterschied würde es doch wohl nicht machen. Bei diesem Gedanken schmerzte es Kim in ihrer Brust. Und ob es einen Unterschied machen würde. Einen sehr großen sogar. Jetzt würde sie Leo nie wieder sehen. Er würde sie nie wieder freudig anlächeln, wenn sie sich an Land begegneten, er würde ihr nie wieder überheblich den Kopf tätscheln, er würde sie nie wieder fragen, ob man Schifffahrt mit drei „f“ oder nur mit zweien schrieb, er würde nie wieder da sein. Nie wieder. Er existierte nicht mehr, war einfach wie ausradiert. Sie stand auf und ging an Deck. Eigentlich wollte sie mit niemandem reden, niemanden sehen, doch ihre Füße lenkten sie zu Laffite, Terry und Aodh, die sie fröhlich grüßten. Eigentlich wollte sie lächeln, doch die drei musterten sie argwöhnisch und Laffite fragte, zu ihrem Erstaunen in ihrer Sprache: „Was ist passiert?“ Den Versuch zu lächeln noch nicht aufgebend, entgegnete sie: „Was soll denn passiert sein?“ Terry wich leicht zurück und meinte: „Wenn du so eine komische Grimasse schneidest, muss etwas Schlimmes passiert sein.“ Gerade suchte sie nach den passenden Worten, da legte ihr Pio, der mit Silvestro und Chidi unterwegs war, den Arm um die Schultern und fragte: „Hat es etwas mit einem Mann zutun? Doch nicht etwa mit unserem Kapitän, ich glaube, gestern Nacht mitbekommen zu haben, wie du aus seiner Kajüte gekommen bist.“ Jon, der anscheinend kurz zuvor geduscht hatte, da er noch nasse Haare hatte und sich ein Handtuch um die Schultern gelegt hatte und ein paar fetzen Pios letzten Satzes mitbekommen hatte, fragte: „Wer ist gestern Nacht in meiner Kajüte gewesen? Guten Morgen übrigens.“ „Na die Kleine hier, spät nachts noch einen Besuch beim Captain? Was habt ihr da nur gemacht?“ Pio grinste vom einen zum anderen und Jons Miene verfinsterte sich, bis er zischte: „Glaub mir, sie hatte einen triftigen Grund, zu mir zu kommen.“ Silvestro steckte die Hände in die Taschen und grinste: „Ich habe auch immer einen triftigen Grund, um die Huren in ihren Häusern zu besuchen und danach geht es auch mir viel besser.“ Jon sog scharf die Luft ein und hielt an sich, um nicht auszurasten. Terry und Laffite allerdings, die die beiden schon sehr viel länger kannten, als Pio, Silvestro und Chidi, die ja noch nicht mal ein halbes Jahr an Bord waren, musterten Jon skeptisch und fragten an Kim gewandt: „Nun sag schon, was los ist, wenn du Jon deswegen mitten in der Nacht besuchst, muss es wirklich wichtig sein und ich finde, wir haben ein Recht darauf es zu erfahren.“ Aodh schien hin und her gerissen, schlug sich letztendlich aber doch auf Laffites und Terrys Seite und unterstützte: „Er hat Recht, ich bin auch dafür, dass du uns erzählst, was los ist und nicht nur, weil wir deine Freunde sind.“ Kim versuchte die Fassung zu behalten und sagte: „Ich kann nicht.“ Pio nahm nun endlich den Arm von ihrer Schulter, musterte sie verwundert und fragte: „Warum nicht?“ Und bevor noch jemand sie drängen würde, platzte Jon heraus: „Leo ist tot.“ Aodh, Terry und Laffite tauschten einen bestürzten Blick, doch Pio, ungehobelt wie er war, fragte: „Wer ist krepiert? War der wichtig?“ Als er von den zornigen Blicken Jons, Terrys, Laffites und Aodhs gestreift wurde, zuckte er mit den Schultern und meinte: „Na und? Ist halt einer am Arsch, der wird ja wohl nicht wichtig gewesen sein, sonst hätte ich von ihm gehört. Der Typ hätte sich doch überlegen können, was er mit seinen Leben anstellt. So ein Idiot.“ Kim holte gerade aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, da trafen ihn drei Fäuste hart ins Gesicht. Die erste gehörte Terry, die zweite Laffite und die dritte natürlich Jon. Blut tropfte auf den Boden und Pio, der sich die stark blutende Nase hielt, brüllte: „Habt ihr sie noch alle? Wir sind in einer Mannschaft und absolut nüchtern, schon vergessen?“ Kim kramte aus ihrer Tasche ein sauberes Taschentuch heraus, trat zu Pio, hielt es ihm unter die Nase und drückte ihre Hand auf seine Stirn, so dass sein Kopf unsanft nach hinten gedrückt wurde. Vollkommen außer sich, versuchte er um sich zu schlagen und brüllte: „Was machst du denn da? Ich bin doch nicht aus Knete!“ Monoton antwortete Kim: „Klappe. Du musst den Kopf zurück lehnen, das ist besser.“ Langsam beruhigte er sich und hielt sich selbst das Tuch unter die Nase. Silvestro und Chidi hatten sich inzwischen über Leo erkundigt und sprachen ihr ihr Beileid aus. Kim allerdings lächelte nur freundlich und nickte. Sie wollte es nicht hören. Denn so wurde es nur noch wirklicher. Als sie am nächsten Morgen alleine an Deck saß und in einem Buch las, trat jemand unsanft gegen ihren Fuß. Wütend sah sie auf und fragte den jungen Mann, der vor ihr stand: „Was willst du? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“ Er begann zu lachen und sie musterte ihn eindringlich. Er war so um die 1,80 Meter groß, sein Haar war kurz geschoren und leuchtete in einem grellen orange, was in einem krassen Kontrast zu den kleinen eisblauen Augen stand, die sie belustigt anschauten. Er fasste sich wieder und fragte: „Ein Buch lesen nennst du Beschäftigung? Frauen! Aber sag, was macht eine Hure wie du auf einem Piratenschiff, wird dein Arbeitgeber nicht sauer? Oder bist du so etwas wie eine Schiffs-Mätresse? Du bist zwar nicht die hübscheste, aber in der Not der Stunde, würde ich dich gewiss nicht verschmähen.“ Erneut lachte er auf, als hätte er einen Witz gemacht. Kim allerdings erhob sich, verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete: „Ich bin weder eine Hure, noch eine Schiffs-Mätresse und selbst wenn es so wäre, dich Rotschopf würde ich ganz bestimmt von der Bettkante stoßen! Aber du bist doch bestimmt nicht an Bord gekommen, um mir gegenüber zynische Bemerkungen zu machen. Also sag schon, was willst du?“ „Immer sachte, Kleines. Wenn du nicht die Schiffs-Mätresse bist, möchte ich erstmal hören, was du sonst hier machst. Ich frage mich, warum die Crew ein Weibsbild wie dich nicht sofort von Bord wirft.“ „Vielleicht, weil ich eine von ihnen bin, hohe Kontakte pflege und sie dich von Bord werfen, wenn du weiterhin so respektlos mit mir sprichst. Wie heißt du überhaupt?“ Zwar trug er keinen Hut auf dem Haupt, tat aber trotzdem, als würde er ihn ziehen, deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an und antwortete: „Orpheus McQuilligan, angenehm. Und wie heißt die Dame, mit der ich spreche?“ „Ich warne dich, McQuilligan, hüte deine Zunge. Ich bin Kim und ich wüsste gerne, was du auf der Vengeance willst.“ „Bin ich hier im Kreuzverhör? Mit einem Gör wie dir werde ich das bestimmt nicht besprechen. Ich will…“ Weiter kam er nicht, denn Kim rief: „Chidi, der Kerl will Ärger machen, hilf mir mal!“ Orpheus verstummte prompt, angesichts des Schwarzen, der ungefähr anderthalb Köpfe größer und auch nicht so schmächtig war, wie er. Erst wurde er ein wenig bleich um die mit Sommersprossen gespickte Nase, dann lachte er allerdings wieder und prustete: „Eins muss man dir lassen, Kleine, gelogen hast du nicht. Aber wenn du mich von Bord wirfst, könnte das schlechte Auswirkungen für dich haben. Sagt mein Name dir denn gar nichts?“ Kim schüttelte den Kopf, überlegte aber angestrengt, ob sie sich nicht doch an irgendetwas erinnern konnte. Als ihr nichts einfiel, schaute sie der Andere fassungslos an und meinte: „Ich glaube, ich muss mal mit Genitson reden, seine Mannschaft müsste mal auf Vordermann gebracht werden. Erst finde ich hier ein Weib vor, um nicht zu sagen ein Gör und dann weiß das Ding noch nicht einmal, wer ich bin!“ Er schüttelte den Kopf und Kim fragte skeptisch, Chidi zurückhaltend, der dem Fremden am liebsten eine runtergehauen hätte: „Was hast du mit Jon zu schaffen?“ Gerade in diesem Moment kam Jon von unter Deck und als er sie sah, ging er schnurstracks auf sie zu, legte Orpheus einen Arm um die Schulter und meinte: „Wie ich sehe, habt ihr euch schon bekannt gemacht.“ Orpheus nahm Jons Hand mit zwei Fingern und hob sie von seiner Schulter, als wäre sie etwas Widerliches. Dieser allerdings lachte und rempelte ihn ein wenig an. Kim meinte skeptisch: „Ich weiß wie er heißt, aber nicht, wer er ist. Und da ihr euch anscheinend so gut versteht, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn mich jemand aufklären würde.“ Jon sah sie verwundert an und fragte: „Du weißt seinen Namen aber nicht, wer er ist? Das ist Orpheus McQuilligan, Captain der Black Cross und noch drei weiterer Schiffe hast du wirklich noch nie von ihm gehört?“ Ihre Augen weiteten sich. Der Kerl war Kapitän von vier Schiffen und sie war so respektlos mit ihm umgesprungen. Sofort entschuldigte sie sich: „Oh mein Gott, Mister McQuilligan, es tut mir schrecklich Leid, dass ich Euch so respektlos begegnet bin. Bitte verzeiht meine Überheblichkeit.“ Der Angesprochene lachte auf und schnaubte: „Also sobald sie weiß, um wen es geht, hat sie ja doch Manieren. Es sind zwar nicht die Manieren einer feinen Dame der Gesellschaft, aber doch besser als die üblichen rüden Piratensitten.“ Jon, der verstanden hatte, dass Kim ihm nicht mit gebührendem Respekt begegnet war, sagte: „Sieh es ihr nach, sie hat erst kürzlich einen guten Freund verloren.“ „Ja, ja, das Geschäft ist hart. Apropos Geschäft, gerade darüber wollte ich mit dir sprechen, Ich konnte noch Stephens, mit der Revenge und Loft mit der Adventage für unsere Sache gewinnen. Wie steht es mit dir, Genitson?“ „Nur Dark Lou mit der Bane, aber lass uns das doch in meiner Kajüte besprechen.“ Orpheus nickte und sie gingen zur Treppe, die unter Deck führte. Eine Weile stand Kim verdutzt da. Chidi war, als Jon gekommen war, wieder von dannen gezogen. Gerade als Jon hinabsteigen wollte, hatte sich Kim doch wieder gefasst und rief: „Warte, Jon! Um was geht es denn eigentlich?“ Er hielt inne und meinte: „Das erfährst du schon noch früh genug.“ „Aber ich will es jetzt wissen! Wer sind Stephens, Loft und Dark Lou? Und für welche Sache konntet ihr sie gewinnen?“ „Kim, bitte, muss das jetzt…“ Aber Orpheus McQuilligan legte ihm eine Hand auf die Schulter, lachte Kim an und sagte: „Eigentlich hat der gute Genitson Recht, du wirst es noch früh genug erfahren, aber wenn du es unbedingt jetzt wissen willst, dann kannst du natürlich mitkommen.“ Jon schien nicht allzu begeistert von dem Vorschlag zu sein, denn er fragte ihn: „Bist du sicher? Ich denke, je weniger davon wissen, desto größer ist die Chance, dass alles glatt verläuft.“ Orpheus allerdings schlug ihm lachend auf die Schulter und sagte an Kim gewandt: „Hör nicht auf ihn, komm einfach mit.“ Diesen Worten konnte sie einfach nicht widerstehen und so folgte sie den Beiden in Jons Kajüte. Jon bot Orpheus den zweiten Stuhl an und nickte anschließend zu seinem Bett, um Kim zu bedeuten, dass sie sich draufsetzen sollte. Er selbst machte es sich auch bequem und sagte dann: „Also, du hast Stephens und Loft an Bord geholt, und ich Dark Lou, davor hatten wir schon Joel Grasser und Thomas Elbersaw auf unserer Seite. Weißt du eigentlich, wo sich der Kerl momentan aufhält? Ich habe nämlich gehört, dass er oft seinen Standort wechselt.“ „Nun ja, ich habe gehört, er soll auch hier in den Bahamas sein Unwesen treiben, schließlich sind in letzter Zeit verhältnismäßig viele Piratenschiffe verschwunden. Die meisten schieben es auf das Bermudadreieck, aber dann müssten auch andere Schiffe verschwinden, was seit kurzem allerdings nicht mehr der Fall ist.“ Nun mischte sich Kim ein, die kein Wort verstand: „Halt, stopp, Moment! Von wem oder was redet ihr eigentlich? Und was ist bitte dieses Bermudadreieck?“ Einen Moment musterte Orpheus sie verwundert, dann lachte er: „Nein! Sag mal, Genitson, weiß dieses Mädchen wirklich nicht, was das Bermudadreieck ist?“ Jon stützte die Stirn in die Hände und schüttelte resignierend den Kopf. Der andere kriegte sich nur schwer wieder ein und begann zu erklären: „Mann, Kleine, du willst Pirat sein und weißt noch nicht mal vom Bermudadreieck? Erbärmlich. Aber was soll’s. Im Bermudadreieck verschwinden einfach so Schiffe, aus heiterem Himmel. Niemand weiß wie oder warum, sie sind einfach weg. Wie vom Erdboden, oder besser gesagt, vom Meer verschluckt. Man findet keine Wracks oder Überlebende, beziehungsweise Leichen. Manche sagen, dass Seelenhändler dort ihr Werk verrichten, andere wiederum, dass es für all das logische Erklärungen geben muss, aber wenn du diejenigen danach fragst, passen sie. Vielleicht sind dort aber auch einfach enorm viele Meerjungfrauen und dergleichen, also sieh dich vor, wenn du in diesen Gewässern eine siehst, sie könnte das letzte sein.“ Sein Tonfall hatte sie ein wenig erschreckt und die ganze Angelegenheit an sich war so unheimlich, dass eine Gänsehaut sie überkam. Jon, der insgesamt ziemlich genervt war, sagte: „Meine Güte, McQuilligan, jetzt mach ihr doch keine Angst. Dafür gibt es eine logische Erklärung.“ Mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen, fragte dieser: „Und die wäre?“ „Ehm, nun ja, es gibt bestimmt Leute, die eine haben.“ Orpheus Blick wanderte zu Kim und sein Grinsen wurde noch diabolischer. „Siehst du?“ Kim, die nicht zugeben wollte, dass es sie gegraust hatte, fragte weiter: „Und von wem redet ihr, der auch hier in den Bahamas ist? Und was hat das Bermudadreieck mit ihm zu tun?“ Der Rotschopf hatte sein Grinsen gerade abgelegt, da zuckten seine Mundwinkel erneut und in Furcht einflößendem Tonfall fuhr er fort: „Glaub mir, Kleine, das ist kein Kerl, dem du bei Nacht und Nebel begegnen willst. Diejenigen, die ihn schon einmal gesehen haben, sagen, dass ihn eine unheimliche Aura umgibt. Es soll einem so kalt werden, dass man denkt, die Flammen der Hölle könnten vereisen. Außerdem waren Besagte nach der Begegnung wie ausgewechselt, sehr schreckhaft, schon fast paranoid…“ Jon, den das gesamte Gespräch ziemlich nervte, unterbrach ihn: „Bitte, McQuilligan, nimm es mir nicht übel, wenn ich dich korrigiere, aber ich glaube fast, du verwechselst den realen Folkhorn mit der Sage des Cornrocks. Kim, glaub ihm kein Wort, bis auf das mit dem Begegnen, denn als Pirat willst du ihm sicher nicht begegnen.“ Allmählich kam Kim sich verschaukelt vor und sie fragte nachdrücklich: „Und wer ist dieser Folkhorn jetzt?“ „Nun lass mich doch ausreden, Lilay. Also, dieser Folkhorn ist Freibeuter. Das bedeutet, er hat einen Kaperbrief von der Regierung. Normalerweise sind diese Kaperbriefe gegen Handelsschiffe feindlicher Nationen ausgestellt, um den Feinden auch in Friedenszeiten Schaden zuzufügen. Dieser Schweinehund hat ihn sich allerdings zu einem anderen Grund anfertigen lassen und zwar hat er damit die offizielle Berechtigung die Schiffe anderer Piraten zu kapern und wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Und da kommen wir ins Spiel. Uns passt es natürlich gar nicht, dass so ein Kerl gezielt Piratenschiffe versenkt und damit auch noch Erfolg hat. Deswegen schließen McQuilligan, ich und noch einige andere Kapitäne uns zusammen, um dem Lump den Gar aus zu machen.“ Kim ließ sich das ganze noch einmal durch den Kopf gehen und fragte dann etwas unsicher: „Und wie wollt ihr das machen?“ „Das wollten wir gerade besprechen.“, lächelte Jon. Als keiner der beiden Männer etwas sagte, da sie anscheinend nachdachten, fragte Kim: „Wie viele Schiffe, beziehungsweise Leute hat er denn?“ Jon und Orpheus warfen sich einen fragenden Blick zu, dann antwortete Jon: „Er hat nur ein Schiff und ich denke, es müssten so um die 50, 60 Mann Besatzung sein.“ „Hm, nicht unbedingt viel oder?“ „Mag sein, aber dafür sind in seiner Crew nur ausgezeichnete Kämpfer und Strategen. Außerdem ist sein Schiff unglaublich schnell und wendig. Er hat nun mal die Unterstützung der Regierung.“ „Und wenn er landet? Wohin geht er dann? Hat er ein festes, wie soll ich sagen, Hauptquartier? Oder wechselt er seinen Standort ständig?“ Jon wollte gerade antworten, da fiel Orpheus ihm ins Wort: „Warum willst du das eigentlich alles wissen, Kleine? Dir könnte das doch eigentlich egal sein.“ Mit der Zeit war sie von McQuilligan genervt und entgegnete: „Es ist mir nicht egal und ich will jetzt meine Antwort, McQuilligan.“ Als sie seinen Namen so respektlos ausgesprochen hatte, schnaubte er vor Wut und setzte schon an, zu Brüllen, da hielt Jon seinen Arm vor die Brust des Anderen, schüttelte leicht den Kopf und sagte an Kim gerichtet: „Auch wenn du McQuilligan nicht sonderlich sympathisch findest, solltest du ihm mit mehr Respekt begegnen, schließlich ist seine Mannschaft weitaus größer als unsere und nicht zuletzt ist er ein guter Freund meinerseits.“ Orpheus rollte nur mit den Augen und zischte: „Nicht sympathisch? Pah! Im Gegensatz zu manchen anderen Personen in diesem Raum bin ich äußerst anziehend.“ Natürlich hatte Kim diesen Kommentar nicht überhört und brauste auf: „Was willst du damit sagen? Gegen dich bin ich eine wahre Tropenschönheit!“ Nun wurde auch Orpheus laut: „Wer hat denn gesagt, dass ich dich meine?“ Kim sprang auf und brüllte zurück: „Du blödes Trampeltier, gesagt hast du es zwar nicht, aber dumm bin ich auch nicht! Und wo bist du denn bitte anziehend? Wegen deinen blauen Augen? Die sind nur so stechend, weil deine Haare orange, die Komplementärfarbe zu blau, sind. Und dein Körper lässt auch zu wünschen übrig, ich meine nämlich schon den Ansatz eines Bierbauches erkennen zu können!“ „Wo ist hier bitte ein Bierbauch?“ Er zog sein T-Shirt aus und präsentierte seinen muskulösen Oberkörper. Daraufhin grinste er: „Aber ich glaube, du hast ein paar fiese Speckröllchen zu viel auf den Hüften.“ Ohne ein Wort zu erwidern knöpfte Kim die Bluse von unten her so weit auf, dass man ihren flachen Bauch sehen konnte und drehte sich noch ein wenig. Schließlich knöpfte sie die Bluse wider zu und fragte: „Na? Zufrieden? Du blöder Idiot, nur weil du ein paar mehr Muskeln hast als ich, musst du noch längst nicht so grinsen!“ Immer noch grinsend antwortete er: „Wer sagt denn, dass ich deswegen grinse? Ich finde es nur schön, wenn sich eine Frau auszieht, ohne Geld dafür zu verlangen.“ „Igitt! Ekelhafter Perverser! Ohne, dass du Geld bezahlst kriegst du wohl keine Frau, was mich allerdings auch nicht sonderlich wundert!“ „Hey, ich bin zwar so einiges, aber mit Sicherheit nicht pervers! Und ich war schon verheiratet, ganze zweimal!“ „Was für hässliche Bauerntrampel haben sich denn überreden lassen, dich zu heiraten? Oder hast du ihnen einfach genug Alkohol eingeflößt?“ „Keinen Tropfen! Aber ich lasse nicht zu, dass du meine Ehen beleidigst, schließlich waren das die schönsten Jahre meines Lebens!“ „Die Frauen haben es wirklich mehrere Jahre mit dir ausgehalten? Müssen ja ziemlich zäh gewesen sein, die Guten.“ „Auf jeden Fall zäher als du, dich Klappergestell würde ja schon ein kleiner Klaps auf den Hintern umbringen oder dir zumindest sämtliche Knochen brechen.“ „Dann waren deine so hoch gepriesenen Ehefrauen also alle beide fett?“ „Wer redet denn hier von Fett? Ich habe nun einmal gerne etwas in den Händen und das müssen nicht unbedingt Knochen sein.“ Anstatt sofort zu antworten, streckte sie ihm zuerst die Zunge heraus und sagte dann: „Ob du mich attraktiv findest, ist mir ehrlich gesagt so was von egal!“ Bei diesen Worten stützte Jon nur noch den Kopf in die Hände. Er wusste, dass es jetzt zu spät war, um die Beiden auszubremsen, denn sie waren inzwischen richtig in Fahrt. Und wie zur Bestätigung brüllte Orpheus: „Das sollte es aber nicht, schließlich bin ich Captain der Black Cross, der Toxic, der Voluña und nicht zuletzt der Kimberley!“ Erst blinzelte Kim ihn ungläubig an, dann fragte sie: „Dein Schiff heißt so wie ich?“ „Was heißt so wie du? Vielleicht bist du ja giftig, aber dass deine Eltern dich deswegen gleich so nennen müssen? Armes Kind.“ „Ich heiße doch nicht Toxic, sondern Kimberley von Merrylson.“ „Was? Warum hast du mir nicht gesagt, dass die Kleine wie mein zweites Flaggschiff heißt, Genitson?“, fragte McQuilligan beleidigt. Jon seufzte: „Ich hielt das für irrelevant, Namen sind doch Schall und Rauch.“ Doch der Rotschopf protestierte heftig: „Von wem hast du das denn? Der Name macht die Kleine erst attraktiv, obgleich sie noch längst nicht so gut aussieht wie meine Kimberley.“ „Blödmann!“, kam es prompt von Kim und McQuilligan fragte: „Was hast du denn? Ich habe dir doch ein Kompliment gemacht.“ „Und was für eins! Aber von einem Kerl wie dir kann man wohl kaum mehr erwarten.“ Und so ging das Gezanke erneut los. Jons Schlichtungsversuche scheiterten kläglich und so sah er sich gezwungen McQuilligan von Bord und Kim aus seiner Kajüte zu werfen, damit er endlich seine Ruhe hatte. In dieser Nacht schlief Kim sehr unruhig, denn sie wurde immer wieder von Träumen an Leo geweckt. Als der Morgen graute wachte sie gerade wieder auf und setzte sich auf die Bettkante. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Schweißnasse Stirn und ließ den Blick durchs Zimmer streifen. Erst stockte ihr der Atem, dann holte sie tief Luft zum schreien, da legte er den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen. Dort, in der Ecke ihr gegenüber, saß ein junger Mann; strohblondes Haar, Augen so blau und tief wie das Meer und er sagte, sich aufrichtend: „Nicht schreien, sonst wachst du noch auf. Ich habe dir nämlich noch etwas Wichtiges zu sagen.“ Kim fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und schüttelte ihn heftig, dabei murmelte sie. „Nein! Nicht schon wieder so ein Albtraum! Verschwinde, Leo ist tot!“ Inzwischen war er an ihr Bett getreten und legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter. Langsam sagte er: „Ja, ich bin tot, aber dieses eine Mal kann ich noch mit dir sprechen, also hör bitte gut zu.“ Kim hob den Kopf und sah ihn sie milde anlächeln. „Und was willst du mir sagen?“ „Es geht um den Piratenjäger…“ „Was ist mit ihm?“, unterbrach Kim ihn rüde. Er schmunzelte und fuhr fort: „Du lässt einen einfach nicht ausreden, selbst wenn man tot ist.“ Auf ihre schuldbewusste Miene hin, fügte er allerdings hastig hinzu: „Aber das ist ja jetzt vollkommen egal. Noch einmal zu diesem Piratenjäger, keine Ahnung, wie der Kerl heißt…“ „Folkhorn.“, unterrichtete Kim ihn. „Was?“, fragte er etwas verwirrt, da sie ihn nun schon zum zweiten Mal aus dem Konzept gebracht hatte und sie erklärte: „Der Kerl über den wir reden heißt Folkhorn.“ „Ach so, danke. Also wenn ihr in einer Woche lossegelt und immer in Richtung Osten, werdet ihr zwei Wochen nach Verlassens New Providence auf ihn treffen. Er wird auf der Junivo sein und…“ „Warte!“ Sie sprang auf und ging an die kleine Kommode, um sich etwas zum Schreiben zu holen, doch Leo lachte: „Lass nur. Erstens hat das, was wir hier machen keinerlei Auswirkungen auf die Realität und zweitens sorge ich dafür, dass du morgen Früh noch alles weißt und nichts vergisst.“ „Und wie willst du das machen?“, fragte sie verwirrt und musterte ihn skeptisch. Seine Mundwinkel umspielte ein wissendes Lächeln, das Kim eine Gänsehaut bescherte und er meinte: „Lass das mal meine Sorge sein, aber ich wollte dir noch etwas erzählen. Und zwar, dass Jon mit seiner Schätzung ziemlich falsch lag. Folkhorn hat nämlich nicht nur ein, sondern drei Schiffe, die Delivery, die Fancy und die Junivo. Er hat auch ein paar mehr Besatzungsmitglieder als nur fünfzig. Um genau zu sein, befinden sich 104 Seelen auf den drei Schiffen. Ihr solltet euch auf jeden Fall an McQuilligan halten. Dark Lou, Grasser, Elbersaw und Loft könnt ihr auch vertrauen, aber bei Anderen würde ich Vorsicht walten lassen, denn wie heißt es doch so schön? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und bei diesem Unterfangen könnt ihr keine Deserteure, Spione und Verräter gebrauchen, wobei ich mir bei Joel Grasser nicht so sicher bin, ob er euer Vorhaben bis zum Schluss miterleben wird. Und jetzt sorge ich dafür, dass du alles behältst und auch ja kein Detail vergisst.“ Er kam auf sie zu und langsam näherten sich seine Lippen den ihren. Doch sie schrak zurück und fragte verwirrt: „Was machst du denn da?“ „Ich will dich küssen.“ Erneut kam er ihr näher und erneut tat sie eine Schritt zurück und fragte: „Und warum? Wir sind schon über ein Jahr nicht mehr zusammen, du bist tot, beziehungsweise eine Vision und außerdem wolltest du doch gerade dafür sorgen, dass ich nichts von dem vergesse, was du mir gesagt hast!“ Er küsste sie sanft und lächelte: „Das tue ich doch gerade.“ Sie blinzelte verwirrt, denn in dem Moment, in dem sich ihre Lippen, wenn auch nur flüchtig, berührt hatten, hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre ein Teil seines Wissens, seiner Erinnerung, seines Seins in sie übergegangen und es hatte sich schön angefühlt. Leo nutzte ihre Verwirrung und küsste sie. Sanft drückte er sie in die Laken ihres Bettes und sie fühlte sich gut. Als sie die Augen aufschlug und sah, dass ihre Kajüte von den Sonnenstrahlen, die durch ihr kleines Bullauge einfielen, erhellt war, sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf. Alles, sie wusste alles, was Leo gewusste hatte. Etwas neben sich stehend griff sie in eine Schublade ihrer Kommode, holte ein Band daraus und zähmte damit ihre Haare, die ihr nach dieser unruhigen Nacht immer wieder widerspenstig ins Gesicht fielen. Langsam wurden ihre Gedanken wieder klarer und sie beschloss gleich mit Jon über ihr Wissen über Folkhorn zu reden. In kurzer Zeit hatte sie sich gerichtet und ging zu Jons Kajüte. Als auf ihr Klopfen hin allerdings niemand antwortete, trat sie ein und fand die Kabine leer vor. Kurz entschlossen ging sie an Deck und fragte Laffite, der ihr gerade entgegen kam, ob er wüsste, wo Jon war. Dieser grinste: „Er hat gesagt, dass er zu McQuilligan geht. Außerdem sollte ich dir das auf keinen Fall sagen und wenn du es doch herausfinden solltest, soll ich auf keinen Fall zulassen, dass du nachkommst.“ Kurz angebunden bedankte sich Kim und wollte gerade losgehen, da fragte Laffite: „Und wohin willst du jetzt?“ „Na zum guten alten Orpheus McQuilligan.“, lachte sie. Die Black Cross hatte gewisse Ähnlichkeit mit der Vengeance, doch brachte sie Kim dennoch nicht zum Staunen. Kim fand sich auf ihr relativ gut zurecht, da sie in etwa so aufgebaut war wie die Vengeance. Als sie zögerlich anklopfte wurde ihr geantwortet und sie öffnete schüchtern die Tür. Drinnen saßen um einen Tisch herum sieben Männer. Kim kannte nur Jon und McQuilligan, doch sie vermutete, dass die anderen fünf Stephens, Loft, Grasser, Elbersaw und Dark Lou sein mussten. Jon seufzte genervt: „Was willst du?“ Noch eingeschüchterter, da sie alle, außer McQuilligan, der ihr freudig zuwinkte, mürrisch musterten, sagte sie: „Ich muss dich sprechen, möglichst unter vier Augen.“ Leicht verstimmt erhob er sich und folgte ihr aus der Tür, die er hinter sich schloss. Er knurrte: „Ich hoffe, dass es wichtig ist, denn diese Besprechung ist es nämlich und…“ Er stockte, musterte sie skeptisch und fuhr mit dem Daumen seiner rechten Hand immer wieder über eine Stelle ihres Halses. Verwirrt fragte er: „Wo hast du denn den her? Es tut mir ja Leid, aber für Liebeskummer und dergleichen habe ich im Moment wirklich keine Zeit.“ „Wie kommst du denn darauf, dass ich Liebeskummer habe?“ „Wie komme ich wohl darauf? Allein der Knutschfleck an deinem Hals spricht Bände!“ „Knutschfleck?“ Verwirrt zückte sie ihren Taschenspiegel und stellte bestürzt fest, dass sie tatsächlich einen riesengroßen Knutschfleck hatte. Sie sog scharf die Luft ein und murmelte: „Dieser Bastard! Er hat doch gesagt, es hätte keinerlei Auswirkungen auf die Realität, dann hätte ich mir das ganze ja auch aufschreiben können…“ „Von was redest du eigentlich? War das alles, was du mir zeigen wolltest? Dann kann ich ja auch wieder reingehen.“ Sie fasste ihn am Handgelenk und rief: „Nein, warte! Das war nicht, was ich dir sagen wollte, mein Anliegen ist wirklich wichtig.“ „Dann komm endlich auf den Punkt!“ „Ich hatte eine Vision.“ Eine Weile lang schwieg er, dann fragte er: „Um was ging es?“ „Leo war da.“ „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte er ungeduldig und wollte sich gerade wieder umdrehen, da umfasste sie sein Handgelenk noch fester und sagte: „Es geht um Folkhorn, wir müssen in einer Woche ablegen und dann…“ „Bist du dir sicher, dass das stimmt?“ Sie nickte. Jon legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Dann komm mit rein und erzähl es uns allen.“ Langsam schüttelte Kim den Kopf und auf Jons fragenden Blick hin erläuterte sie: „Ich rede nur mit dir, McQuilligan, Loft, Elbersaw und Dark Lou, von mir aus auch mit Grasser.“ Etwas verwirrt hinterfragte Jon: „Und warum nicht mit Stephens?“ hart sagte Kim: „Weil Leo gesagt hat, wir können nur McQuilligan, Loft, Grasser, Elbersaw und Dark Lou vertrauen.“ Jon überlegte kurz, dann öffnete er die Tür und donnerte: „McQuilligan, rauskommen!“ Dieser sprang wie vom Blitz getroffen auf und rief, stramm stehend, als wäre er bei der Marine: „Ai Sir!“ Bis ihm jedoch wieder einfiel, dass er Captain von vier Piratenschiffen war und längst keinem Offizier der Marine mehr unterstand. Knurrend, weil er sich lächerlich gemacht hatte, kam er zu den beiden und Jon schloss hinter ihm wieder die Tür, bevor er sagte: „Wir müssen Stephens loswerden.“ Leicht überrascht fragte McQuilligan: „Warum das denn? Bis jetzt war er doch sehr engagiert.“ „Der Schein trügt, vertrau mir einfach, ich weiß schon, was ich tue.“ McQuilligan hob die Brauen und entgegnete: „Ich glaube eher, sie weiß, was du tust.“ Er nickte zu Kim. „Vorhin warst du nämlich auch noch recht angetan von ihm und bevor ich irgendwen von meinem Schiff werfe, möchte ich einen guten Grund haben.“ Jon wollte gerade etwas sagen, da rief Kim aus: „Bitte, Orpheus, du musst uns einfach vertrauen! Wenn ich dir den Grund sagte, würdest du mir sowieso nicht glauben.“ Genervt gab er zurück: „Na Also! Mir ist es auch ehrlich gesagt völlig egal, weil Weiber hier ohnehin nichts zu sagen haben. Und Gören wie du schon gar nicht.“ Kim stieß die Luft aus und stierte ihn feindselig an. Doch er zuckte mit den Schultern und meinte: „Du brauchst gar nicht so böse zu schauen, das macht nur Falten. Und zu dir, Genitson, du kannst dich jetzt entscheiden, ob du wieder mit hereinkommst, oder du mit der Kleinen gehst. Aber sorg endlich dafür, dass du wieder die Hosen anhast!“ Kim allerdings protestierte: „Wenn du Stephens schon nicht rausschickst, dann komme ich mit rein!“ „Kommt nicht in Frage!“ „Oh doch! Ich bin ein Mannschaftsmitglied wie jedes andere und bei uns geht es demokratisch zu, also habe ich ein Recht darauf, bei dieser Besprechung dabei zu sein!“ „Aber…“ „Kein Aber! Ich komme mit rein!“ Jon schmunzelte und raunte McQuilligan beim Durchschreiten der Tür zu: „Wie war das noch gleich mit den Hosen?“ Dieser rollte mit den Augen und wollte sich gerade wieder setzen, da murmelte er: „Irgendetwas ist anders.“ Kim ließ sich kurzerhand auf McQuilligans Bett nieder und musterte die fünf Fremden skeptisch, da brüllte dieser: „Meine Uhr! Meine silberne Taschenuhr! Wer von euch hat sie genommen?“ Er funkelte jeden einzelnen der Anwesenden wütend an. Kim und Jon warfen sich einen fragenden Blick zu und als nächstes fiel Jons Blick auf Stephens. Er sah zu McQuilligan, der wutschnaubend vor ihnen stand und wieder zu Stephens, den das anscheinend ziemlich kalt ließ. Auch Kim schaute zu Stephens. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, hatte dunkles Haar und genauso dunkle Augen. Sein Gesicht war recht markant, aber ansonsten sah er eigentlich freundlich aus. Kim fragte sich gerade, ob er wirklich ein Verräter war, da brüllte McQuilligan: „Leert eure Taschen! Den Inhalt legt ihr hier auf den Tisch!“ die Männer musterten ihn skeptisch, doch als er schrie: „Wird’s bald?“ leerten sie Einer nach dem Anderen ihre Taschen. Erst ein blonder Mann Mitte zwanzig, er hatte nur etwas Tabak, Papierchen, um sich Zigaretten zu drehen, Streichhölzer und eine recht gut gefüllte Geldbörse. Der nächste hatte schwarze Haare und stechend grüne Augen. In seinen Taschen befand sich zwar eine Taschenuhr, doch sie war golden und offensichtlich war es nicht die McQuilligans. Auch der Dritte, groß und schlaksig von der Statur und mit dunklen Ringen unter den Augen, hatte nur ein paar Utensilien zum Zigarettendrehen und seine nicht ganz so prall gefüllte Geldbörse. Als McQuilligan fordernd auf den Nächsten in der Reheinfolge sah, legte der, offensichtlich etwas nervös, eine Geldbörse und ein kleines Silbernes Kettchen mit einem aufklappbaren Anhänger in Herzform auf den Tisch. Jon hatte auch nur seine Geldbörse und ein besticktes Taschentuch bei sich. Stephens allerdings legte nicht alles aus seiner Tasche auf den Tisch, was allerdings nur Kim sehen konnte. Schnell fragte sie: „Und was, wenn einer von ihnen noch etwas einfach in den Taschen gelassen hat?“ Ruppig schallte McQuilligan: „Aufstehen!“ Kopfschüttelnd taten die fünf wie ihnen geheißen. Stephens allerdings wurde etwas nervös, denn er trat unruhig von einem auf den anderen Fuß. Orpheus befühlte bei jedem die Taschen, doch als er gerade bei Stephens beginnen wollte, sagte dieser: „Und was ist mit dem Mädchen? Sie hätte deine Uhr doch auch nehmen können.“ McQuilligans Blick fiel auf Kim, die müde lächelte, aufstand, zu ihm ging und sagte: „Durchsuch mich ruhig, ich habe rein gar nichts zu verstecken.“ Das ließ sich der Rotschopf nicht zweimal sagen und er begann sie abzutasten. Aller Augen waren auf sie gerichtet und als Stephens sich sicher fühlte, griff er in seine Tasche. In diesem Moment flüsterte Kim: „Wirf mal einen kurzen Blick auf Stephens, McQuilligan.“ Dieser hielt ihre Hände fest, damit sie, falls sie die Uhr hatte, sie auf keinen Fall einfach weglegen konnte und drehte den Kopf. Als er sah, dass Stephens seine Uhr in der Hand hielt und sie gerade zu den Sachen des blonden Mannes legen wollte, brüllte er: „Du Bastard! Dich bring ich um!“ Er wollte gerade losstürmen, da hielten Jon und der Schwarzhaarige ihn mit aller Kraft zurück. Der Blonde nahm ihm die Uhr ab und Stephens drehte sich so schnell er konnte um und stürmte aus der Kajüte. Kim grinste: „Na? Glaubst du mir jetzt endlich?“ Als Antwort bekam sie nur ein mürrisches Knurren und Jon und der Schwarzhaarige ließen ihn vorsichtig wieder los. Er setzte sich auf seinen Platz und als Kim wieder aufs Bett zusteuerte, murmelte er: „Setz dich doch zu uns.“ Mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen ließ sie sich auf dem Platz nieder, auf dem zuvor noch Stephens gesessen hatte. McQuilligan wurde wieder lauter und sagte: „Kim, das sind Dark Lou,“ Der schwarzhaarige stand auf und deutete eine Verbeugung an, auf die Kim mit einem Nicken antwortete. „Loft,“ Auch dieser stand auf und deutete eine Verbeugung an, die Kim abermals mit einem Nicken beantwortete „Grasser,“ der große Mann mit den Ringen unter den Augen stand auf „und Elbersaw.“ Nun nickte ihr der Mann zu, der eben noch so nervös gewirkt hatte, er hatte eine große Nase, große Kotletten, war insgesamt nicht gut rasiert und hatte dunkelblondes Haar. Dann fuhr Orpheus fort: „Und nun erzähl uns, was du weißt.“ Bevor sie begann zu sprechen musste sie noch einmal an Leo denken und schmunzelte leicht, doch schnell sagte sie: „Folkhorn hat drei Schiffe. Die Delivery, die Fancy und die Junivo. Insgesamt hat er 104 Mann an Bord der drei Schiffe und ich weiß auch, wie wir ihn erreichen können…“ „Und woher weißt du das so genau?“, fragte Loft misstrauisch. Kim, leicht vor den Kopf gestoßen, da sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, kam ins Stottern, bis Jon gelassen sagte: „Sie weiß es einfach und damit sollten wir uns zufrieden geben.“ Lofts Augen verengten sich zu Schlitzen und er zischte: „Und wenn sie nun auf zwei Seiten steht?“ Nun doch erzürnt erhob sich Jon, stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu Loft und zischte: „Willst du damit sagen, dass ich auf Seiten dieses Dilettanten bin?“ Der Blonde hob abwehrend die Arme und sagte: „Von dir war nie die Rede, ich würde es mir nie herausnehmen, etwas gegen dich zu sagen.“ „Aber Kim ist ein Mitglied meiner Mannschaft und wenn du einen von ihnen beschuldigst, beschuldigst du auch mich. Außerdem, wie hätte sie das denn anstellen sollen, schließlich war sie die ganze Zeit bei mir auf dem Schiff.“ Kim legte Jon die Hand auf den Arm und flüsterte: „Lass doch, im Prinzip hat er doch Recht, schließlich ist es schon merkwürdig, dass ich all das weiß.“ Starrköpfig brummte Jon: „Trotzdem!“ Kim allerdings überhörte diesen Kommentar und fuhr fort, während Jon sich wieder setzte. „Wie gesagt, zu seiner Crew zählen 104 Mann. Wenn wir ihn erreichen, wird er auf der Junivo sein, obwohl die Delivery sein Flaggschiff ist. Wir müssen in einer Woche ablegen und immer Richtung Osten segeln, dann werden wir ihn in drei Wochen haben.“ Erst waren alle Blicke ungläubig auf sie gerichtet, dann sahen sie fragend zu Jon und der, sich wieder angegriffen fühlend, knurrte: „Ich lege für die Richtigkeit ihrer Worte meine Hand ins Feuer.“ Nach diesen Worten begannen die anderen angeregt zu debattieren, was sie noch alles brauchten, wann sie es ihren Mannschaften eröffnen würden und alle diese Dinge. Jon und Kim allerdings hielten sich elegant im Hintergrund. Kim lächelte ihm dankbar zu und er klopfte ihr wortlos auf die Schulter. Es kam ihr vor, als ob die Woche gar nicht vergehen wollte. Immer wieder dachte sie an Leo und wie er sich wahrscheinlich auf den Kampf gefreut hätte. Ihre Freunde waren ihr auch keine große Hilfe um die Zeit zu überbrücken, denn immer wenn sie zu ihnen kam, kippte die Stimmung und sie warfen ihr nur noch mitleidige Blicke zu. Wenn sie abends in ihrem Bett lag, konnte sie kaum einschlafen, da sie immer hoffte, ihn noch einmal zu sehen und dieser Gedanke hielt sie dann meistens die halbe Nacht wach, was sehr unvorteilhaft war, da diese Woche noch unglaublich viel gemacht werden musste. Daher musste sie auch ziemlich früh aufstehen, was ihr natürlich gar nicht passte. An einem Tag mussten sie dann auch noch die Schiffe Kielholen, damit sie nicht irgendwann, mitten auf See, untergingen. Auch als sie ablegten wurde es nicht besser. Sie hatte das Gefühl, als stünde die Zeit und jede Minute würde eine Ewigkeit brauchen, um zu verstreichen. Doch wenigstens am letzten Abend der ersten Woche konnte sie sich von diesem ewig gleich bleibenden Trott lösen, denn Silvestro feierte in seinen 30. Geburtstag, was alle als willkommene Abwechslung zum sonst so rauen Leben auf dem Meer annahmen, denn ihr Kapitän, hielt im Großen und Ganzen nichts von Alkohol auf hoher See. Bei Geburtstagen allerdings machte er ab und an Ausnahmen. Kim zog es vor am Anfang noch nichts zu trinken, da sie sich nicht ganz wohl fühlte. Ein angenehmer Nebeneffekt dessen war, dass sie so nach nun mehr zwei Wochen endlich wieder etwas zum Lachen hatte, denn wenn die harten Männer Alkohol genossen, verwandelten sich die meisten von ihnen in lustige Kumpanen. Und waren sie sonst noch so berührungsängstlich, wurde hier der Eine umarmt und dort dem Anderen der Arm um die Schultern gelegt, ganz vorne mit dabei natürlich Aodh. Als einige von ihnen dann auch noch begannen Tango und Cancan zu tanzen, konnte sie nicht mehr. Ihr Bauch tat ihr schon weh vor lauter Lachen. Kim hatte sich gerade wieder gefasst und eine Lachträne weggewischt, da tippte ihr jemand auf die Schulter und als sie sich umdrehte, sah sie in das Gesicht eines der Neuen an Bord. Sie schätzte ihn auf Ende 18. Sein Haar war dunkel und gewellt, im Nacken bedeckte es das obere Ende seines Halstuches. Er hatte khakifarbene Cargo-Shorts und ein weißes Hemd an, das er nicht zugeknöpft hatte, sodass Kim seinen muskulösen Oberkörper sehen konnte, was bei Piraten allerdings nichts Ungewöhnliches war. Etwas verwundert fragte sie: „Ja?“ Die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen des Jungen Mannes blitzten auf und er lächelte: „Ich wollte mich mal mit dir bekannt machen, ich bin Juanito.“ Immer noch leicht verwirrt entgegnete sie: „Hi, ich bin Kim, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das soll.“ Etwas verunsichert durch ihre abweisende Art sagte er: „Du bist mir schon gleich aufgefallen, als ich letzte Woche angeheuert habe. Kommst du auch aus Spanien? Deine Haut ist nämlich dunkler, als die der Briten oder Franzosen.“ „Nein, ich komme aus Brasilien. Kommst du aus Spanien?“ „Ja und nein. Ich habe in meiner Jugend bei meiner Mutter in Spanien gelebt, aber dann wollte ich nach Amerika, um meinen Vater zu suchen. Ich bin nämlich ein Bastard, musst du wissen.“ Sie nickte und er fuhr fort auf sie einzureden. Das ganze Gespräch über, das an sich nur einseitig existierte, nickte sie freundlich, war mit ihren Gedanken aber nicht bei der Sache. Wenn Leo gesehen hätte, dass dieser Juanito sie so dermaßen langweilte, hätte er schon längst eine Prügelei mit ihm angezettelt. Sie schnappte nur hin und wieder Fetzen dessen auf, was er da gerade von seinem Leben erzählte und stellte sich sonst lebhaft vor, wie Leo ihm die Nase brechen und auch einige Zähne aus diesem schleimigen Grinsen schlagen würde. Dann würde Juanito blutüberströmt dastehen und noch einen Tritt kassieren. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln und in dem Moment legte Juanito seine Hand auf die ihre und lächelte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, wie schön du aussiehst, wenn du lächelst?“ Perplex wich sie einen Schritt zurück und rempelte aus Versehen einen anderen Piraten an. Er und sie drehten sich um, er um sie anzubrüllen und sie, um sich zu entschuldigen, da erkannte sie Laffite und ihre Chance, von diesem widerlichen Dauergrinsen erlöst zu werden. Sie fiel dem Franzosen um den Hals und seufzte: „Ach Schatz, da bist du ja, es ist schrecklich, dass du Quartiermeister bist, seitdem hast du gar keine Zeit mehr für mich.“ Kim küsste den vollkommen verwirrten Laffite auf die Backe und raunte ihm unmissverständlich zu: „Spiel mit oder erlebe den morgigen Tag nicht mehr!“ Leicht verkrampft legte er seine Arme um sie und sagte: „Tut mir Leid, Häschen, aber was soll ich machen?“ Laffites Hand haltend sagte sie zu Juanito, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hatte: „Darf ich dir meinen Freund Laffite vorstellen? Schatz, das ist Juanito, er ist neu an Bord und hat sich gerade mit mir bekannt gemacht.“ Juanito musterte Laffite geringschätzig und kommentierte: „Ihr seid niemals zusammen, du nennst ihn doch noch nicht einmal beim Vornamen und außerdem hab ich noch nie gesehen, dass ihr euch irgendwie nahe seid, geschweige denn, dass ihr euch geküsst hättet.“ „Oh, ich nenne ihn nur nicht beim Vornamen, weil das niemand tut, aber ich kann ihn dir auch gerne als Henry vorstellen.“ „Schön und gut, aber was ist mit meinem zweiten Punkt?“ Juanito legte den Kopf schräg und tippte mit seinem Finger immer wieder wartend auf seinen Oberarm. Laffite warf Kim einen scheuen Blick zu, die mit sich selbst rang, welches nun das kleinere Übel war. Doch endlich entschied sie sich für Laffite, schließlich hatte sie vor zwei Jahren auch noch diesen Arzt des afrikanischen Küstendorfs und Bartholomew geküsst, dagegen war Laffite geradezu ein Traumtyp. Und er hatte gepflegte Zähne. Letztlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und begann ihn zu küssen, was er natürlich erwiderte. Sie fragte sich nur, ob er es wegen ihrer Drohung, die wirklich ernst gemeint war, wegen ihrer Freundschaft oder aus einem anderen Grund tat. Als sie von ihm abließ und triumphierend zu Juanito sah, zog der sich knurrend zurück. Sie hatte es sogar geschafft, das dämliche Grinsen aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Schadenfroh drehte sie sich wieder zu Laffite um, der sie fragte: „Was sollte das denn?“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und sie brummte: „Ich kann den Kerl irgendwie nicht ausstehen, der ist mir zu arrogant, aber da ich ja noch auf längere Zeit mit ihm auskommen muss, ist es so, glaube ich, am Besten.“ Laffite schüttelte resignierend den Kopf und wollte sich gerade umdrehen, um zu gehen, da fragte Kim: „Wo willst du denn jetzt hin?“ „Zu Terry und Aodh, vielleicht ist bei denen ja was Interessantes los.“ Er war gerade wieder drauf und dran die Kurve zu kratzen, da hakte Kim sich bei ihm unter und flüsterte: „Sieh nicht hin, aber Juanito beobachtet uns.“ Doch wie es bei allen Menschen ist, wandte er den Kopf und sah zu Juanito, der beleidigt bei einigen anderen jüngeren Mannschaftsmitgliedern stand und dessen Blick auf ihnen ruhte. Um Kim einen Gefallen zu tun, legte er seufzend seinen Arm um ihre Taille und führte sie durch die Horde betrunkener Männer zu Terry und Aodh, bei denen auch Jon stand. Als sie Arm in Arm bei ihnen ankamen, sahen die drei Männer sie verwundert an, bis dann Terry fragte: „Wie jetzt? Mit mir wolltest du dich damals nicht abgeben, aber jetzt gehst du mit dem Froschfresser?“ Laffite hob drohend eine Braue und Kim erläuterte: „Nein, wir sind doch nicht zusammen, das ist nur, weil…ich meinen Schatz so liebe.“ Sie drückte Laffite ein Küsschen auf die Backe und lächelte Juanito, der sich, während sie gesprochen hatte, zu ihnen gesellt hatte, affektiert zu. Jon, der anscheinend auch schon in den Genuss des Alkohols gekommen war, sah von Kim über Laffite zu Juanito und wieder zurück, dann fragte er verwirrt: „Seit wann seid ihr denn ein Paar?“ Kim trat ihm hart gegen sein Schienbein und sagte nachdrücklich: „Na schon ewig, hast du etwa schon so viel getrunken, dass du das vergessen hast?“ Langsam begriff Jon, was sie bezweckte und sagte: „Ach ja, tut mir Leid. Muss wohl daran liegen, dass Leo tot ist. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ihr beide hier noch Hand in Hand übers Deck spaziert seid und euch manchmal auch abends raus geschlichen habt.“ Na toll, jetzt hatte sie gedacht, sie könnte Leo wenigstens mal für diesen Abend vergessen und dann gab Jon einen so unsensiblen Kommentar ab. Sie atmete tief durch und schluckte die Tränen, die gerade wieder in ihre Augen schossen. Langsam sagte sie: „Ich glaube, ich werde mich hinlegen, schließlich habe ich letzte Nacht nicht viel geschlafen.“ Sie zwinkerte Laffite zu, wohl wissend, dass Juanito sie genau im Auge behielt und küsste ihn auf die Wange, dann ging sie unter Deck und in ihre Kabine, wo sie sich, vollkommen angezogen, auf ihr Bett fallen ließ. Starr gegen die Decke blickend, fragte sie sich, warum es ihr so wehgetan hatte, als Jon von ihrer Beziehung mit Leo gesprochen hatte. Hatte sie ihn denn noch immer geliebt? Die Antwort war ihr klar, aber irgendwie konnte sie es sich nicht eingestehen. Leo hatte die ganze Zeit über andere Frauen gehabt und sehr glücklich geschienen. Sie dagegen hatte gerade zwei schmähliche Beziehungen gehabt, die eine war nach zwei Wochen in die Brüche gegangen, die andere nach drei Monaten Sie strich sich die Haare aus der Stirn und fragte sich, wie Leo das geschafft hatte. Sie fragte sich, warum ihr erst jetzt klar wurde, dass sie Leo wirklich geliebt hatte. Antworten auf diese Fragen zu finden hatte sie aufgegeben. Die Augen geschlossen lag sie auf dem Bauch in ihrem Bett und schlief erst ein, als schon der Morgen graute. Schon als sie ihre Augen öffnete und hörte, dass es leise und gleichmäßig regnete, war ihre Laune im Keller. Sie schloss gerade wieder die Augen, da konnte sie vom Flur her Stimmen vernehmen, die sich heftig stritten und im nächsten Moment wurde ihre Türe unsanft aufgestoßen. Ohne irgendein Wort abzuwarten, knurrte sie: „Raus hier, aber schnell!“ Der eine, Kim erkannte Laffites Stimme sofort, entschuldigte sich prompt: „Excuse-nous. Je ne voulais pas te déranger, mais Juanito n’écoutait pas á moi.“ Kim jedoch ließ sich nicht freundlicher stimmen und knurrte: „Ce n’est pas important á moi. Je veux facilement ma tranquillité. Et c’est pourquoi, fiche-moi la paix!“ Eine andere Stimme jedoch, die sie nicht sofort zuordnen konnte, widersprach: „Ach, papperlapapp. Du musst jetzt aufstehen, schließlich müssen wir die Kanonen vertauen und das Deck auch sonst Wetterfest machen, also steh schon auf und spiel hier nicht den Morgenmuffel.“ Da dieser Befehl von Juanito kam, sie hatte seine Stimme jetzt erkannt, bewegte sie nicht mal den kleinen Finger und Laffite triumphierte, wenn auch nicht sonderlich glücklich darüber: „Ich hab’s dir doch gleich gesagt! Morgens darf man sie nicht wecken, oder stören, sonst ist sie für den restlichen Vormittag unausstehlich.“ Kim, die sich persönlich angegriffen fühlte, setzte sich auf die Bettkante und zischte: „Pass auf, was du sagst, Laffite, oder ich werde tatsächlich unliebsam.“ Noch bevor Laffite jedoch irgendetwas erwidern konnte, war Juanito an ihren Schreibtisch herangetreten, hatte einen Brief, der darauf gelegen haben musste aufgehoben und las vor: „An mein geliebtes Engelchen…“ Verwundert fragte er: „Unser Quartiermeister schreibt Briefe, die an sein ‚geliebtes Engelchen’ adressiert sind?“ Kim war bei dem Ausdruck Engelchen hellhörig geworden. Konnte es sein? War es denn möglich? Sie riss Juanito den Brief aus der Hand und die beiden Männer standen schneller vor der Tür, als sie gucken konnten. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen setzte sie sich aufs Bett, den Kuvert in ihren Händen anstarrend. Vorsichtig drehte sie ihn um und las, was dort mit viel Mühe geschrieben stand. Sie las es wieder und wieder. Und als sie den Umschlag öffnen wollte, zitterten ihre Hände so stark, dass sie sich zwang einmal tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Sie glaubte hören zu können, wie der Wind aufheulte, als er durch die Taue wehte und die Segel unruhig flackerten. Natürlich hatte sie Leos Schrift sofort erkannt. Anscheinend hatte er sich viel Mühe gegeben, konnte aber trotzdem nicht verbergen, dass er im Schreiben nicht geübt war. Sie erkannte es schon daran, dass er „geliebtes“ ohne „ie“ geschrieben hatte. Allmählich besann Kim sich darauf, den Brief zu öffnen und das tat sie, allerdings nicht wie sie sonstige Briefe aufmachte, indem sie sie einfach aufriss, sondern achtete penibel darauf, dass der Umschlag keinen Schaden davontrug. Als sie dann den Brief in der immer noch zitternden Hand hielt, traute sie sich fast nicht mehr, ihn zu lesen, aber ihre Neugierde war stärker. Es war, als würde alles was sie tat in Zeitlupe geschehen. So entfaltete sie den Zettel und begann zu lesen. „Mein gelibtes Engelchen. Ich weiß, ich sagte, dass das, was wir in der Vision tun keinerlei Auswirkungen auf die Realitet hätte. Ich habe dich angelogen, aber ich hatte einen guten grund. Des Weiteren habe ich auch gesagt, dass ich nur dieses eine mal mit dir sprechen könnte und so sehr ich es auch bedaure, habe ich in diesem Punkt die Warheit gesagt. Wenn du dich jetzt über den Brief wunderst, mus ich dir sagen, dass ich ja nicht mit dir spreche, aber leider Gottes ist das auch nur eine Einmalige Sache. Ich schreibe dir diesen Brief aus einem Grund. Ich möchte dir etwas sagen, was ich mich bei unserer letzten Begegnung nicht getraut habe und dafür entschuldige ich mich. Denn glaub mir, in diesem Moment würde ich alle Pein des Sterbens noch einmal auf mich nehmen, wenn ich dir jetzt persönlich gegenüberstehen könnte. Aber schweren Herzens musste ich erkennen, das ich diese Chance fertan habe und so möchte ich es dir jetzt auf diese Weise sage: Kim, mein Engel, ich liebe dich. Ich weiß, du fragst dich, warum ich das alles wohl so gut verkraftet habe und Eine nach der Anderen hatte, aber der Schein trügt. Die ganze Zeit versuchte ich das zu bekommen, was ich mit dir hatte, aber keines der Mädchen konnte es mir geben. Kein anderes Mädchen konnte mir die Geborgenheit, die Sicherheit, die Währme und die Liebe entgegenbringen, die du mich spüren liesest und mir war, als hätte ich verlernt gehabt zu lieben. Dabei habe ich die ganze Zeit über geliebt. Und zwar Dich. Ich frage mich, warum ich es erst jetzt, wo es zu spät ist, erkenne, denn wäre es mir schon damals klar gewesen, hätte ich dich nimals gehen lassen. Nun denn, schweren Hertsens muss ich hier aufhören zu schreiben. Fühl dich geküsst und gehertst, in ewiger liebe Dein Leo.“ Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Und schon fiel eine auf das Blatt, eine zweite folgte. Bei jedem seiner Rechtschreibfehler hatte sie schmunzeln müssen, so zum Beispiel als er „geherzt“ mit „tst“ und „in ewiger Liebe“ klein geschrieben hatte. Aber gerade in diesem Moment bildeten sich unter dem Abschiedsgruß, als würde Leo sie gerade erst schreiben, die Worte: „PS: Bitte weine nicht, schließlich liebe ich dich. Aber lass das keinen Grund sein, dein Leben lang schwarz zu tragen, tu was du willst, aber nicht mit Juanito. Ich will, dass du glücklich bist.“ Sprachlos starrte sie auf das Postskriptum, das vor einer Minute noch nicht dort gestanden hatte. Suchend schaute sie sich um, in der Erwartung, Leo doch irgendwo entdecken zu können, aber es war hoffnungslos. Er war tot. Als ihr die nächste Träne über die Wange kullerte und drohte, auf den Brief zu tropfen, rümpfte sie die Nase und wischte sich die Tränen aus den Augen. Für eine Weile saß sie still da und las den Brief mehrmals, bis die Tür aufsprang und ein Wutentbrannter Terry schnaufte: „Was muss ich mir da von Juanito und Laffite sagen lassen? Ich schicke sie, damit sie dich dazu bringen, deinen faulen Arsch an Deck zu bewegen um uns zu helfen und du setzt sie vor die Tür?“ Sie saß da. Schaute ihn an. Schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ohne den Kopf zu drehen wandte sie den Blick von ihm, drehte dann aber doch das Gesicht von ihm weg. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte. Am liebsten hätte sie geweint, geschrieen, um sich geschlagen. Doch Leo hatte geschrieben, sie solle nicht weinen, also würde sie nicht weinen. So stand sie auf, faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in das Kuvert und legte dieses auf ihren Schreibtisch. Dann ging sie auf Terry zu und als sie unmittelbar vor ihm stand, entschuldigte sie sich: „Es tut mir Leid, Terry, bitte verzeih mir, aber ich habe mich zu dem Zeitpunkt nicht in der Verfassung dazu gefühlt, an Deck zu arbeiten. Ich hoffe, du siehst es mir nach.“ Verwirrt schüttelte er den Kopf, als hätte sie in einer Fremdsprache gesprochen und fragte dann: „Sag mal, Kim, was laberst du da eigentlich die ganze Zeit? Red normal mit mir, das geschwollene Gerede versteht ein Pirat der ehemaligen Unterschicht nicht.“ „Ich sagte, dass es mir Leid tue und es mir nicht gut ging, als Juanito und Laffite da waren. Sei nicht böse auf mich.“ Ihr Gegenüber grinste: „Na also, geht doch. Und wie sollte ich böse auf dich sein. Dass du bei diesen Sachen nicht immer die erste an Deck bist, ist mir schon seit Jahren klar. Aber wieso ging es dir vorhin nicht gut? Hat das etwas mit dem Brief zu tun, den du vorhin hattest?“ Etwas härter als geplant antwortete sie: „Ich wüsste beim besten Willen nicht, was dich das anginge!“ Leicht beleidigt entgegnete Terry: „Ist ja gut, ich frage ja nur, Fräulein Unnahbar.“ Leise, aber doch so laut, dass Terry, der sich gerade umdrehte, es hören konnte, murmelte sie: „Im Gegensatz zu dir bin ich geradezu süchtig nach Zuneigung.“ Kim wusste genau, dass er gehört hatte, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, doch er ging wortlos aus der Tür und erwartete offensichtlich, dass sie ihm folgte, was sie auch tat. Doch bevor sie die Türe schloss schaute sie noch einmal zu ihrem Schreibtisch, auf dem der weiße Briefumschlag lag, dann schloss sie die Tür und ging Terry nach. Es nieselte nur leicht und auch Wind war kaum zu spüren. Lediglich eine schwüle Hitze entgegnete ihr, als sie auf Deck kam. An und für sich war schon alles getan und die meisten Männer saßen faul an Deck. Einzig und allein Laffite, Aodh, Silvestro und Chidi kümmerten sich noch um die Segel. Noch einmal tief durchatmend ging sie zu ihnen, begrüßte sie freundlich und packte mit an. Gerade waren sie fertig geworden, da konnte sie näher rückendes Donnergrollen hören. Zudem hatte es begonnen stark zu winden. Die Wellen wurden höher und klatschten bedrohlich gegen die Planken. Die Vengeance begann auf dem Meer zu schwanken, wie ein Spielzeugschiff. Jetzt konnte sie auch schon die ersten Blitze im Himmel zucken sehen und die Abstände von Blitz zu Donner wurden immer kleiner. In irgendeiner Weise erinnerte sie dieses Gewitter an jenes, als Leo gerade die beiden Finger an seiner linken Hand verloren hatte. An jenem schicksalhaften Tag hatten sie auch das französische Schiff mit einem Drittel der Mannschaft verloren. Kim hatte gerade wieder das Bild des brennenden Schiffes vor Augen, da rüttelte jemand an ihr und brüllte gegen den heulenden Wind: „Kim, jetzt komm endlich wieder zu dir und pass auf, sonst erwischt dich noch ne Kanone, die nicht richtig vertaut worden ist!“ Sie drehte sich um und fragte etwas konfus: „Tut mir Leid, ich habe dir nicht zugehört, was hast du gesagt, Jon?“ Dieser massierte sich die Schläfen und fragte: „Was ist heute eigentlich los mit dir? Kommst nicht, wenn du gerufen wirst, hilfst nicht mit beim absichern des Schiffes und stehst jetzt tagträumend in der Gegend rum. Kannst du mir mal verraten, was das soll?“ Sie wusste, an was es lag, doch wollte sie nicht mit Jon darüber sprechen, sie wollte mit niemandem darüber sprechen. Also zuckte sie die Achseln und wollte sich gerade wieder umdrehen, da packte er sie an der Schulter und sagte eindringlich: „Kim, du wirst jetzt mit mir reden, komm mit in meine…“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment kam Chidi angehetzt und erzählte etwas in seiner Muttersprache, da er anscheinend zu aufgebracht war, um die richtigen Worte in ihrer Sprache zu finden. Jon unterbrach ihn ruppig: „Ich verstehe kein Wort, sprich langsam und bitte in unserer Sprache.“ Dann wandte er sich an Kim: „Und du, Lilay, gehst in meine Kajüte und wartest dort auf mich, mit dir habe ich nämlich noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Leicht beleidigt machte sich Kim auf den Weg zu Jons Kajüte, da sie wusste, dass er das nicht als ihr Freund, sondern als ihr Captain zu ihr gesagt hatte. Sie saß auf seinem Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an, die dann und wann vom Licht eines Blitzes erhellt wurde. Es kam ihr vor, als wartete sie eine Ewigkeit. Langsam begann sie sich zu fragen, was sie Jon erzählen sollte, würde er es denn verstehen? Wahrscheinlich nicht. Sie verstand sich ja nicht einmal selbst. Das letzte Jahr über hatte sie Leo doch auch nur selten gesehen. Warum fehlte er ihr jetzt so sehr? Gerade fragte sich Kim, ob Leo wohl im Himmel war, oder aufgrund seines Daseins als Pirat in der Hölle schmoren musste, da wurde die Tür geöffnet und Jon trat ein. Erschrocken sprang sie auf und rief: „Oh Gott, Jon! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“ Seine linke Gesichthälfte war fast vollständig von Blut überströmt und sein Auge war leicht angeschwollen. Lachend winkte er ab: „Jaja, die Bäume sind auch nicht mehr so weich, wie sie mal waren.“ Kim ging auf ihn zu und nahm sein Gesicht genau unter die Lupe. Unter dem ganzen Blut war es recht schwer zu erkennen, wo die Wunde war, was noch erschwert wurde, da der Regen das Blut noch weiter verteilt hatte. Doch nach kurzer Zeit entdeckte sie eine kleine Platzwunde unterhalb seines linken Auges. Dann sagte sie schlicht: „Das muss verarztet werden.“ Jon wollte sie noch aufhalten, aber sie war schon aus der Tür gerauscht und in Richtung Vorratskammer. Sie holte etwas Alkohol, einen sauberen Lappen, einen Krug Wasser und suchte auch noch ein Pflaster, das sie nach einiger Zeit des Suchens auch fand. Damit bewaffnet ging sie wieder zurück in Jons Kabine. Als er sie sah, die Sachen auf ihm unerklärliche Weise in den Armen festhaltend, kam er ihr entgegen und nahm ihr etwas ab. Sie stellte die restlichen Sachen auf den Tisch und griff zu dem Lappen und zum Krug, dann herrschte sie Jon an: „Setz dich und lehn den Kopf zurück!“ Seufzend tat er, was Kim gesagt hatte und sie begann sein Gesicht zu waschen. Währenddessen sagte sie: „Wegen deinem Auge hätte ich dir gerne Fleisch gebracht, aber wir haben ja kein Frischfleisch an Bord.“ Und während sie den Lappen auswusch und etwas Alkohol darauf goss, erwiderte er grinsend: „Ich weiß nicht, was du hast, dieser Juanito scheint mir doch noch recht frisch zu sein.“ Ohne ein Wort zu erwidern drückte sie den Lappen unsanft auf seinen Wangenknochen, wo die Wunde war, was ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen entrückte. Und sofort entschuldigte er sich: „Tut mir Leid, das war nicht persönlich gemeint. Au!“ Lustlos tupfte sie auf seinem Wangenknochen herum und sprang nicht gerade liebevoll mit ihm um. Schließlich hielt er sie am Handgelenk fest und sagte drohend: „Ich glaube, die Wunde ist jetzt sauber genug.“ Sie verzog das Gesicht, weil er ziemlich fest zugepackt hatte und er ließ sie wie von der Tarantel gestochen los, dann sagte er: „Verzeih, ich wollte dir nicht wehtun.“ Ohne etwas zu erwidern griff sie zu dem Pflaster und klebte es so auf die Verletzung, dass diese möglichst schnell verwachsen konnte. Dies tat sie dann doch etwas gefühlvoller, als die Tortur mit dem Alkohol. Als sie fertig war, strich sie ihm noch einmal durch die nassen Haare und setzte sich ihm dann gegenüber. Sie zog ihre Knie eng an ihre Brust und legte das Kinn darauf, dann fragte sie: „Was willst du denn mit mir bereden?“ Aber noch bevor er antworten konnte, fragte sie mit einem Glitzern in den Augen weiter: „Glaubst du, in dem Hexenbuch gibt es einen Spruch, der Tote wieder zum Leben erwecken kann?“ Den Kopf schüttelnd seufzte Jon: „Also darum geht es, dachte ich’s mir doch.“ Verwirrt fragte Kim: „Was dachtest du dir?“ Jon stand auf und ging im Zimmer auf und ab, dann sagte er: „Dass es um Leo geht. Ach Kim, warum fällt es dir denn so schwer loszulassen? Du hast ihn doch schon über ein Jahr lang kaum gesehen.“ „Er hat mir geschrieben.“ Etwas verblüfft blieb Jon nun stehen und fragte: „Er hat dir Briefe geschrieben? Wie denn das? Soweit ich weiß, gibt es auf hoher See keine Briefkästen, geschweige denn Briefträger, die die Post zustellen könnten.“ Monoton entgegnete sie: „Nicht doch früher, heute Nacht.“ Noch verblüffter ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und schüttelte den Kopf, als hätte er sich da gerade eben verhört. Daraufhin fragte er: „Was meinst du damit, er hätte dir heute Nacht geschrieben?“ Ein Blitz erhellte den Raum und gleichzeitig wurde die Kajüte vom lauten Grollen des dazugehörigen Donners erfüllt. Kurz darauf begann das Schiff noch gefährlicher zu schwanken, als es das ohnehin schon tat. Instinktiv stellte sie die Füße auf den Boden und griff an den Sitz des Stuhls, um nicht umzufallen. Auch Jon hielt sich mit einer Hand am Tisch fest und sagte, als das Schiff wieder verhältnismäßig ruhig schwankte: „Kim, wir müssen diese Unterhaltung auf einen anderen Zeitpunkt verschieben, aber jetzt müssen wir an Deck und unseren Kameraden helfen.“ Er stand auf und auch sie erhob sich seufzend. Sie hatte schon daran geglaubt, dem Gewitter auf diese Weise entgehen zu können, doch natürlich folgte sie Jon an Deck. Durch den vielen Regen war es aalglatt geworden und wie es kommen musste, rutschte sie gleich aus und fiel schmerzhaft auf ihren Po. Gerade wollte sie wieder aufstehen, da wurde ihr eine Hand angeboten. Eigentlich erwartete Kim, dass diese helfende Hand Jon gehörte, doch als sie lächelnd aufsah, musste sie sich zwingen, um das Lächeln auf ihrem Gesicht halten zu können, denn diese Hand war die Juanitos. Zögernd ergriff sie sie und ließ sich von ihm aufhelfen. Als sie wieder stand fragte er: „Was hast du denn eben beim Kapitän gemacht? Ich glaube, Laffite wird schon eifersüchtig.“ Er nickte zu Laffite, der bei Terry und Edward stand. Und tatsächlich sah er immer wieder missmutig zu ihr hinüber. An sich gab es nicht viel zu tun, da sie ja schon vorher alles Wetterfest gemacht hatten. Und langsam ließ das Gewitter nach. Schließlich tröpfelte es nur noch leicht und hörte endlich ganz auf. Zwar schien die Sonne noch immer nicht, doch würde höchstwahrscheinlich kein größerer Schauer mehr über sie kommen. Über das Gewitter war der Vormittag vergangen und jetzt saß sie, nass bis auf die Haut bei Chidi, Pio, Silvestro, Edward und Terry. Alle waren sie erschöpft und hätten schwören können, es wäre das schlimmste Gewitter gewesen, das sie jemals erlebt hätten, doch sagten sie das nach jedem Sturm. Die Schiffsjungen, einige noch jünger als Kim, mussten das Deck schrubben. Sie war gerade kurz davor, sich auch einen Schrubber zu nehmen und ihnen aus Solidarität zu helfen, da kam Laffite und setzte sich zu ihnen. Wäre er allein gekommen, hätte es sie nicht von ihrem Vorhaben abgebracht, doch hinter ihm kam Juanito mit zwei seiner Kumpanen, Benito und Gabriel, hergetrottet. Seufzend ließ sie von ihrem Vorhaben ab und winkte Laffite mit einem lächeln zu sich. Zur Begrüßung wollte er ihr, zu Juanito linsend einen flüchtigen Kuss auf die Backe drücken, doch als er sah, wie der die Augenbraue hob und sie scharf beobachtete, wurde aus diesem Wangenkuss doch ein zärtlicher auf die Lippen. Er setzte sich, sich immer noch gewahr, dass Juanito sie genau beobachtete, neben sie und legte seinen Arm um ihre Hüften. Kim sagte nichts und erwiderte auch keine seiner Gesten. Sie lehnte einfach nur erschöpft den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Noch einmal ging ihr durch den Kopf, was Leo ihr geschrieben hatte, da schlief sie ein. Bis sie jemand sanft wachrüttelte. Verschlafen und auch etwas widerwillig öffnete sie die Augen, schloss sie jedoch gleich wieder, da ihr die Sonne stechend hinein schien. Sie legte die Hand an die Stirn und öffnete ihre Augen erneut. Langsam richtete sie sich auf und als sie vor sich Jon stehen sah, murmelte sie: „Jon? Was zur Hölle… Wieso weckt ihr mich?“ Jon gab ihr seine Hand um ihr aufzuhelfen und sagte währenddessen: „Ich wecke dich, weil wir unser Gespräch vorhin nicht beenden konnten und ich das jetzt gerne tun würde.“ Seufzend folgte sie ihm unter Deck, in seine Kajüte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie auch schon diesen Morgen gesessen hatte. Allerdings musste sie ihn erst wieder aufrecht hinstellen, da er umgefallen war und auch nicht an dem Platz lag, an dem sie ihn verlassen hatte. Um genau zu sein, lag er am anderen Ende des Raumes. Auch Jon hob seinen Stuhl auf, setzte sich darauf und fragte: „Du wolltest mir gerade erzählen, wie ein Toter es geschafft hat, dir einen Brief zu schreiben.“ In seiner Stimme klang nicht wenig Spott mit, was Kim verletzte. Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust und entgegnete trotzig: „Woher soll ich denn wissen, wie er das gemacht hat, heute Morgen lag der Brief auf jeden Fall auf meinem Tisch.“ „Den hätte jeder schreiben und dort hinlegen können.“ „Erstens, wie viele Piraten hier an Bord können schreiben und zweitens ist es ganz genau seine Handschrift, inklusive seiner typischen Fehler.“ „Zu erstens muss ich dir Recht geben, es gibt nicht viele Männer an Bord, die schreiben können, aber diejenigen die es können, können auch Schriften Fälschen, womit wohl auch dein zweiter Punkt entkräftet sein müsste.“ „Aber es standen so persönliche Sachen darin. Davon wussten nur Leo und ich.“ „Und woher willst du wissen, dass nur Leo und du davon wissen?“ Aggressiv zischte sie: „Weil ich noch gar nicht wusste, dass andere Leute meiner Vision beigewohnt haben. Oh mein Gott, wie peinlich!“ Er rollte genervt mit den Augen und fragte dann: „Was stand denn in dem Brief, war es wichtig?“ Immer noch nicht richtig bereit zu kooperieren, entgegnete sie gähnend: „Kommt drauf an für wen.“ Erzürnt knallte Jon die Hand auf den Tisch und donnerte: „Jetzt komm schon, Kim, du weißt genau was ich meine! Du treibst mich noch in den Wahnsinn!“ Nicht minder erregt krallte sie die Finger in ihre Hose und brüllte: „Ist mir doch egal, ob du verrückt wirst, dann hätte ich wenigstens meine Ruhe! Und ich weiß nicht genau, was du meinst. Für mich war dieser Brief unbeschreiblich wichtig, aber ich glaube, für dich ist es nicht von großer Bedeutung, wenn Leo mir schreibt, wie sehr er mich liebt!“ Stille trat ein. Kim sah nicht ein, warum sie den ersten Schritt zu einem weiterhin freundlichen Gespräch machen sollte und anscheinend ging es Jon nicht anders. So saßen sie eine Weile da und starrten sich wutentbrannt an, da klopfte es an der Tür und auf Jons mürrisches „Herein“ wurde sie aufgetan. Ein trat Knoxville, der Steuermann an Bord. Als er Jons missgestimmten Blick und Kims verdrießliche Miene sah, nahm er als erstes den Hut vom Haupt und fragte dann vorsichtig: „Tag, Captain, Kim, störe ich?“ Doch Jon winkte ab: „Nein, was gibt es denn?“ „Nun ja“, begann Knoxville, den Hut vor die Brust haltend „Durch das Unwetter sind wir ziemlich vom Kurs abgekommen. Außerdem haben wir die Queen Anne und die Bane aus den Augen verloren. Sollen wir nach ihnen suchen oder versuchen auf unseren alten Kurs zurückzukommen?“ Jon kratzte sich am Kopf und antwortete dann: „Wir werden nicht nach ihnen suchen, irgendwie werden sie schon wieder zu uns stoßen. Und ansonsten würde ich sagen, dass wir weiterhin immer nach Osten segeln.“ Kim stieß abfällig die Luft aus und murmelte: „Die Queen Anne und damit Grasser würden wir eh nicht wieder finden und die Bane wird schon kommen.“ Jon, der hellhörig geworden war, fragte mit hochgezogener Braue: „Was brabbelst du da vor dich hin, von wegen, wir würden die Queen Anne nicht wieder finden und Dark Lou wird schon auftauchen?“ „Na Leo hat es mir gesagt. Und du solltest auf deine Mimik achten oder willst du, dass die Wunde wieder aufplatzt?“ Knoxville, die schlechten Schwingungen spürend, verabschiedete sich gezwungen lächelnd, setze seinen Hut nach einer Verbeugung wieder auf und machte sich so schnell es ging vom Acker. Kaum war er draußen und hatte die Tür hinter sich geschlossen, knurrte Jon: „Hat er es dir etwa in dem Brief geschrieben? Oder hat er es dir in der Vision gesagt? Aber was mich am meisten wundert, warum weiß ich noch nichts davon? Und außerdem kann es dir doch eigentlich ziemlich egal sein, was ich mit meinem Gesicht mache.“ „Er hat es mir in meiner Vision gesagt und bis jetzt habe ich auch nicht verstanden, was er damit meinte, als er sagte, dass er nicht sicher sei, ob Joel Grasser unser Vorhaben bis zum Schluss miterleben würde. Zudem empfand ich es als trivial. Aber du hast in einem Punkt Recht, was du mit deinem Gesicht machst könnte mir eigentlich ziemlich egal sein.“ Kim betonte das ‚könnte’ besonders und fuhr fort „Nur ist es das nicht.“ „Und warum nicht, wenn man fragen darf?“, fragte er, anscheinend immer noch erbost, doch schwang nichtsdestotrotz eine gewisse Verwunderung in seiner Stimme mit, die er auch durch seine Mimik nicht verbergen konnte. Nun milde lächelnd entgegnete Kim: „Weil ich mir um so einen Kindskopf wie dich Sorgen mache.“ Brummend wiederholte er den Kindskopf, bemerkte aber dann: „Seit du damals bei uns an Bord gekommen bist, hast du dich ganz schön verändert. Früher warst du ja recht weinerlich, um nicht zu sagen eine Heulsuse, ich muss sagen, im Moment bist du ziemlich hart im Nehmen. Das Leben auf See hat dich wohl abgehärtet.“ Empört rief sie aus: „Ich war doch keine Heulsuse!“ Jon allerdings grinste: „Wie komme ich nur darauf? Vielleicht, weil du die ersten drei Tage an Bord nahezu durchgeweint hast und auch in den folgenden Tagen nicht an Tränen gespart hast?“ Beleidigt schob sie die Unterlippe vor und schmollte: „Na und? Ihr habt mich auch brutal aus meiner Heimat verschleppt; außerdem war ich zu der Zeit noch ein Kind.“ „Das sahst du zu der Zeit, wie du es so schön ausgedrückt hast, aber ganz anders, nein, du warst mit stolzen 14 Jahren kein Kind mehr, sondern eine Jugendliche, wie du uns allen eingebläut hast.“, lachte Jon. Kim allerdings erwiderte nichts, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und sah hochmütig auf ihn herab. Er hingegen konnte schon gar nicht mehr aufhören zu lachen, sondern prustete: „Und anscheinend hat sich daran auch nicht viel verändert, sieh die Welt nicht immer so ernst, sondern auch mal mit Humor.“ Humor! Wie sollte sie jetzt ans Lachen denken, jetzt, wo sie gerade schmerzlich hatte feststellen müssen, dass sie Leo noch immer liebte, das aber nichts brachte, da er tot war. Tot! Ihr Blick wandte sich gen Boden und die Haare fielen in ihr Gesicht. Jon hörte prompt auf zu lachen und fragte etwas verwirrt: „Was ist denn los? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Affektiert lächelnd sah sie auf, strich sich mit zitternder Hand die Haare hinter die Ohren und sagte: „Nein, nein, es ist nichts, rein gar nichts.“ Skeptisch fragte Jon weiter: „Und weil gar nichts ist, musst du mich jetzt auch so aufgesetzt angrinsen? Warum sagst du mir denn nicht einfach, was los ist?“ So leise, dass nur sie selbst sich hören konnte, murmelte sie: „Weil ich es selbst nicht weiß.“ Jon, der gehört hatte, dass sie etwas gesagt hatte, aber nicht verstanden hatte was, fragte: „Wie bitte?“ Kim richtete ihren Kopf auf und sah ihm direkt in die Augen, dann wiederholte sie langsam: „Weil ich es selbst nicht weiß. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Warum fällt mir erst jetzt, da es zu spät ist, auf, dass ich Leo die ganze Zeit über geliebt habe? Und warum vermisse ich ihn auf einmal so schrecklich? Das letzte Jahr habe ich ihn ja wirklich kaum gesehen und bin prima damit zurecht gekommen, aber jetzt ist jeder Schlag den mein Herz tut gleichzeitig ein Schlag in meine Seele, da ich jeden meiner Herzschläge von nun an ohne Leo erleben muss und irgendwie schlägt sein Herz in meinem Herz mit, ich fühle es, denn auf der einen Seite ist es befreiend zu wissen, dass er doch bei mir ist, in seinen Erinnerungen und allem, aber auf der anderen Seite belastet mich das Herz, es erinnert mich ständig daran, dass er nicht mehr da ist, kein Wort mehr mit mir spricht, mich nie wieder in seine Arme schließt. Es schmerzt so sehr, dass ich mir das Herz am liebsten herausreißen würde, aber die Erinnerungen an Leo darin halten mich davon ab, denn solange sich jemand an ihn erinnert lebt er weiter und niemand hat ihn so in Erinnerung wie ich, niemand wusste mehr von ihm, seinen Gefühlen. Vielleicht wusste ich nichts von seiner Herkunft, aber dennoch wusste ich stets wie er sich fühlte und mir hat er seine Liebe gestanden, niemandem sonst, nur mir. Er sagte mir, ich wäre das einzige Mädchen in seinem Leben gewesen, das es mit Liebe erfüllen konnte und ich hätte es gerne noch so viele Jahre mit Liebe angefüllt, aber nun geht das nicht mehr, er lebt nur noch in meinen Erinnerungen. Und ich frage mich, wofür ich lebe, wenn ich sein Leben nicht mit Liebe anfüllen kann, was ist dann der Zweck meines Daseins?“ Jon hatte ihr aufmerksam zugehört und hielt jetzt ihrem Blick, der nach Hilfe schrie, stand, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Was war nur los mit ihm? Vorhin hatte er sie doch noch förmlich dazu gedrängt, mit ihren Problemen zu ihm zu kommen und jetzt rührte er nicht einmal den kleinen Finger, sondern saß da auf seinem Stuhl, ihr gegenüber und schaute sie an, ohne dass sie irgendetwas aus seiner Mimik lesen konnte. Enttäuscht und traurig senkte sie den Blick, doch da erklang Jons Stimme: „Wende deinen Blick nicht ab. Sieh mir in die Augen und dann versprich mir, dass du nie wieder, wirklich niemals wieder an deiner Existenz zweifelst.“ Er hatte ganz leise gesprochen, doch kam es ihr vor, als hätte er sie angebrüllt und sie sah erschrocken auf. Seine Mimik hatte sich noch immer nicht verändert, doch hatte sie in seiner Stimme Zorn mitschwingen hören können. Sie verstand nicht ganz, was er von ihr wollte, da wiederholte er: „Hast du mich nicht verstanden? Ich möchte, dass du mir versprichst, nie mehr an deiner Existenz zu zweifeln.“ „Aber warum denn? Es ist doch so, was soll ich denn noch auf dieser Welt? In dieser Welt, in der Leo nicht mehr existiert, warum sollte ich dann existieren?“ „Hör auf!“ Jetzt hatte er wirklich gebrüllt und sie zuckte zusammen. Er stand auf und sagte, mühend, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Ich will nicht, dass du so etwas sagst, ja nicht einmal denken darfst du das! Was sollten wir denn ohne dich machen? Wer würde denn noch Stimmung auf Deck bringen? Wem könnten die Männer nachschauen und hinterher pfeifen? Wen sollte ich sonst um Rat fragen? Ohne dich wären wir hier an Bord aufgeschmissen. Und jetzt reiß dich endlich zusammen. Da dachte ich doch tatsächlich, du seist härter im Nehmen als noch vor drei Jahren weil du nicht mehr ständig anfängst zu heulen und jetzt kommst du mir mit Selbstmordgedanken! Und solltest du dich wirklich umbringen, dann würde ich dich vor der Pforte des Himmels persönlich abfangen und dir mit einem Tritt in die Hölle verhelfen. Du wirst es überstehen, bisher hast du noch alles überstanden und was dich nicht umbringt, macht dich stark. Die Kaperungen haben aus dir ja auch eine einzigartige Kämpferin gemacht, die ich, aus geschäftlichen und persönlichen Gründen auf keinen Fall missen möchte.“ „Erstens kommen Selbstmörder nicht in den Himmel, zweitens würde ich nach meinem Dasein als Pirat sowieso nicht in den Himmel kommen und drittens kann ich vielleicht nicht stärker werden und diese Sache bringt mich um.“ „Oh nein! Und wenn ich dich nackt in einen leeren Raum sperren muss, damit du dich nicht umbringst. Wobei ich dir die Blicke der Männer durchs Schlüsselloch gerne ersparen würde, da das dann doch eine herbe Erniedrigung wäre. Glaube mir, ich kann verstehen, wie du dich fühlst, ich kenne den Schmerz den du durchleiden musst.“ Sie lachte verzweifelt auf, sah zur Seite, während sich ihre Augen mit Tränen füllten, und dann zur Decke. Um die Tränen zu schlucken schloss sie ihre Augen und blinzelte ein wenig. Dann lächelte sie gequält: „Ja, Jon, du bist der Einzige, der mich versteht. Der Einzige, der mich verstehen kann. Wie hast du das damals mit Alice überlebt? Diesen Schmerz, diese Hoffnungslosigkeit, diese Leere? Ich halte es nicht aus, mein Herz quillt über vor Schmerz, die Hoffnungslosigkeit frisst meine Seele und ich verirre mich in der Leere. Wie hast du es nur geschafft nicht aufzugeben?“ Er ging vor ihr in die Hocke, streichelte ihr liebevoll über den Arm und lächelte: „Ich habe nicht aufgegeben, weil du mich nicht aufgegeben hast. Der Crew wäre es egal gewesen, aber nicht dir, du hast mir damals die Kraft gegeben, weiterzumachen. Außerdem leben wir nur einmal und sollten dieses Leben als Geschenk ansehen, warum sollten ich oder du es wegwerfen? Das hätte Leo sicher nicht gewollt, oder hat er dir geschrieben, ‚Liebe Kim, ich liebe dich, bring dich deswegen schnellstmöglich um, ich danke dir für dein Verständnis, Leo.’? Diese Frage könnte ich dir auch beantworten, ohne den Brief gelesen zu haben.“ Sie stand langsam auf und auch Jon richtete sich auf. Dann fragte er: „Und? Willst du dich jetzt immer noch umbringen?“ „Gibst du mich denn auf?“ Er schüttelte lächelnd den Kopf und sie fuhr fort: „Dann gibst du mir die Kraft die Zeit durchzustehen.“ Sie umarmte ihn noch einmal dankbar und ging dann aus der Kabine, wovor Laffite, unschuldig pfeifend und seine Fingernägel betrachtend stand. Etwas verwundert fragte sie: „Was machst du denn hier? Hast du gelauscht?“ Erschüttert sah er auf und empörte sich: „Moi? Non, ne jamais. Euh, je passais seulement ici. Et toi? Qu’est-ce que tu faisait chez Jon?“ Etwas ruppig, da sie genau wusste, dass er gelauscht hatte, antwortete sie im Vorbeigehen: „Warum gibst du nicht einfach zu, dass du gelauscht hast? Und lass mich ein für allemal mit diesem blöden Französisch in Ruhe!“ Er lief ihr nach, wie ein aufgescheuchtes Huhn und rief: „Mon Dieu, Kim, s’il te plaît, bitte! Es tut mir Leid, das hätte ich nicht tun sollen, sei doch nicht böse.“ Kim allerdings blieb abrupt stehen, wirbelte herum und brüllte: „Verdammt noch mal, Laffite! Was denkst du dir eigentlich? Das war mehr als privat, das ging dich nichts an!“ Sie standen unmittelbar vor ihrer Kajüte, deren Tür sich öffnete und aus der Juanito den Kopf herausstreckte um zu sehen, was los war. Als er sie sah, öffnete er die Tür ganz. Als Kim jedoch sah, was er da gerade in seinen Händen hielt, stockte ihr der Atem. Hysterisch riss sie ihm Leos Brief aus der Hand und schrie: „Weiß denn an Bord dieses verdammten Schiffes niemand, was Privatsphäre ist? Das geht euch nichts an! Das waren meine Gefühle, Laffite und das war mein Brief, Juanito. Woher nehmt ihr euch das Recht an meinem Leben teilhaben zu wollen?“ Vor Wut und Erschöpfung rannen ihr jetzt doch Tränen die Wangen herunter und sie suchte vergeblich nach Worten, um ihrem Zorn Luft zu machen. Von dem Geschrei animiert kam Jon angelaufen und fragte aufgebracht: „Was ist denn hier los?“ Kim konnte nicht antworten, sie stand nur da und versuchte, sich zu beruhigen, aber ihre Antwort übernahm stattdessen Juanito: „Ich glaube, jetzt dreht sie durch.“ Sie sog scharf die Luft ein und sah finster auf Juanito, hasserfüllt zischte sie: „Ich bring dich um.“ Dann schrie sie schrill: „Ich bring dich um!“ Sie wollte auf ihn losgehen, doch Jon und Laffite schafften es gerade noch, sie zurückzuhalten. Dann fragte Jon noch einmal: „Was ist denn los?“ Und Kim schnaufte, den Versuch, sich Jons und Laffites Griff zu entwenden, noch immer nicht aufgebend: „Dieser verdammte Bastard hat in meinen Sachen rumgeschnüffelt und Leos Brief gelesen, obwohl der eindeutig an mich war und ich glaube fast, er wollte ihn mitgehen lassen.“ Laffite sah etwas erstaunt zu Kim, da er die Sache ganz anders im Gedächtnis hatte, doch als er das wilde Glitzern in ihren Augen sah, hielt er doch lieber den Mund. Jon sah verwundert auf den Neuling, der erschrocken rief: „Ich wollte den Brief nicht mitgehen lassen, bitte Captain, glaubt mir, Sir! Ich habe zwar den Brief gelesen, doch für mich hätte er keinerlei Bedeutung, da ich den Verfasser des Briefes ja noch nicht einmal kannte, ich bin mit dem Brief lediglich vor die Tür gekommen, weil ich sehen wollte, wer hier so rumbrüllt und Monsieur Laffite kann das sicherlich bezeugen.“ Diese höfliche Anrede hatte Laffite beeindruckt, noch nie zuvor war er von einem Piraten Monsieur Laffite genannt worden, doch als er spürte, wie Kims kalter Blick an ihm haftete, sagte er hastig: „Für mich sah es auch so aus, als wollte er den Brief stehlen.“ Juanitos Augen weiteten sich und er starrte verzweifelt von Kim, die seinem Blick trotzig standhielt, über Laffite, der demütig wegsah, zu Jon, der Laffite und Kim wohl auch nicht so recht glauben konnte. schließlich sagte letzterer: „Kim, ich glaube, du solltest dir das ganze noch mal überlegen, schließlich hätte es rechte Konsequenzen, wenn stimmte was du sagst und ich kann dir ehrlich gesagt nicht glauben, zumindest wenn ich sehe, wie du vor Wut schnaufst, weil er Leos Brief gelesen hat. Natürlich wird eine gewisse Strafe nötig sein, weil er an deine Privatsachen gegangen ist, aber wir können ihn deswegen nicht aussetzen, nur weil du ihn nicht leiden kannst oder dich gekränkt fühlst. Und du, mein lieber Laffite, bekommst auch noch eine Strafe, schließlich hast du Juanito beschuldigt, obwohl er nichts getan hat. Und nun entschuldigt mich.“ Er ließ Kim los und ging den Gang entlang. Diese schaute ihm entrüstet nach und rief noch einmal: „Jon, das kannst du nicht machen!“ Auch Laffite ging mit hängenden Schultern von dannen. Einzig Juanito stand noch da. Beleidigt fragte sie: „Und was willst du jetzt noch hier?“ „Ich möchte mich entschuldigen. Anscheinend liegt dir sehr viel an diesem Brief. Wer hat ihn denn geschrieben, darinnen steht, dass er jetzt tot ist?“ „Du hast doch keine Ahnung. Du rennst mit deinem Traumkörper und deinem ach so tollen Lächeln durch die Welt und könntest jede haben. Aber ich hatte nur diesen Einen, der mich geliebt hat.“ „Nun, ganz stimmt das aber auch nicht, denn dich könnte ich nicht haben. Aber sei doch mal ehrlich, du bist nicht wirklich mit Laffite zusammen. Er würde dir doch nicht reichen, denn so wie dieser Leo geschrieben hat, war er ja geradezu trunken vor Liebe, da kann Henry nicht mithalten.“ Kim schob sich an ihm vorbei in ihre Kajüte und sagte monoton: „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ Gerade wollte sie die Tür hinter sich schließen, da hielt er den Fuß zwischen Angel und Tür und sagte: „Stimmt, es geht mich eigentlich nichts an, aber ich wüsste trotzdem gerne mehr über diesen Leo.“ „Und ich möchte nicht darüber reden.“ Sie schlug die Tür möglichst hart gegen seinen Fuß, doch er ließ sich nicht davon beeindrucken und schob sich in ihre Koje. Dann fragte er: „Und warum möchtest du nicht darüber reden? Hast du seinen Tod etwa nicht überwunden?“ Verärgert ließ sie sich auf ihr Bett fallen und knurrte: „Du sagst das, als würde täglich ein Mensch sterben, der dir näher stand als jeder andere, der dich besser kannte als alle anderen und der dich mehr liebte als alle anderen. Wenn du das jetzt nicht verstanden hast, dann bist du wirklich dumm, aber da ich ja weiß, dass das der Fall ist, sage ich es noch einmal im Klartext: Nein, ich habe noch nicht überwunden, dass Leo tot ist und das werde ich auch nie.“ „War er denn so perfekt? Hatte er nur gute Seiten?“ „Was denkst du denn? Natürlich hatte er seine schlechten Seiten. Er war jähzornig und schlug schnell zu. Manchmal war er auch ein bisschen besitzergreifend, aber auf der anderen Seite war er so zärtlich, liebevoll und er stand immer zu seinen Gefühlen. Zwar hat er auch hin und wieder ganz gerne anderen Frauen hinterher geguckt, doch es war ihm nie ernst. Er war immer treu. Immer.“ Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln und die Nerven zu bewahren, dann fragte Juanito weiter: „Und warum weinst du dann nicht? Jede normale Frau würde in einer solchen Situation weinen. Wenn du ihn wirklich so sehr geliebt hast, warum berührt es dich dann so wenig?“ „Ich dachte, du hättest den Brief gelesen, ich weine nicht, gerade weil ich ihn liebe oder liebte, schließlich hat er mich darum gebeten.“ Verwundert sagte er: „Aber in dem Brief wird in keinem Satz erwähnt, dass du nicht weinen sollst.“ „Doch natürlich, im Postskriptum, gleich hier…“ Sie stockte. Das Postskriptum existierte nicht. Zumindest stand nichts unter dem Brief. Entrüstet stellte sie fest: „Da ist tatsächlich kein Anhang.“ „Sag ich doch“, grinste Juanito selbstherrlich. Kim allerdings murmelte: „Aber heute Morgen, da war doch noch… wieso ist es jetzt nicht mehr da?“ Perplex starrte sie auf den Brief in ihrer Hand und fragte sich, ob sie nun wirklich überschnappte. Hatte sie sich das heute Morgen nur eingebildet? Nein, unmöglich! Es hatte da, blau auf weiß, gestanden, da war sie sich sicher. Aber warum stand es dann jetzt nicht mehr da? Juanito riss sie allerdings mit seinen nächsten Fragen aus ihren Gedanken. „Und wann hat er dir das geschrieben? Wusste er dass er sterben wird, denn er sagt ja, er sei jetzt tot und Tote können ja bekanntlich nicht schreiben. Und wann ist er gestorben und wie?“ Müde entgegnete sie: „Warum willst du das denn überhaupt wissen? Du kanntest ihn doch gar nicht, Juanito, wieso interessierst du dich dann so für ihn?“ Juanito ließ sich auf dem Stuhl, der in ihrem Zimmer stand, nieder und antwortete achselzuckend: „Warum nicht? Ist doch interessant. Also erzähl mal. Wie habt ihr euch denn kennen gelernt?“ „Ich will dir das aber nicht erzählen, das geht dich nichts an!“ „Ach komm schon, warum denn auf einmal so schüchtern?“ „Weil dich das nichts angeht! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“ Er drehte sich eine Zigarette, steckte sie sich an und pustete ihr den Rauch ins Gesicht. Dann flüsterte er: „Du musst mir nichts erzählen, du kannst es mir auch demonstrieren, glaub mir, auch wenn ich diesen Leo nicht kannte, besser als Laffite bin ich allemal.“ Kim seufzte genervt und wandte den Kopf zur Seite. Dann hielt Juanito ihr den Tabak unter die Nase und fragte: „Auch eine?“ Starr sah sie ihm in die dunklen Augen und sagte, affektiert lächelnd: „Danke, ich rauche nicht.“ Mit den Schultern zuckend steckte er den Tabak wieder weg und Kim fragte: „Und woher willst du wissen, dass du besser bist, als Laffite? Hast du es denn schon einmal mit ihm ausprobiert?“ Angewidert verzog er das Gesicht und widerlegte: „Gott bewahre, das habe ich nun wirklich nicht nötig. Aber du kannst ja entscheiden, ob der Franzose oder ich, der Spanier, besser bin.“ Das affektierte Lächeln noch immer nicht ganz aufgebend entgegnete sie: „Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin weder eine Hure, noch ein Flittchen oder dergleichen.“ „Du drehst mir die Wörter im Munde, ich sprach doch nicht von unkeuschen, verworfenen, wollüstigen, körperlichen Diensten. Ich sprach von einem Kuss, lediglich einer flüchtigen Berührung unserer Lippen und wenn es beliebt, und wirklich nur dann, kann es auch mehr werden.“ Er öffnete ihr Bullauge und warf die Zigarettenkippe daraus. Kim hatte das Lächeln nun doch aufgegeben und sagte, sich die Haare aus dem Gesicht streichend: „Ich glaube, du solltest gehen, schließlich ist gleich neun und wir wollen unseren guten Kapitän doch nicht verärgern, oder?“ Sie stand auf und ging zur Tür, die sie ihm aufhielt. Grinsend schloss er das Bullauge wieder und ging auf sie zu. Als er sich an ihr vorbei geschoben hatte, drehte er sich noch einmal um und in einem flüchtigen Augenblick streiften sich ihre Lippen. Kim überlegte nicht lange, sondern holte aus und ohrfeigte ihn kräftig. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Dieser Bastard, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie hatte er es sich nur herausnehmen können, sie zu küssen? Langsam aber sicher begann sie diesen aufgeblasenen, eingebildeten, Möchtegern-Gigolo zu hassen. Aber je mehr sie versuchte, sich von ihm fern zu halten, desto näher kam er ihr. Ob Juanito das wohl als eine Art Fangspiel betrachtete? Er war der Jäger, sie das Häschen, das ein ums andere Mal einen Haken schlug, wenn er versuchte, es zu erlegen, was ihn allerdings nur noch mehr reizte? Sie wurde einfach nicht aus Juanito schlau. War er nun freundlich oder einfach nur gerissen? War er wirklich in sie verliebt oder wollte er sie nur einmal haben und dann fallen lassen? Mit dröhnendem Schädel legte sie sich in ihr Bett und versuchte zu schlafen, was ihr allerdings nicht so recht gelingen wollte. Also stand sie auf, zog sich etwas über und schlich an Deck. Erst stand sie an der Reling, dann beschloss sie ins Krähennest zu klettern. Als sie auf halbem Weg oben war, fiel ihr ein, wie Leo und sie damals dort oben gesessen hatten und sich geküsst hatten. In jener Nacht war Eleonora dazugekommen. Schmunzelnd erinnerte sie sich daran, wie sehr die Kleine Leo genervt hatte. Sie sah erst einmal über den Rand und flüsterte dann: „Einen guten Abend, Jon. Was machst du denn noch so spät hier?“ Erstaunt sah er auf und entgegnete: „Dir auch einen recht schönen Abend, aber ich könnte dich das gleiche fragen. Zumindest kann ich es mir leisten, schließlich bin ich der Captain des Schiffes.“ „Aber als Captain hat man eine gewisse Vorbildfunktion und man sollte sich an die Regeln die man aufstellt auch selbst halten. Und jetzt rutsch mal.“ Sie war über das Geländer gestiegen und ließ sich, als er ihr Platz gemacht hatte, neben ihm nieder. Dann fuhr sie fort: „Ich für meinen Teil konnte nicht schlafen und habe gedacht, ein bisschen frische Luft schnappen würde mich schon müde machen. Und jetzt sag schon, was du hier machst.“ „Soso, du konntest also nicht schlafen? Na gut, dann mach ich eben mal eine Ausnahme. Ich habe heute Nacht die Wache übernommen.“ Erst jetzt bemerkte sie, dass seine Finger die ganze Zeit mit einem Medaillon spielten. Wie gebannt sah sie darauf. Ob er es wohl bewusst tat? Plötzlich hielt er es in seiner Handfläche umklammert fest und fragte: „Ist was?“ Erschrocken sah sie auf und fragte: „Was ist das für ein Medaillon?“ Verwundert erwiderte er ihren Blick, hob die Hand, in der er es hielt und ließ es fallen. Sie glaubte, es müsste auf den Boden fallen, doch es blieb in der Luft stehen, als würde es schweben. Erst war sie etwas perplex, dann aber erkannte sie, dass es an einer Kette baumelte, die um seine Finger gewickelt war. Leise fragte er: „Das hier?“ Sie nickte stumm und er lächelte: „Erkennst du es denn nicht? Du hast doch das gleiche, Kim.“ Das stimmte! Wie konnte sie es nur vergessen? Schließlich war doch darauf Jons Jolly Roger und den hatte sie ja oft genug gesehen. Warum war es ihr nur entfallen? Wahrscheinlich war sie einfach nur zu müde. Eine Zeit lang saßen sie stumm nebeneinander, dann wandte sich Kim wieder an Jon: „Warum sind denn auf deiner Flagge drei Schwerter? Ich meine, normalerweise hat man doch höchstens zwei Schwerter.“ Er schmunzelte und sagte: „Dass dir das jetzt erst auffällt? Also, es ist so, als ich mich entschloss Pirat zu werden, tat ich das mit meinen Brüdern. Der Eine wurde gleich zu Anfang von einer Welle bei einem Sturm von Bord gespült, der Andere starb in einem Gefecht. Ich habe diese drei Schwerter genommen, um ihnen zu gedenken.“ Erstaunt fragte Kim: „Du hattest Brüder?“ „Warum denn so erstaunt? Du hast doch auch Geschwister. Aber ich kann dich beruhigen, das waren meine Freunde, seit wir allerdings die Blutsbruderschaft gemacht hatten, sahen wir uns auch als echte Brüder.“ Wieder schwiegen sie, dann fragte Jon: „Warum bist du heute Abend denn so schweigsam?“ Seufzend erwiderte sie: „Ich musste nur gerade daran denken, dass Leo und ich früher manchmal hier saßen und uns die Sterne angeschaut haben, mehr oder weniger.“ Er hob skeptisch eine Braue und fragte: „Mehr oder weniger? Was habt ihr denn hier oben getrieben?“ Lachend winkte sie ab: „Nicht doch was du denkst! Wir haben uns nur geküsst, nichts weiter.“ Resignierend schüttelte er den Kopf und seufzte: „Soso, nichts weiter?“ Kim hob die Hände in die Luft und sagte: „Ich schwöre!“ Einen Moment lang sahen sie sich ernst in die Augen, dann begannen sie schallend zu lachen. Jon allerdings hielt Kim den Mund zu und sagte, nach Luft schnappend: „Psst! Sei doch leise, sonst hört uns noch jemand und ich will nicht als inkompetenter Captain gelten, der sich nicht mal an seine eigenen Regeln hält.“ Am nächsten Morgen rüttelte Jon sie wach und flüsterte: „Kim, wach auf! Wir sind eingeschlafen, die ersten Männer sind schon an Deck.“ Mit einem Mal war Kim hellwach. Waren sie etwa immer noch im Krähennest? Sie fragte sich gerade, wie sie sich am Besten aus der Affäre ziehen konnten, da sah sie, dass Jon drauf und dran war, über das Geländer zu steigen. Kim hielt ihn jedoch am Hosenbein fest und fragte vorwurfsvoll: „Spinnst du? Die werden sonst was von uns denken!“ Jon lächelte nur und erwiderte: „Vertrau mir, spiel einfach mit.“ Zwar verstand sie seine Absichten nicht ganz, aber dass sie ihm vertrauen konnte, wusste sie und kletterte ihm nach, bis sie an Deck standen. Wie Kim es erwartet hatte, fragte gleich der Erste: „Wo kommt ihr denn her? Ward ihr etwa die ganze Nacht dort oben?“ Allgemeines Gejohle machte sich breit, Jon jedoch blieb ruhig und antwortete: „Wie kommst du darauf, wir seien die ganze Nacht in diesem engen Ding gesessen?“ Etwas eingeschüchterter entgegnete dieser: „Nun ja, es ist früher Morgen und ihr kommt aus dem Ausguck.“ „Red doch keinen Unsinn, Ben, was hätten wir denn die ganze Nacht tun sollen?“ „Es ist ja ziemlich nahe liegend, dass ihr…“ Kim, die ahnte was er meinte, unterbrach ihn barsch: „Mit meinem Kapitän? Wo kämen wir denn da hin? Ich hatte nur gedacht, ich hätte eine Insel gesehen, Jon hat mir dann allerdings gezeigt, dass das nur eine Wolke war die sich im Wasser spiegelte.“ Kim hoffte, er sei stumpfsinnig genug, um nicht weiter nachzuhaken und so war es auch. Mit dieser mehr als fadenscheinigen Ausrede schien er sich zufrieden zu geben und ging wieder. Auch Kim und Jon gingen unter Deck. In ihrer Kajüte legte sie sich gleich in ihr Bett und schlief wieder ein, da sie höchsten drei Stunden geschlafen hatte. Als sie das Deck wieder betrat, strahlte die Sonne und kein Wölkchen war am Himmel zu erkennen. Ächzend drängten sich die Männer im Schatten. Es wehte kein Lüftchen, was die Hitze noch unerträglicher machte. Schon bald spürte auch sie, wie die sengende Sonne ihr Haupt verbrannte und ging zu Laffite, Terry und Edward in den Schatten. Laffite wollte sie mit einem Kuss auf die Wange begrüßen, doch sie wich zurück und sah ihn verwirrt an. Etwas beleidigt fragte dieser: „Was denn? Hast du schlecht geschlafen? Lange genug ja allemal.“ Sie seufzte: „Ach, Laffite. Juanito ist doch nicht dumm.“ Laffite stand auf und zog sie in eine abgelegene Ecke, dort flüsterte er: „Na und? Ist doch egal! Mich für meinen Teil interessiert das eh nicht.“ Was war denn jetzt los? Hatte er sie etwa falsch verstanden? Leicht verlegen entgegnete sie: „Ach Laffite, ich mag dich ja schon, aber…“ Was sollte sie ihm nur sagen? Sie wollte ihn ja nicht verletzen. Noch leiser fuhr sie fort: „Es tut mir Leid, aber, du musst verstehen, das mit Leo…“ „Leo? Was hat der denn damit zu tun? Gut, ihr ward mal zusammen aber das ist doch schon lange her, außerdem ist er jetzt eh tot. Was hält dich also auf?“ Kim schwieg. Sie musste an den Brief denken, den er ihr geschrieben hatte, wandte sich von Laffite ab und sagte: „Ich kann eben nicht so leicht loslassen.“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder zu Terry und Edward. Laffite kam nicht mehr dazu. Erst stand er nur da und sah ihr verständnislos nach, dann ging er zu einer anderen Gruppe, in der auch Ben war. Dafür gesellten sich Pio und Silvestro zu ihnen. Ersterer grinste: „Na, Kim? Ich habe gehört, du seist die ganze Nacht mit dem Captain zusammen gewesen, im Krähennest?“ Mit einem Schlafzimmerblick im Gesicht beugte sie sich zu ihm vor, strich ihm durch die Haare, legte ihre Wange an seine und flüsterte: „Pio, du bist doch intelligent, schlau, gebildet, also…“ Ihre Hand fuhr zu seinem Ohr und sie zog kräftig daran, was ihn aufschreien ließ, Teils aus Schmerz, Teils, weil er überrascht war. Kim allerdings achtete nicht darauf, sondern sagte sauer: „Glaub nicht alles was du hörst und sag nicht alles, was du denkst, das könnte dir nämlich schlecht bekommen.“ Sie ließ ihn los und lehnte sich wieder zurück. Silvestro fragte: „Und? Habt ihr?“ „Herrgott noch mal, nein!“ Pio und Silvestro grinsten sich jedoch nur an. Terry rollte mit den Augen und meinte genervt: „Als wäre es so interessant, was Kim für Liebschaften hat, hier an Bord könnte sie sich ja sowieso jeden Tag einen anderen nehmen.“ Hinter ihn war Jon getreten und schmunzelte: „Eifersüchtig?“ Daraufhin rief Pio: „Ha! Also doch!“ Aggressiv fuhr Kim ihn an: „Du suchst wohl Streit? Ich habe dir doch gerade gesagt, dass …“ Beschwichtigend hob Jon die Hand, setzte sich auf den Boden und sagte gelassen: „Lass ihn doch denken, was er will. Ich habe zwar nicht nein gesagt…“ Wieder rief Pio triumphierend auf, doch Jon fuhr unbeirrt fort: „aber auch nicht ja. Ihr müsst uns nicht glauben, letztlich wissen nur Gott, Kim und ich die Wahrheit, aber ich sage nur soviel, dass Kim euch nicht belügen würde.“ Mit einer eleganten Bewegung ihrer Hand warf Kim sich gespielt hochnäsig die Haare in den Nacken und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Noch machte sie sich keine Sorgen wegen des Windes, doch als sie schon über eine halbe Woche in der prallen Sonne lagen, ohne auch nur ein Lüftchen in den Segeln, begann sie zu zweifeln, ob Leo Recht behalten würde. Doch am fünften Tage der Woche füllten sich die Segel prall. Aber auch der Himmel zog zu; den ganzen Tag sahen die Männer besorgt gen Himmel, da es auch ein wenig tröpfelte und keiner von ihnen sich über einen Sturm freuen würde und sie hatten Glück, es zog kein größeres Gewitter auf. Als es gerade wieder aufklarte, einen Tag vor dem von Leo prophezeiten Zusammentreffen, stand Kim alleine an der Reling und schaute auf das Meer, die sanften Wellen und den Horizont. Doch da sah sie etwas Ungewöhnliches, dort, mitten im Wasser war eine Frau. Nein, ein Fisch. Kims Augen weiteten sich, war das eine Nixe? „Jon! Jon, komm mal schnell!“ Sie drehte sich um und suchte das Deck mit den Augen nach ihm ab. Er stand auf dem Achterdeck und unterhielt sich gerade mit Knoxville, der am Steuer stand. „Jon! Jetzt komm endlich! Bitte.“ Das ‚Bitte’ würde er wahrscheinlich nicht verstanden haben, doch er drehte sich genervt zu ihr um und rief: „Was ist denn? Hat das nicht Zeit?“ „Nein! Bitte komm jetzt!“ Den Kopf schüttelnd klopfte er Knoxville noch einmal auf die Schulter und ging dann zu ihr. Als er bei ihr angekommen war, zeigte sie auf das Wesen, das immer noch da neben ihrem Schiff her schwamm. Sie hatte grünliches Haar, perlengleiche Haut und eine grünlich schimmernde Flosse, anstatt den Beinen. Da sie inzwischen so nah neben der Vengeance schwamm, konnte Kim erkennen, dass sie Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte und als sie hoch sah, sah Kim ihre kirschroten Lippen und die eisblauen Augen. Die Nixe drehte sich auf den Rücken, so dass sie ihre blanke Brust sehen konnten, winkte ihnen mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zu und tauchte dann unter. Es schauderte Kim und sie sah zu Jon, der kreidebleich geworden war. Leise fragte sie: „Jon? Was ist los? Jon?“ Da er nicht antwortete, zupfte sie am Ärmel seines Hemdes und fragte ihn erneut, was los sei. Den Blick nicht von der Stelle erhebend, an der die Nixe untergetaucht war, flüsterte er: „Hast du das auch gesehen?“ Langsam drehte er den Kopf zu ihr und in seinem Gesicht spiegelte sich die nackte Angst wieder. Kim fragte bang: „Was hat das zu bedeuten?“ Jon schluckte schwer und hauchte: „Schwierigkeiten.“ Just in diesem Moment fuhren sie in weißes Wasser. Leicht hysterisch schaute Kim sich um. Das ganze Meer um sie herum war weiß, nicht mehr grün oder blau. Nein, weiß wie Milch. Da rief Knoxville: „Captain, ich habe ein Problem mit dem Kompass!“ „Versuch einfach auf Kurs zu bleiben, so gut es geht, du schaffst das schon, Knoxville, altes Haus.“ Mit diesen Worten setzte er sich auf den Boden und auch Kim ließ sich neben ihm nieder. Sie schwammen nun schon seit ungefähr zwei Stunden durch diese milchige Brühe, da zog plötzlich ein grünlicher Nebel auf. Und es dauerte nicht lange, da konnte sie kaum drei Meter weit sehen. Kim rückte näher zu Jon und flüsterte: „Was ist hier los? Was hat das alles zu bedeuten?“ Ehrlich antwortete er: „Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, dass das sicher vorbeigehen wird, wart’s nur ab.“ Doch kaum hatte er das gesagt, hörte Kim etwas blubbern, oder eher brodeln. Sie sprang auf und sah über die Reling. Was sie erkennen konnte, ließ sie frösteln. Was da so brodelte war das Meer. Sie setzte sich wieder, klammerte sich an Jon und flüsterte: „Ich habe Angst! Glaubst du, das hat etwas mit der Nixe zu tun, die wir vorhin gesehen haben?“ Er nahm sie sanft in den Arm, streichelte ihr über den Kopf und den Rücken und sagte beruhigend: „Keine Angst, das geht vorüber. Wir können froh sein, dass dieses Wesen uns nicht einen Sturm auf den Hals gehetzt hat, sondern nur diesen komischen Nebel und diese brodelnde Brühe.“ Sonderlich aufgebaut fühlte sie sich zwar nicht, aber sie ließ ihn dennoch los, da Terry, Pio, Silvestro und Edward zu ihnen kamen und fragten: „Captain, was hat das Ganze hier eigentlich zu bedeuten? Erst das weiße Wasser, dann der Nebel und jetzt auch noch brodelndes Wasser. Wusstest du etwas davon?“ „Vergelt’s Gott! Hätte ich davon gewusst, hätte ich Knoxville gesagt, er solle den Kurs ändern. Aber auch ich wurde davon überrascht.“ Gerade hatte er den Namen des Steuermanns ausgesprochen, da rief dieser vom nicht mehr zu erkennenden Achterdeck: „Captain, der Kompass spielt völlig verrückt!“ Jon sprang auf und lief in den Nebel in Richtung Achterdeck. Kim, die nicht allein sein wollte, da Terry und die anderen wieder gegangen waren, stand ebenfalls auf und eilte Jon hinterher. Weil sie aber kaum sehen konnte, wohin sie lief, stieß sie mit jemandem zusammen. Sie musterte ihren Gegenüber eindringlich und entschuldigte sich dann: „Tut mir Leid, ich habe nicht gesehen wohin ich gelaufen bin.“ Er sah mit seinen stechend grünen Augen gleichgültig, fast herablassend auf sie, fuhr sich durch die schwarzen, stoppeligen Haare und sagte kühl: „Pass halt besser auf.“ Leicht verärgert, weil sich dieser Kerl doch auch hätte entschuldigen können, knurrte sie: „Du hättest doch auch aufpassen können.“ „Kim? Bist du das? Na was für eine Überraschung! Hast dich also schon mit Jack bekannt gemacht?“ Wie aus dem Nichts tauchte neben ihr Juanito auf und legte seinen Arm um ihre Hüften. Sie tat jedoch einen Schritt zur Seite und zischte: „Darf ich um Diskretion bitten, Juanito? Und bekannt gemacht habe ich mich gewiss nicht mit Jack, wir sind nur zusammengestoßen, aufgrund dieses verdammten Nebels.“ Juanito hob unschuldig die Hände und lachte: „Soso, dann werde ich euch eben bekannt machen. Jack, das ist Kim. Kim, das ist Jack.“ Sie meinte gezwungen lächelnd: „Sehr Erfreut, Mein Herr.“ Er küsste ihre Hand und sagte monoton: „Die Freude ist ganz meinerseits, Fräulein.“ Damit drehte er sich um und ging. Kim sah kopfschüttelnd zu Juanito und fragte verstimmt: „Was ist denn mit dem los? Ist der mit dem falschen Fuß aufgestanden?“ Juanito lachte: „Ach was, der ist immer so, lass dir von ihm nur nicht die Laune verderben.“ Gezwungen lächelnd entgegnete sie: „Ach was, ich doch nicht. Aber ich muss weiter, bis dann.“ Schnell ging sie in Richtung Achterdeck und zu Knoxville, bei dem auch Jon stand. Letzterer fragte den Steuermann: „Und seit wann spinnt er?“ „Seit das Wasser begann zu brodeln.“, antwortete dieser. Kim fragte verwirrt: „Wer spinnt, seit das Wasser brodelt?“ Jon entgegnete knapp: „Der Kompass.“ „Aber der hat doch schon nicht richtig funktioniert, als wir in diesen Nebel kamen“, bemerkte Kim verwundert. Jon stöhnte genervt auf und wollte gerade antworten, da kam Knoxville ihm zuvor: „Aber da hat er nur manchmal falsch ausgeschlagen, jetzt dreht er sich permanent.“ Und Jon fügte hinzu: „Das wäre ja an sich nicht weiter tragisch, doch kann man weder die Sonne, noch die Sterne sehen, dank dieses verdammten Nebels. Zum Teufel noch mal, dieses verdammte Wetter! Knoxville, du schaffst das schon. Halt einfach so gut als möglich den Wind im Auge; ich glaube, er kam gerade von Süden.“ Wie aus dem Nichts kam Sturcart, der Navigator, angelaufen und rief, völlig außer Atem: „Der Wind hat sich gedreht, er kommt jetzt von Westen!“ Laut rief Knoxville: „Großsegel Fieren!“ Und kurz drauf hörte Kim Fußgetrappel. Es war schon spät geworden und sie fuhren noch immer durch den Nebel. Auch das weiße Wasser brodelte noch und Kim kam es immer mehr so vor, als befänden sie sich auf direktem Weg in die Hölle. Die Piraten an Deck sprachen kaum; die Angst hatte auch sie gepackt. Als es neun Uhr war, gingen sie unter Deck und nur Sturcart und Knoxville blieben noch. Kim saß an die Reling gelehnt auf dem Achterdeck, starrte, die Beine angezogen, in den Nebel in Richtung Bug und sang leise für sich: „Der Rum erheitert unser Gemüt, hier ist die Stimmung nie getrübt!“ Jon, der bis eben noch bei Knoxville und Sturcart gestanden hatte, kam auf sie zu, hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen und sagte: „Auf, es ist schon nach neun. Geh jetzt schlafen.“ Leise fragte sie: „Was hat das alles eigentlich zu bedeuten? Ist das wegen der Nixe passiert?“ „Ach was. Von solchen Dingen berichten einige, die die Gegend hier passiert haben, also mach dir keine Sorgen.“ „Ich habe aber Angst, wer weiß, ob wir morgen früh wieder aufwachen werden? Wenn nun ein Seelenhändler auf unser Schiff kommt? Oder dieser Folkhorn uns bei Nacht überrascht?“ Er streichelte ihr über den Arm und sagte beruhigend: „Seelenhändler kommen nicht einfach so auf fremde Schiffe und dieser Bastard Folkhorn wird uns kaum überraschen, da Terry Wache hält. Und jetzt geh schlafen, keine Widerrede!“ Noch immer murrend ging sie dann doch unter Deck und legte sich in ihr Bett. Doch schlafen konnte sie nicht. Eine Weile wälzte sie sich hin und her, dann stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang und trat in Jons Kajüte. Sie rüttelte ihn wach und auf seine Frage, was los sei, antwortete sie: „Ich kann nicht schlafen. Darf ich zu dir?“ Noch immer im Halbschlaf hob er seine Decke an und sie schlüpfte rasch darunter. An seiner Seite wurde sie ruhiger. Die Wärme unter seiner Decke ließ sie träge werden und, seinen Arm um sich legend, endlich einschlafen. Am nächsten Morgen wurde sie recht unsanft von Knoxville geweckt, der aufgebracht rief: „Captain, du musst an Deck kommen, schnell!“ Als er aber genauer aufs Bett sah, fragte er ungläubig: „Kim? Was machst du denn hier?“ Hinter sich spürte sie, wie sich Jon aufrichtete und er erklärte: „Sie hatte Angst. Was gibt es denn?“ Etwas skeptisch antwortete Knoxville: „Das Wasser ist wieder ruhig und sieht recht normal aus.“ „Und was ist mit dem Nebel und dem Kompass?“ „Der Nebel lichtet sich langsam und auch der Kompass hört allmählich auf, sich kontinuierlich zu drehen.“ „Wie viel Uhr ist es?“ „Kurz vor fünf. Meine Schicht hat gerade wieder begonnen. Wieso?“ „Weil du mich um kurz vor fünf geweckt hast, obwohl sich unsere Lage nicht verschlechtert hat. Nein, ganz im Gegenteil, es wird alles wieder normal. Also geh zurück auf deinen Posten und tu deinen Job, aber lass mich schlafen!“, donnerte Jon. Knoxville zog sich zurück wie ein geprügelter Hund. Da hatte er mal eine gute Nachricht, wurde aber nur gescholten. Gähnend sank Jon wieder zurück in die Kissen. Kim kuschelte sich noch ein bisschen an ihn und versuchte wieder einzuschlafen, doch konnte sie es nicht. Anscheinend konnte auch Jon nicht mehr schlafen, denn nach ungefähr einer halben Stunde stand er vorsichtig auf, da er glaubte, sie schliefe noch und sie nicht wecken wollte, und ging an seinen Schreibtisch. Dort holte er aus einer Schublade ein schwarz eingebundenes Büchlein, an dem mit etwas Schnur ein Stift befestigt war und begann darin einzutragen. Als er so dasaß und schrieb, kam es ihr vor, als wäre er ein ganz anderer Mensch. Er war ernst und konzentriert nichts falsch zu schreiben. Schließlich klappte er das Buch zu, legte es zurück in die Schublade und blickte zu ihr. Wie er sah, dass sie wach war und die Augen geöffnet hatte, lächelte er sie milde an und fragte: „Habe ich dich geweckt?“ Zurücklächelnd entgegnete sie: „Nein, das hat Knoxville schon erledigt. Aber ich konnte genauso wenig wieder schlafen wie du.“ Sie sah zu seinen Bullaugen, es dämmerte noch nicht einmal und trotzdem war sie hellwach, obwohl sie nur wenig geschlafen hatte. Sie reckte sich und stand gemächlich auf. Alles was sie trug war ein weißes, enges T-Shirt und kurze Hosen. Jon musterte sie mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte, jedoch fühlte sie sich nicht unbehaglich dabei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und Sturcart brüllte: „Captain, am Horizont haben wir drei fremde Schiffe gesichtet. Sollen wir angreifen?“ Grinsend musterte er Kim, die da so knapp bekleidet vor ihm stand. Jon reagierte rasch und rief: „Ich komme sofort, geh schon vor.“ Sturcart schloss murrend die Tür. Jon kam langsam auf sie zu, drückte sie an sich, streichelte ihr durchs Haar und flüsterte: „Das wird er wohl sein. Also geh schnell in deine Kajüte und zieh dir was über.“ Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, doch nicht wegen Jon, sondern aus Angst vor dem Kommenden. Würden sie wohl gegen Folkhorn bestehen? Ohne ein weiteres Wort ließ Jon sie los und stürmte aus seiner Kajüte. Auch Kim machte sich auf den Weg, allerdings ging sie in ihre Kajüte, zog sich eine Jeans an und nahm ihre Steinschlosspistole, ihr Entermesser und steckte ihren Dolch in ihre rechte Socke. Ansonsten blieb sie wie sie war, zog sich aber noch einen Pulli über das leicht durchscheinende T-Shirt. Anschließend eilte auch sie an Deck. Alle standen am Bug des Schiffes und versuchten einen Blick auf die feindlichen Schiffe zu erhaschen, denn Jon hatte soeben angekündigt, dass sie den Kampf aufnehmen würden. Sie hatten alle gestern Abend zum letzten Mal ihre Waffen auf Fordermann gebracht. Genau wie die anderen Schiffe auf ihrer Seite hatten sie ihren Jolly Roger gehisst. Als die Piraten um sie herum das Grölen und Pfeifen begannen, griff sie nach dem Fernrohr, das gerade umging und sah den Grund für die Pfiffe. Das größte der drei Schiffe hatte auch einen Roger gehisst, dieser war allerdings rot und darauf war anscheinend ein Edelmann, der einen Säbel in die Luft streckte und den Fuß auf einem Totenkopf hatte, worunter in großen Lettern stand: APH. Kim verstand sofort, was das bedeutete. Sauer zischte sie: „A pirate’s head. Nun Folkhorn, unsere Köpfe bekommst du nicht!“ Und auch sie stimmte in die Pfiffe mit ein. Als die Schiffe gerade nahe genug waren, dass man auf das andere Deck konnte, stand die Sonne blutrot über dem Horizont. Das Gefecht dauerte schon ungefähr eine Stunde und Folkhorns Leute hielten sich gut, doch hatte Kim ihn noch kein einziges Mal gesehen, obwohl sie auf der Junivo kämpfte. Sie zog sich gerade in einen abgelegenen Winkel zurück, um ihre Pistole nachzuladen, da zerrte sie jemand am Arm aus dem Winkel, ein großer Kerl in einer Marineuniform. Er sah recht dümmlich aus, doch er grinste: „Was haben wir denn hier? Ein Mädchen? Sag, Mädchen, gehörst du zu den Piraten?“ „Worauf du Gift nehmen kannst!“, brüllte sie und wollte gerade den Dolch aus ihrem Socken ziehen, da zischte der Marinekerl: „Na, na, na, so was macht man aber nicht, ich will dir doch einen Handel vorschlagen.“ Als sie selbst eine kalte Klinge unter ihrem Kinn spüren konnte, richtete sich auf und fragte hasserfüllt: „Was willst du mit mir verhandeln?“ Er kam ihrem Gesicht ganz nahe, leckte genüsslich über ihre Wange und flüsterte: „Wie du siehst, bin ich ein hohes Tier in der Marine. Und ich möchte eine solche Schönheit wie dich nicht einfach so an den Tod ausliefern, also schlage ich dir folgendes vor: Wenn du dich mir hingibst, werde ich dich nur fürs Erste gefangen nehmen. Leider kann ich dich nicht laufen lassen, da du dich zu diesen Piraten bekennst und so etwas könnte meine Gönnerin, die Königin von England, nicht dulden. Na, was sagst du?“ Sie knabberte leicht an seinem Ohr, biss dann aber kräftig zu und riss so lange, bis der Widerstand nachließ. Der Uniformierte schrie auf und sie spuckte angewidert das Stückchen von seinem Ohr aus, das sie abgerissen hatte. Dann brüllte sie: „Nur über meine Leiche!“ Er sah das Blut an seiner Hand mit der er sich das Ohr gehalten hatte, geriet in Raserei und brüllte: „Das kannst du haben, Miststück!“ In blinder Wut stürmte er mit seinem Dolch auf sie zu, aber sie bückte sich, um ihren eigenen Dolch zu ziehen und er rannte über sie hinweg, mitten in einen Anderen, dessen stechend grüne Augen Kim sofort wieder erkannte, es war Jack. Mit bloßer Hand hielt er das Messer fest. Kim sah, wie sein Blut zu Boden tropfte und verzog das Gesicht vor Mitgefühl. Er hatte Glück, dass der Kerl es anscheinend nicht für nötig hielt, seine Waffen richtig zu pflegen, denn sonst hätte ein Dolch dieser Qualität durch seine Hand geschnitten wie durch warme Butter. Doch so war es nicht und Jack schlug mit der anderen Faust so hart zu, dass der Offizier nach diesem einzelnen Schlag zu Boden sank und bewusstlos liegen blieb. Kim hörte Jack noch knurren: „Und so was nennt sich hohes Tier bei der Marine.“ Dann hob sie ihre Pistole auf und zog sich weit in den Schatten zurück, wo sie sie aufs Neue lud. Doch wie sie sich kurz nervös umsah, sah sie, nicht viele Meter von sich entfernt, einen Kerl in prächtiger Kleidung und einem großen Hut in einer Ecke kauern. Ohne groß nachzudenken, wer das war, entsicherte sie und schoss ihm direkt in den Kopf. Sie wusste, dass er von der gegnerischen Partei gewesen war, doch wer genau er war, wollte sie jetzt herausfinden, da sonst niemand dieser Bande solch feine Kleider trug. Sie kroch auf allen Vieren zu ihm herüber, beachtete das Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf quoll nicht und suchte in seinen Taschen nach irgendwelchen Indizien. Und da fand sie, in der Innentasche seines Mantels, ein Dokument. Sie faltete es auseinander und las was darauf stand. Ihre Augen weiteten sich. Das war der Kaperbrief, der dieses Gesindel legal machte und darunter konnte sie den Schriftzug der englischen Königin und den Folkhorns sehen. War dieser Kerl, den sie da gerade erschossen hatte, etwa Folkhorn? Sie schielte noch einmal auf den leblos scheinenden Kerl und musste grinsen. Sie lief zum nächst besten Piraten, den sie als Raucher kannte und bat ihn um Feuer. Dann stahl sie sich zum oberen Baum des Hauptmastes und rief: „Schaut her, Gesindel! Dort, unter dem Treppchen zum Achterdeck liegt euer großer Captain, den ich erschossen habe und der sich dort zusammengekauert versteckt hatte, mit eingezogenem Schwanz. Hier habe ich euren Kaperbrief“ Sie hielt das Papier in die Luft. „Und jetzt seht, was ich damit mache!“ Mit einem überlegenen Grinsen hielt sie das angezündete Streichholz darunter und beobachtete, wie es verbrannte. Als es ihr allerdings etwas zu warm wurde, ließ sie es fallen und schaute mit Genugtuung von einem bestürzten Gesicht der Freibeuter zum anderen. Die Piraten allerdings lachten schallend und nahmen den Kampf, der von diesem Augenblick an ziemlich einseitig war, wieder auf. Gegen Mittag war alles vorbei, die Gefangenen auf die Schiffe gebracht und die Verwundeten zum Großteil verarztet. Kim suchte nach jemandem, fand ihn aber nicht. Schließlich fiel ihr eine Gruppe junger Kerle ins Auge, unter denen sich auch Juanito befand und die sich anscheinend angeregt unterhielten. Sie ging auf sie zu und sah ihn da, im Schatten neben dieser Gruppierung, auf dem Boden sitzen. Schüchtern kam sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Eine Weile lang sagte sie nichts und auch er sprach nicht. Doch dann fragte Kim: „Wie geht es deiner Hand?“ Monoton antwortete er: „Edward hat sie genäht und verbunden.“ „Ich wollte dir eigentlich danken, ohne dich hätte der Typ mich wahrscheinlich umgebracht.“ Gleichgültig entgegnete er: „Ich kann es nur nicht leiden, wenn sich ganze Kerle an kleinen Mädchen vergreifen.“ Irgendwie war dieser Jack komisch. Er war so abweisend, aber doch nicht unfreundlich. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie fand ihn sympathisch, aus welchem Grund auch immer, deswegen wollte sie auch das Gespräch nicht abreißen lassen und fragte: „Tut deine Hand noch sehr weh?“ „Nein.“ „Hat Edward es denn desinfiziert?“ „Ja.“ „Hm, glaubst du, es werden noch viele exekutiert?“ „Ja.“ „Wie viele schätzt du?“ „Alle.“ Sich nicht unterkriegen lassend lächelte sie: „Ich denke nicht, dass alle ihr Leben lassen werden, aber viele schon. Eigentlich können wir ja mitbestimmen, aber letztendlich bleibt es doch Jons Entscheidung. Was hältst du eigentlich von ihm?“ Er zuckte nur mit den Schultern und Kim fuhr fort: „Ich denke, uns hätte gar nichts besseres passieren können, als ihn zum Kapitän zu bekommen. Er ist gerecht, mutig und klug. Was will man mehr?“ Erneut zuckte Jack nur mit den Schultern. Sie sah zu ihm und erkannte, dass er seine Augen geschlossen hatte und versuchte, zu schlafen. Nun gab sie endlich auf und flüsterte: „Na dann schlaf schön. Und danke noch mal.“ Sie stand auf und wollte gerade gehen, da kam Juanito, der das ganze beobachtet hatte, auf sie zu und fragte: „Du wirst dich doch wohl nicht in unseren Jack verlieben? Halt dich doch lieber an mich, der Kerl ist so ein Emotionsloser Klotz.“ Vom Boden her hörten sie Jack knurren: „Das hab ich gehört, Halbblut.“ Juanito aber grinste: „Dann ist ja gut, dass du so gute Ohren hast.“ Kim hatte versucht, sich wegzuschleichen, um aus Juanitos Umfeld zu kommen, doch dieser bemerkte es rechtzeitig und fragte skeptisch: „Wo willst du denn hin, Kim?“ Verlegen lachte sie: „Nun, ich dachte, ihr würdet jetzt eine Diskussion beginnen und wollte mich da lieber raushalten.“ Gerade wollte er etwas entgegnen, da hörte sie lautes Stimmengewirr. Verwundert drehte sie sich zu der Richtung, aus der der Lärm kam und ihre Mimik verfinsterte sich. Mit großen Schritten ging sie auf den Uniformierten zu, der von zwei Piraten gehalten wurde, da er um sich schlug und trat. Kim allerdings stellte sich gerade vor ihn hin, worauf er ganz still wurde und alles um sie herum auf sie schaute. Sie holte aus und ohrfeigte diesen Unhold so kräftig sie konnte. Die Piraten johlten auf, der Marine Offizier aber zeigte keinerlei Regung, sondern grinste sie stattdessen an: „Soso, Kleine. Wenn ich schon sterben werde, willst du mir dann die letzten Stunden versüßen?“ Sie versuchte tief durchzuatmen, Ruhe zu bewahren, doch sie schaffte es nicht und schrie: „Du verdammte Drecksau! Mit dir in tausend Jahren nicht!“ Sie wollte gerade auf ihn losgehen, ihn noch einmal schlagen, da hielt sie jemand von hinten zurück und unterdrückte ihren Ausbruch. Ihr Gegenüber lachte nur, doch sie grinste kalt, als sie sich wieder beruhigt hatte: „Wart's ab, wer als letzter lacht. Du wirst heute noch sterben und kannst dich nie wieder mit einer Frau vergnügen. Ich hingegen habe noch mein ganzes Leben und viele Männer vor mir.“ Er hörte auf zu lachen und sie fuhr noch gehässiger fort: „Na? Was ist los? Da ist dir das Lachen wohl im Halse stecken geblieben! Was ist jetzt? Nimm mich doch fest, vielleicht wird die Königin ja Gnade walten lassen. Unser Kapitän allerdings nicht!“ Derjenige, der ihre Hände hinter ihrem Rücken bändigte, zog sie von ihm weg und flüsterte ihr ins Ohr: „Pass lieber auf, Kim, vielleicht lasse ich ihn gar nicht hinrichten und wenn er es dann auf dich abgesehen hat und schlecht auf dich zu sprechen ist, könnte es dir schlecht ergehen.“ Sie hatte schon erkannt, dass es Jon war, der sie da bändigte, da hatte er sie gerade erst festgehalten. Jetzt ließ er sie wieder los und drehte sie zu sich um, um sicher zu gehen, dass sie sich wieder beruhigt hatte. Sie starrte ihn jedoch nur mit großen Augen an und fragte: „Was meinst du damit, dass wir ihn nicht umbringen?“ „Damit meine ich, dass wir ihn wahrscheinlich am Leben lassen, also verscherz es dir nicht mit ihm, denn wir können nicht 24 Stunden am Tag auf ihn aufpassen.“ Sie wollte gerade noch etwas sagen. Da hörte sie einen lauten Knall hinter sich und drehte sich blitzartig um. Dort, schon fast hinter dem Horizont verschwunden, stand eines der drei Schiffe Folkhorns in Flammen. Es tat einen zweiten Knall und das Schiff links daneben explodierte. Das, was noch davon übrig blieb, trieb noch eine Weile auf dem Meer. Kim beachtete es nicht weiter, da alle Schätze schon auf ihren Schiffen waren. Sie wandte sich wieder an Jon und flehte: „Jon, bitte, das kannst du mir nicht antun! Der Kerl wird mich vergewaltigen, erwürgen, erschlagen, vierteilen, anzünden und dann ins Meer werfen, um die Beweise zu vernichten.“ Jon lachte kurz auf, als hätte sie einen Witz gemacht. Ihr war es allerdings ernst und erst recht, als sie noch einmal einen Blick auf den Uniformierten warf, der sie überlegen angrinste. Es lief ihr kalt den Rücken runter, als sie sah, wie die beiden Piraten ihn unter Deck schleppten, er sie aber stetig angrinste. Verzweifelt flehte sie: „Er kommt aber nicht in meine Kajüte, auch wenn es die einzige ist, die man abschließen kann. Wer weiß, was diese Type mit meinen Sachen anfangen würde.“ Jon lächelte nachsichtig: „Keine Sorge, der kommt zu unserem ehemaligen Marine-Mitglied, Jack.“ Jack war einmal Mitglied der Marine gewesen? Warum war er denn dann jetzt Pirat? Gerade wollte sie Jon fragen, da entschuldigte er sich und ging, um eine Streitigkeit zu klären. Mit hängendem Kopf ging sie zu Terry, Pio, Laffite und Edward, die, alle mit nacktem Oberkörper, im Schatten saßen und Karten spielten. Als sie Pio fragte, wo denn Silvestro sei, antwortete der, sich scheinbar vollkommen auf das Spiel konzentrierend: „Der Gute hat die Schlacht nicht überlegt. Dieser Waschlappen!“ Kim wurde still und sah ihnen zu, wie sie spielten und Terry, der eine Glückssträhne hatte, immer übermütiger wurde, bis er schließlich fast alles verlor und knurrend aufhörte zu spielen, bevor er noch Schulden machte. Sie würden nicht sofort wieder nach New Providence segeln, sondern in einer Bucht, nicht weit davon entfernt, das Schiff Kielholen, genau wie McQuilligan. Sie stieg in keines der kleinen Beiboote, sondern sprang, wie die Meisten, einfach über die Planke ins Meer um dann zum Strand zu schwimmen. Es war wie ein Sprung ins Paradies. Das Wasser war klar und herrlich kühl, eine willkommene Abwechslung zum heißen Deck. Während sie sprang quietschte sie vergnügt und landete geräuschvoll und möglichst viel Wasser verspritzend im Meer. Als sie schließlich den weißen Sand unter ihren Füßen und zwischen den Zehen spürte, entledigte sie sich ihrer nassen Kleider, sie hatte darunter einen Bikini an, und legte sich in den Schatten, eine kleine Siesta zu halten, bis die anderen das Schiff an den Strand geholt hatten. Doch aus der Siesta wurde ein tiefer und fester Schlaf, aus dem sie erst wieder erwachte, als lautes Stimmengewirr sie weckte. Es war schon dunkel und wahrscheinlich waren die Schiffe schon längst Kiel geholt worden. Am Strand, nur ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt, hatten die Piraten ein Lagerfeuer entzündet, saßen oder tanzten nun darum und lachten, tranken und sangen. Kim rieb sich den Schlaf aus den Augen, zog sich ihre Kleider an, die inzwischen wieder trocken waren und ging zu ihnen. Der erste dem sie begegnete musste allerdings gleich Terry sein, der sie anschnauzte: „Na, Dornröschen? Gut geschlafen? Wie schaffst du es nur immer wieder dich vor der Arbeit zu drücken?“ Er roch ziemlich nach Alkohol, genau wie McQuilligan, der Terry beiseite stieß und begann mit Kim herumzuwirbeln, was er anscheinend unter Tanzen verstand. Anfangs ließ sie sich noch von ihm mitreißen, doch mit der Zeit wurde ihr schwindelig und anscheinend ging es auch McQuilligan nicht anders, der stolperte und auf sie stürzte. Lachend lallte er: „Hättst du n paar mehr Kurven un n bissel mehr Fleisch aufn Rippen, würd ich dich glatt hinner die nächste Palme schleifen.“ Affektiert lachend schob sie ihn von sich und stand, leicht von ihm angewidert auf, um dann zu Pio, Chidi, Edward und Aodh zu gehen. Die saßen da beim Lagerfeuer, redeten, lachten und tranken. Kim tat es ihnen gleich und mit der Zeit hatten sich auch Terry und Laffite zu ihnen gesellt. Kim versuchte Laffites Blicke zu meiden, doch das war schwer, da er sie penetrant anstarrte und jedes Mal wenn sich ihre Blicke streiften, lächelte er ihr treudoof zu. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schaute sich um, ob nicht noch andere interessante Gruppen zusammen saßen, doch ihr fiel nichts Besseres ins Auge, als die Juanitos und Jacks. Sie verglich gequält, was besser war, ein vertrottelter oder ein arroganter Verliebter. Letztlich entschied sie sich dafür, zu Juanito zu gehen, was nicht wenig damit zu tun hatte, dass Laffites Gesichtsausdruck immer verträumter geworden war und sie sich nicht vorstellen wollte, an was er gerade dachte. So ging sie hinüber zu Jack und Juanito, von deren Gruppe sie herzlich aufgenommen wurde, indem ihr eine Flasche Rum zugeworfen wurde. Auch Juanito starrte sie mehr oder minder an und schenkte ihr gelegentlich ein anzügliches Lächeln, doch sah er nicht aus, als würde er in Tagträumen versinken. Sie saß zwischen Jack und einem Kerl, sie schätzte ihn ein Jahr jünger als sich, der von allen Consot gerufen wurde. Juanito sprach sehr viel, insbesondere von sich, was sein Lieblingsthema war, wie Kim schon früh bemerkt hatte. Nach einer gewissen Weile hörte sie ihm nicht mehr zu, sondern unterhielt sich mit dem Jungen neben ihr. Eigentlich hieß er Jules und kam aus Frankreich. Was sein Alter anging, hatte Kim sich um ein Jahr verschätzt, denn er war erst 15. Als er ihr das gesagt hatte, nahm sie ihm aus Spaß die Flasche weg und sagte: „Pfui, schäm dich! Minderjährige dürfen keinen Alkohol trinken.“ Gelassen nahm er sie ihr aus der Hand, trank einen großen Schluck und sagte, überheblich lächelnd: „Na volljährig bist du ja wohl auch noch nicht, höchstens 18.“ „Nein, 17. Aber was mich noch interessieren würde, warum bist du Pirat geworden?“ „Das weißt du nicht? Ich bin zu euch gekommen, als meine Mannschaft vor sechs Wochen gegen deine verloren hat. Das war meine erste Fahrt auf See und auch mein allererster Kampf. Aber ich hab es geschafft einen umzulegen, so ein blonder Kerl, mit blauen Augen. War nicht leicht, aber er war schon total fertig und hat ziemlich stark geblutet. Außerdem glaube ich, dass er nicht mehr alle Finger beisammen hatte.“ Er lachte auf, als hätte er einen Scherz gemacht, doch Kim fröstelte und murmelte, während sie sich über die Oberarme rieb: „Leo.“ Juanito unterbrach sich, sah sie verwundert an und fragte: „Sag mal, Kim, friert es dich? Wirst du krank?“ Er legte seine Hände an ihr Gesicht und seine Stirn an ihre. Kim jedoch konnte diesen Körperkontakt gar nicht abhaben, stieß ihn von sich und brüllte: „Fass mich nicht an! Du bist nur ein eingebildeter, arroganter Sack, der andauernd nur von sich redet. Mehr kannst du gar nicht, also lass mich in Ruhe, du Bastard!“ Wütend sprang sie auf und ging weg von ihnen. Weg von diesem süffisanten Lächeln Juanitos, weg von Jacks unaufhörlichem Schweigen und weg vom Mörder ihres geliebten Leos. Schnaubend setzte sie sich an einen Platz etwas abgelegener und sah aufs Meer. Sie war so zornig wie schon lange nicht mehr. Hatte es dieser Knirps doch tatsächlich gewagt, Leo umzubringen. Dafür sollte auch er mindestens sterben, obwohl sie das noch zu gering fand. Doch schon bald sah sie ein, dass das wohl keine so gute Idee war, schließlich hatte sich der Kleine, der sie um fast einen Kopf überragte, ja nur gewehrt und sie zu viel Alkohol genossen. Gerade versuchte sie sich vorzustellen, wie wohl ihr Kampf ausgesehen haben mochte, da setzte sich ein Mann rittlings hinter sie. Er umfasste ihren Bauch, liebkoste zärtlich ihren Hals und flüsterte: „Willst du nicht mit mir kommen? Glaub mir, ich bin nicht rau oder ungehobelt.“ Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, doch seine Umarmung wurde nur noch verlangender. Begierig knabberte er an ihrem Ohrläppchen und fuhr fort: „Sei doch nicht so prüde. Nur eine Nacht, ich habe es doch so vermisst, den weichen Körper einer Frau unter mir zu spüren. Und in diesem Kaff, New Providence, gibt es nur hässliche Vetteln. Aber du, du bist schön und anmutig. Erfülle einem armen Piraten - Mann - einen Wunsch. Erbarme dich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du seist ein Engel, denn dein Antlitz scheint nicht von dieser Welt, es ist göttlich, wie das einer Amazone und deine Stimme macht mich toll, so weich und lieblich. Dein gesamtes Erscheinen, so feminin und doch heroisch mit den Haaren, die sanft im Wind wehen. Komm nur dieses eine Mal mit mir.“ Inzwischen hatte er den Träger ihres Tops von ihrer Schulter gestriffen und küsste nun auch diese. Sie versuchte zwar immer noch sich von ihm loszumachen, jedoch nicht mehr so bestimmt. Der Pirat hinter ihr schien das zu spüren und wurde etwas mutiger. Er streichelte ihr über die Innenseite ihres Oberschenkels und machte ihr immer mehr Komplimente. Schließlich drehte er mit seiner anderen Hand ihren Kopf zu sich und küsste sie sanft auf die Lippen. Er hatte nicht gelogen, denn er war weder rau noch ungehobelt. Da es aber dunkel war und er vom Lagerfeuer abgeneigt saß, konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Sie war hin und her gerissen zwischen ihrer Moral und ihrem Verlangen. Konnte sie es denn mit Laffite, Juanito und vor allem sich selbst ausmachen, wenn sie sich jetzt diesem Fremden hingab? Aber irgendwie schien ihr Herz ihm zuzustimmen, sie fühlte sich bei ihm wohl, so sicher und geborgen. So hatte sie sich sonst nur bei Leo gefühlt. Als sie bemerkte, was für einen Vergleich sie da aufgestellt hatte und wie richtig dieser war, wandte sie ihr Gesicht wieder zu ihm und küsste ihn zärtlich. Als sie aufwachte, spürte sie, wie das Schiff wieder von sanften Wellen geschaukelt wurde und in ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Was war eigentlich geschehen nachdem sie bei Juanito und Jack gesessen hatte? Einen Moment überlegte sie angestrengt, dann brachten die Kopfschmerzen sie davon ab und sie schloss wieder ihre Augen. Doch im nächsten Augenblick öffnete sie sie schlagartig wieder. Das war nicht ihre Kajüte, in der sie da war! Und auch nicht ihr Bett, in dem sie lag. Außerdem hatte sie keinen Schlafanzug oder dergleichen an. In ihr machte sich eine Befürchtung breit und sie drehte sich bedächtig um. Ihr stockte der Atem. Da neben ihr lag ein Mann und er hatte, genau wie sie, nichts an. Aber was sie noch mehr aus der Fassung brachte war, dass dieser Mann Leo so ähnelte, dass sie im ersten Moment geglaubt hatte, er läge leibhaftig neben ihr. Als sie vorsichtig aufstehen wollte, bewegte sich der Fremde, legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Gerade versuchte sie sich aus seinem Griff zu befreien, da wachte er auf, küsste sie zärtlich in den Nacken und flüsterte: „Bleib doch noch da. Wir kommen erst gegen Nachmittag in New Providence an.“ Doch sie setzte sich verstört auf, ihre Blöße mit dem Laken bedeckend und fragte: „Wer bist du? Was mache ich hier und wo bin ich hier?“ Etwas verwundert fragte er: „Weißt du das etwa nicht mehr?“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und stand auf. Als sie seinen Blick im Rücken spürte, fauchte sie: „Schau weg! Ich will mich anziehen!“ Doch den Gefallen tat er ihr nicht und grinste: „Warum sollte ich? Nach der Nacht?“ Sie war schon halb angezogen, da stand auch er auf und zog sich etwas über. Sie wollte sich gerade die Haare zusammenbinden, da sagte er lächelnd: „Lass sie doch offen, das steht dir so gut.“ Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm den Gefallen tun sollte, da band sie sich doch einen Zopf. Anschließend setzte sie sich auf die Bettkante und fragte erneut: „Wer bist du eigentlich und wo bin ich?“ Er setzte sich hinter sie, begann ihr den Nacken zu massieren und sagte: „Du bist auf der Black Cross, Captain McQuilligans Schiff. Und ich bin Charles.“ Er hielt inne und stellte dann fest: „Irgendwie komisch, sich vorzustellen, wenn man sich schon einmal vorgestellt und mit dem Anderen geschlafen hat.“ Seinen letzten Satz, ob nun absichtlich oder nicht, überhörend, fragte sie: „Und warum bin ich nicht auf der Vengeance?“ „Wahrscheinlich, weil dein Kapitän keine Lust hatte, zu warten, bis du aufwachst und wir in New Providence eh wieder zusammentreffen.“ „Also weiß Jon, dass ich hier bei dir bin?“ „Wer ist Jon?“, fragte Charles irritiert. Abwesend sagte sie: „Der Captain.“ „Du nennst ihn beim Vornamen?“ Sie antwortete nicht. Er hörte auf sie zu massieren, sondern legte seine Arme um ihren Bauch und seinen Kopf auf ihre Schulter. Eine Weile schwiegen sie und Kim überlegte, was Jon wohl jetzt von ihr halten würde. Würde er denken, sie wäre ein billiges Flittchen geworden? Dieser Gedanke schmerzte sie und um ihn zu verdrängen fragte sie: „Sag mal, Charles, warum bist du so,… so… freundlich, so zärtlich?“ Leise sagte er: „Ich weiß nicht, normalerweise bin ich gar nicht so, aber du bist anders als andere Frauen, ganz anders. Du kommst mir außerdem so bekannt vor.“ Ihre Hände auf seine legend sagte sie: „Du erinnerst mich auch an jemanden. Jemanden, den ich sehr geliebt habe. Er hatte die gleichen Haare wie du und auch seine Augen sahen deinen so ähnlich.“ „Warum sprichst du von ihm im Perfekt?“ „Er ist tot.“ „Warum?“ Etwas irritiert fragte sie: „Was warum?“ Und nachdrücklicher entgegnete er: „Na, warum er tot ist, will ich wissen. Wie ist er gestorben?“ Sie schwieg und er verstand wohl, dass sie nicht über seinen Tod sprechen wollte und fragte deshalb: „Und warum erinnere ich dich so an ihn? Blonde Haare und blaue Augen haben doch viele Männer.“ Sie lehnte sich zurück an seine Brust und erzählte leise: „Ich weiß auch nicht, aber etwas ist an dir, was er auch hatte, du ähnelst ihm in jeglicher Hinsicht, soviel ich bis jetzt weiß. Deine Art dich zu bewegen, mich zu massieren, die Zärtlichkeit deiner Berührungen, deine Sprache, deine Stimme. Auch deine Züge sehen ihm so ähnlich und deine Augen. Sie sind genau wie seine. Leo hatte auch diese tiefen blauen Augen; wenn man in sie schaut, denkt man, man könne hineinfallen, so tief sind sie und auch so klar. Einfach alles an dir erinnert mich an ihn.“ „Ist es dann nicht schmerzhaft für dich bei mir zu sein?“ „Ich weiß es nicht. Einerseits lässt es wieder die Erkenntnis, dass er tot ist bewusst in mir aufsteigen und nicht mehr mit ihm zusammen sein zu können tut sehr weh, aber andererseits sind alle meine Erinnerungen an ihn glücklich und wenn ich mich an seine Liebe zu mir erinnere, dann wird mir warm ums Herz und ich bekomme Schmetterlinge im Bauch, wie bei seiner ersten Berührung. Aber was erzähle ich dir das? Liebe interessiert dich wahrscheinlich sowieso nicht, du magst lieber Affären, die für ein oder zwei Nächte halten. Die Leidenschaften einer Frau interessieren dich doch nicht.“ Sie schalt sich selbst, dass sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Sie hatte eine Affäre mit ihm gehabt und kannte ihn, nüchtern, erst seit ein paar Minuten. Warum also hatte sie ihm ihre Gefühle offenbart? Er lachte jedoch auf und meinte: „Ganz im Gegenteil, das Geschwärme einer Frau interessiert mich immer und auch eine Frau fürs Leben wäre sicher nichts Schlechtes, es müsste sich nur die richtige finden.“ Sie sagte nichts, schloss die Augen und atmete tief durch. Doch sie öffnete die Augen schlagartig wieder und es lief ihr ein Schauer über den Rücken. Auch sein Duft erinnerte sie an Leo. Es war schon direkt unheimlich, wie sehr sich die Beiden ähnelten. Hieß es nicht, jeder hätte einen Zwilling auf der Welt? Vielleicht war dies Leos. Verbittert musste sie auflachen. Sie hatte sich schon Gedanken gemacht, sie könnte ihn betrogen haben, weil sie sonst keine Bindung haben wollte, aber konnte sie ihn mit ihm selbst betrügen? Sie hatte etwas Angst an Deck zu gehen. Was würden die Fremden Piraten zu ihr sagen? Was würde McQuilligan sagen? Doch ihr knurrte der Magen so sehr, dass sie darauf bestand etwas zu essen. So ging sie, in einigen Metern Sicherheitsabstand, hinter ihm her in die Kombüse. Wo sie sich etwas zum Essen stibitzten. Als sie an Deck kamen, sahen die anderen Piraten in einer Mischung aus Neugierde und Begierde zu ihr und musterten sie. Charles ging zu seinen Kollegen und sie stand etwas verloren an Deck, den Blicken der Seeräuber schutzlos ausgeliefert. Doch jemand legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie mit sich zu Charles und fragte ihn: „Sag mal, Charles, was findest du an der Kleinen? An der ist doch gar nichts dran. Ich hätte ja Angst, etwas kaputt zu machen, wenn ich sie richtig anpacken würde. Wie hast du das nur gemacht?“ Der Angesprochene schaute auf und entgegnete grinsend: „Nun, Captain, nicht jeder greift so kräftig zu, aber als Frau hätte ich bei dir auch lieber eine dicke Fettschicht.“ Der Mann, der neben ihm saß, stieß ihn kameradschaftlich mit dem Ellenbogen an und meinte feixend: „Woher weißt du denn, wie fest der Captain zupackt? Hast du es etwa schon mal ausprobiert?“ Aggressiv knurrte er: „Also so nötig hab ich’s ja nun auch wieder nicht und selbst wenn, du wärst der Letzte, dem ich es erzählen würde.“ McQuilligan, dem gar nicht passte, wie von ihm gesprochen wurde, fuhr den Anderen an: „Wenn du Charles irgendwelche Schwuchteleien unterstellst, dann von mir aus, aber der Spaß hört auf, wenn du mich da mit reinziehst! Morgen darfst du allein das Deck schrubben, merk dir das.“ Erst knurrte der Angesprochene eine Bestätigung, doch als McQuilligan dann brüllte: „Ich habe nichts gehört!“, sagte er lauter: „Ai, Sir!“ Der Kapitän sah noch einmal die ganze Runde an, dann drehte er sich um und ging. Der Kerl, der vorhin so frech gewesen war, salutierte heimlich, als wäre McQuilligan ein General, doch dieser drehte sich um und brüllte: „Du hast dir gerade eine ganze Woche eingehandelt, Matrose!“ Charles konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und lachte ihn, genau wie die anderen, aus. Nur Kim lachte nicht mit ihnen. Irgendwie war es wie auf der Vengeance, aber doch ganz anders. Sie fragte sich, was wohl Laffite und Juanito in diesem Augenblick machten. Wahrscheinlich würden sie beide schmollen und mit keinem ein Wort wechseln. Sie musste ein wenig lachen und ihr Gegenüber, ein kleiner, stämmiger Kerl mit Bart fragte: „Was gibt’s denn zu lachen, Flittchen?“ Bei seiner Mimik verschlug es ihr schlagartig das Lachen und sie starrte ihn nur mit großen Augen an. Er sah so grimmig aus, wie ihr Vater, wenn er richtig wütend war und das war bis jetzt nur einmal vorgekommen und zwar, als er Sally erwischt hatte, wie sie mit einem 16 Jährigen Kerl, sie war damals gerade mal elf gewesen, auf ihrem Bett lag, halb nackt und sich heftig mit ihm geküsst hatte. Er war ausgerastet, hatte gebrüllt, getobt, sogar einen Teller gegen die Wand geworfen hatte er. Dann war er ganz ruhig gewesen, dagesessen und in den Garten gestarrt, mit exakt dem Ausdruck, den ihr Gegenüber hatte. Wie ein Vulkan, der jeden Augenblick wieder ausbrechen könnte, nur noch heftiger und wilder. Unwillkürlich wich sie zurück und sagte, gezwungen lächelnd: „Ich musste nur gerade an etwas denken.“ Anscheinend gab sich der Bärtige mit der Antwort zufrieden und Kim rutschte näher zu Charles, der, als er ihren ängstlichen, verstörten Gesichtsausdruck sah, verwirrt fragte: „Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du den leibhaftigen Teufel gesehen.“ Sie rutschte noch näher an ihn heran, bis ihre Schulter ihn berührte. Das war einer der schrecklichsten Tage ihres Lebens gewesen. Denn sie hatte damals, mit ihren zarten sieben Jahren, ein Bild gemalt auf das sie sehr stolz gewesen war und hatte darauf bestanden, es dem Vater zu zeigen. Doch der hatte in dem Moment andere Sorgen und als sie fort fuhr, ihn zu nerven, hatte er in seiner Wut ihr Bild genommen und zerrissen. Sie hatte bitterlich geweint und anstatt sie in den Arm zu nehmen, hatte ihr Vater sie angebrüllt, gefälligst leise zu sein und als sie nicht aufgehört hatte zu weinen, hatte er sie dermaßen geohrfeigt, dass ihr noch Tage später die Wangen gebrannt hatten. Er war immer ein ausgeglichener und ruhiger Mensch gewesen, doch an dem Tag war in so in Rage gewesen, dass er vor nichts mehr halt zu machen schien. Bei diesen Gedanken begannen ihre Wangen erneut zu schmerzen, als hätte er sie gerade eben erst geschlagen und sie hielt sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Charles, sichtlich beunruhigt, fragte: „Was ist denn los mit dir? Hast du Schmerzen?“ Sie keuchte und hatte einen Kloß im Hals. Ihre Backen schmerzten fürchterlich und wehmütig erinnerte sie sich an das Bild, das sie gemalt hatte. Sie hatte ihre ganze Familie vor ihrem Haus gemalt und bestimmt eine ganze Stunde daran gesessen, aber all die Arbeit hatte ihr Vater in ein paar Sekunden zerstört gehabt. –Ihre Wangen schmerzten noch mehr. Es wurde ihr beinahe unerträglich und Charles brüllte: „Was ist denn in Dreiteufels Namen mit dir los? Willst du dich hinlegen? Brauchst du etwas?“ Als sie nicht antwortete, ergriff er ihre Hände und zog sie von ihren Wangen. Er stockte. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Auf ihren Backen waren deutlich Handabdrücke zu sehen, als wäre sie geschlagen worden. Vorsichtig berührte er ihre linke Backe, doch als sie aufschrie, zog er seine Hand ruckartig zurück. Sie jedoch ergriff seine Hände, legte sie sich auf die Wangen, ertrug den zusätzlichen Schmerz, der dadurch auftrat und erinnerte sich wieder, was ihr Vater am nächsten Tag gemacht hatte. Er hatte die Fetzen ihres Bildes aufgelesen, es zusammengeklebt und in einem Rahmen aufgehängt. Dann war er zu ihr gekommen und hatte sich entschuldigt. Sie hatte gespürt, wie arg es ihm gewesen war und hatte ihm verziehen. Dann hatte er ihr das Bild gezeigt und es in höchsten Tönen gelobt. –Ganz langsam ließ der Schmerz nach und auch ihr Atem wurde wieder langsamer. Sie ließ Charles Hände sinken und lehnte sich erschöpft an ihn. Beunruhigt, da die Abdrücke in ihrem Gesicht stärker geworden waren, fragte er erneut: „Was ist denn los? Wieso hast du auf einmal diese Abdrücke auf deinem Gesicht, als wärest du geschlagen worden?“ Verdutzt sah sie zu ihm auf und fragte: „Abdrücke? Was für Abdrücke?“ „Na die auf deinen Wangen, als seist du geohrfeigt worden, aber kräftig.“ Sie suchte hektisch in ihrer Tasche nach einem Taschenspiegel, doch hatte sie keinen dabei. Hatte sie tatsächlich Abdrücke? Warum nur? Sie hatte sich das ganze doch nur eingebildet… Zögernd antwortete sie: „Ich, ich weiß nicht, ich musste an eine Situation mit meinem Vater denken und dann hatte ich dieselben Schmerzen wie damals. Oder noch stärker, ich weiß nicht.“ Verwirrt fragte Charles: „Hat dein Vater dich geschlagen?“ „Nein, um Gottes Willen! Nur dieses eine Mal und es hat ihm schrecklich Leid getan. Aber warum musste ich gerade daran denken?“ Die letzte Frage war mehr an sich selbst gestellt, als an Charles, denn sie wusste ja, dass es ihr manchmal passierte, dass sie Erinnerungen noch einmal durchlebte, ob nun mit, oder ohne den Schmerzen und Verletzungen. Dennoch erwiderte er: „War vielleicht ein Kindheitstrauma?“ „Da waren meine Jugendtraumata aber schlimmer.“ „Jugendtraumata? Was ist denn vorgefallen?“ „Ist doch unwichtig.“ „Na wenn du meinst?“ Gerade landeten sie im Hafen und Kim wollte schon von Bord gehen, da hielt Charles sie fest, umarmte sie und fragte leise: „Sag mal, Kim, wollen wir heute Abend nicht zusammen ausgehen?“ Etwas verwirrt ließ sie die Umarmung über sich ergehen und fragte: „Warum willst du denn mit mir ausgehen?“ Er ließ von ihr ab, sah verlegen und etwas rot im Gesicht zu Boden und meinte schüchtern: „Nun ja, ich finde dich nett.“ Auch ihre Wangen röteten sich ein wenig und sie lächelte: „Von mir aus gerne, holst du mich um acht vor der Vengeance ab?“ Er nickte und sie ging, jedoch nicht, ohne ihm vorher noch einmal ein Küsschen auf die Wange zu drücken. Als sie auf der Vengeance ankam, war sie heilfroh, dass keiner auf sie achtete und sie ungestört in ihre Kajüte verschwinden konnte. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Hatte sie sich gerade wirklich mit Charles verabredet? Sie kannte ihn doch gar nicht richtig; eigentlich hatte sie ja schon mit ihm geschlafen, aber sie war betrunken gewesen. Sie wusste, dass das keine Ausrede war. Sie hatte noch nicht mal seinen Namen gekannt und war mit ihm im Bett gelandet. Oder hatte er ihr seinen Namen gesagt? Wieso war sie überhaupt mit ihm mitgegangen? Das tat sie doch sonst nie, selbst, wenn sie betrunken war. Warum also? Konnte es sein, dass sie schon am Abend gespürt hatte, wie unglaublich bekannt er ihr vorkam? Vielleicht hatte sie ja aus reinem Instinkt gehandelt. Sie drehte sich um und starrte an die Decke, ihr Kissen fest umklammert. Was sollte sie bloß Laffite und Juanito sagen, wenn sie sie sehen würden? Und was sollte sie Jon sagen? Vielleicht würde er sie ja gar nicht darauf ansprechen. Nein, ausgeschlossen, er würde sicher eine Zynische Bemerkung machen. Das tat er immer, wenn er sauer auf sie war, es ihr aber nicht ins Gesicht sagen wollte. Sie drehte sich auf die Seite und ihr Blick fiel auf den Briefumschlag, der auf der Mitte ihres Tisches lag. Langsam setzte sie sich auf und griff danach. Sie öffnete ihn erneut und las ihn sich durch. Sie hätte sich nicht auf dieses Rendezvous einlassen sollen, schließlich liebte sie Leo doch noch. Er war der Einzige, den sie jemals richtig geliebt hatte. Aber er war tot. Sollte sie ewig an ihm hängen? Vorsichtig legte sie den Brief wieder zurück und atmete tief durch. Sie musste über Leo hinweg kommen. Und sie durfte sich auch neu verlieben. Leo hatte ihr doch noch in dem Postskriptum geschrieben, sie solle nicht ihr restliches Leben schwarz tragen. Er wollte, dass sie glücklich war. Aber konnte sie mit Charles glücklich werden? Um kurz nach acht ging sie an Land, wo schon Charles auf sie wartete. Als er sie erblickte, stockte ihm der Atem. Seit langer Zeit hatte sie wieder einmal einen Rock an und hatte sich geschminkt. Ihre Haare fielen lockig über ihre Schultern. Auch hatte sie nicht, wie normalerweise, einfach eine Bluse an, sondern ein enges Top, das ihre Vorteile zum Ausdruck brachte. Etwas peinlich berührt, da er sie mit offenem Mund anstarrte und keine Anstalten machte, sie zu begrüßen, zischte sie: „Klappe zu! Das ist ja peinlich, so schrecklich sehe ich nun auch wieder nicht aus.“ Er schüttelte den Kopf, als erwache er aus einer Trance und stieß die Luft aus, die er für einen Moment angehalten hatte. Dann sagte er, sie auf die Wange küssend: „Nein, bei Gott, ganz im Gegenteil, du siehst umwerfend aus!“ Sie glaubte ihm nicht, denn sie fand, ihr war nahezu gar nichts gelungen. Weder das Zusammenstellen ihres Outfits, noch das Bändigen ihrer Locken, noch ihre Schminke. Kim hatte es lediglich geschafft die Handabdrücke, die ohnehin schon stark verblichen waren, zu überdecken. So schüttelte sie nur den Kopf und hakte sich bei Charles unter, der ihr bereitwillig seinen Arm anbot. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, fragte Kim: „Sag mal, wohin gehen wir eigentlich?“ Er antwortete nicht, sondern schmunzelte nur und führte sie immer weiter zum Rande der Stadt. Vor einem großen Gebäude stoppte er und sagte: „Wir sind da. Ich hoffe, du magst Theater.“ Mit großen Augen fragte sie: „Theater?“ Er nickte lachend und sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war zwar noch nie in einem Theater gewesen, aber musste sie deswegen gleich so große Augen machen? Charles holte ihnen Karten und sie setzten sich in eine der vorderen Reihen. Der rote Vorhang war noch zugezogen und Kim sah sich um. Es war kein großer Saal, aber dennoch größer als sie erwarte, dass dieses Dörflein einen hatte. Nach hinten hin war er erhöht und die Bühne stand auf einem Podest, vor dem, in einer Art Grube einige Musiker saßen und eifrig ihre Instrumente stimmten. Langsam füllte sich der Saal und Kim fragte: „Du, Charles, um was geht es in dem Stück eigentlich?“ Hämisch grinsend meinte er: „Um Piraten, aber aus der Sicht gewöhnlicher Leute, ich sage dir, das wird ein Spaß. All diese Klischees mit den Holzbeinen, den Papageien, den Schatzkarten und Hakenhänden. Und die meisten Leute schenken all dem auch noch Glauben. Glaub mir, wir werden ordentlich was zu lachen haben.“ Er drückte leicht ihre Hand, die sie auf die Lehne ihres Stuhls gelegt hatte und hielt sie fest. Gerade fragte sich Kim, wie das Stück wohl aufgebaut war, da gingen die Lichter aus und der Vorhang öffnete sich. Zum Vorschein kam eine junge Frau, die mit kräftiger Stimme sang: „Mädchen hör zu, was ich sage ist wichtig, Tu es nicht ab als wäre es nichtig Junge hör zu, halte halt deine Ohren gespitzt Das, was ich erzähle, das ist kein Witz Sie tun ihr Tageswerk zu der Marines Trutze Tun rein gar nichts zu unserem Schutze Rauben die Frauen, verkaufen die Männer, Selbst beim Feilschen sind sie wahre Könner Denn sie sind Piraten Und ich kann dir nur raten Halte dich von ihnen fern In ihrem Innern haust ein sehr harter Kern Und zeigen sie sich auch von der Schale her weich Siehst du die Wahrheit, so wirst du schneebleich Glaub keinem der sagt, „Ich liebe dich“ Schon am nächsten Tag hängt an ihrer Galeone dein hübsches Gesicht Ich kannte einen von ihnen, ich muss es wohl wissen Ich liebte ihn, hab sehr drunter gelitten Am einen Tage wollt er mich lieben Am andern Tage von der Planke schieben Am folgendem wollt er mich ehelichen Hatte damit doch nur eine Wette beglichen Mädchen hör zu, was ich sage ist wichtig, Tu es nicht ab als wäre es nichtig Junge hör zu, halt deine Ohren gespitzt Das was ich erzähle, das ist kein Witz Mutig und tollkühn, listig und schlau Das sind sie gewiss nicht nur den ganzen Tag blau Auf ihren Schiffen, da fühl’n sie sich wohl Mit ner Pulle voll Rum oder sonst’gem Alkohol Du denkst sie sein Stilvoll und sehr gut erzogen Du hast dich geschnitten, sind doch nur hoch geboren Unter ihnen ist die Sprache recht rau Und nach nem kleinen Streit ist manches Auge blau Manierlich und zuvorkommend sind sie sicher nicht Auch Hygiene scheint für sie wahres Gift Piraten, die sind mit dem Teufel im Bunde Sitzen mit ihm in gemütlicher Runde Trinken und spielen und lachen vergnügt Doch erst wenn Blut fliest ist der Teufel begnügt Im warten jedoch ist er nicht sehr geduldig Legt Fallen und sagt dann ein And’rer sei schuldig Von manchen Piraten möchte aber selbst er nichts wissen Und auch in der Hölle will er sie missen Jetzt, in dieser unsrigen Zeit Tun mir diese armen Tröpfe schon Leid Können nicht in den Himmel, nicht mit dem Teufel verhandeln Müssen ewig als Geister auf Erden herwandeln Doch dafür gibt es genügend Grund Zu viele Schiffe liegen wegen ihnen am Meeresgrund Ehrbaren Frauen Stehl’n sie die Ehre Nicht einer hilft ihnen, dass sie sich bekehren Mit Alkohol vertrösten sie Mangel und Schmerzen Doch wird’s immer schwärzer in ihren Herzen Mitleid ist bei ihnen nicht mehr als ein Wort So begeh’n sie gewissenlos einen um’n ander’n Mord Geld ist für sie ihr Lebenszweck Doch nur an einem Abend ist meist alles schon weg Die Huren verdienen sich an ihnen dumm und dämlich Das gilt auch für and’re, die Wirte der Spelunken und Kneipen nämlich Also Mädchen sei schlau und auch stets gerissen Vertrau immer auf dein reines Gewissen Drum Junge sei, nicht wie sie, stets listig Denn was ich erzähle, das ist nicht witzig.“ Es waren während dem Lied noch ein kleiner Junge und ein junges Mädchen auf die Bühne gekommen und begannen über den Inhalt des Liedes zu diskutieren. Das eine oder andere Mal konnte Kim es sich nicht verkneifen unterdrückt aufzulachen, obwohl die Stimmung des Stücks eher gedrückt war. Doch nahezu all das, was dort geschildert wurde entsprach so gar nicht der Wahrheit. Zum Beispiel war der Kapitän des viel zu großen Schiffes als alt und verbittert dargestellt und das einzige Wesen zu dem er eine Beziehung aufbauen konnte, war ein Papagei namens Bonney, der andauernd Kekse wollte. Am Schluss trat noch einmal die Frau auf, die das Anfangslied gesungen hatte und sagte mit schauriger Stimme: „Ihr Mädchen, die ihr hier versammelt seid, ihr Jungen, die ihr beisammen seid, ihr Alten und Jungen, ihr Weisen und Dummen. Das Leben ist hart, uns bleibt nichts erspart. Dort unten im Hafen, da lauern die Wölfe in Pelzen aus Schafen. Meidet den Ort und euch wird nichts geschehen, geht ihr dort hin wird’s euch übel ergehen. Wir zeigten euch was euch erwarten kann, Fordert das Schicksal nicht, ihr lauft gegen ’ne Wand. Sie rauben und plündern und morden gern und schrecken nicht zurück mancher Frau die Ehre zu nehm’n. Ich bitt euch allerherzlichst d’rum, seid weder stur, noch dumm. Die Piraten das sind gar Teufelsgesellen, tut ihr’s doch, werden sie’s sein, die euer Urteil fällen.“ Kim schauderte unwillkürlich. So grausam waren sie doch nun wirklich nicht. Gerade ging die junge Frau von der Bühne, da hauchte ihr Charles ins Ohr: „Buh!“ Sie schrak auf und fuhr ihn an: „Bist du noch ganz bei Trost? Ich habe mich zu Tode erschrocken!“ Belustigt meinte er: „Dafür wirkst du aber noch sehr lebendig.“ „Du blöder Pirat, gib’s zu, du willst mir doch nur die Ehre stehlen!“ Er lachte auf und grinste: „Das habe ich doch schon längst und würde es jederzeit wieder tun.“ Kim streckte ihm die Zunge heraus und stand auf. Außer ihnen war niemand mehr im Saal. Nun stand auch Charles auf und sagte: „Ach Kim, sei doch nicht beleidigt, das war doch nur ein Kompliment. Hätte ich sagen sollen, dass ich es nie wieder tun wollte, weil du so schlecht warst?“ Ihm den Rücken zuwendend schmollte sie: „Nein, aber du hättest auch einfach gar nichts dazu sagen können.“ Er schlang seine Arme um ihren Bauch und flüsterte schuldbewusst: „Tut mir Leid, Kim, ich wollte dich nicht verletzen. Sei bitte nicht böse.“ Sie entwand sich aus seinem Griff, drehte sich zu ihm um und grinste ihn an: „Ich bin doch nicht böse, geschweige denn verletzt, wenn’s dir gefallen hat, fühle ich mich geschmeichelt. Ich wollte nur wissen, was du sagen würdest, wenn ich das in den falschen Hals bekommen hätte.“ Er schaute sie gespielt beleidigt an und knurrte: „Miststück! Dafür sollte ich dich…“ Er kam einen Schritt auf sie zu und sie fragte süffisant: „Was solltest du mich?“ Er kam noch näher an sie heran und sagte noch leiser: „Dafür sollte ich dich…“ Kim sah in seine blauen Augen, die ihr immer näher kamen und er hauchte: „Sollte ich dich…“ Seine Lippen berührten ihre sanft und sie lächelte: „…küssen.“ Und das tat er, lange und leidenschaftlich, doch da rief eine Frauenstimme: „Könnt ihr euren Speichel nicht draußen austauschen? Ich muss hier nämlich abschließen.“ Kim, die sich persönlich angegriffen fühlte, knurrte: „Nein, können wir nicht, und jetzt lass uns in Frieden!“ Sie sah zu der Person, die sie angesprochen hatte und erkannte eine Frau, Anfang zwanzig, sie hatte langes, blondes Haar und braune Augen. Genervt zischte sie zurück: „Ich lasse euch aber ganz bestimmt nicht in Ruhe, weil ich sonst tierischen Ärger bekomme. Und wenn ihr hier nicht auf der Stelle verschwindet, dann bekommt ihr Ärger.“ Kim grinste sie überlegen an und fragte: „Sagt wer?“ „Das sage ich!“ „Als könntest du halbe Portion es mit uns aufnehmen. Also tu deiner Gesundheit einen Gefallen und verzieh dich.“ Sie wedelte mit der Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie verschwinden sollte und wollte sich gerade wieder Charles zuwenden, da rief die junge Frau: „Richard! Da sind zwei, die machen Ärger!“ Kaum hatte sie das gerufen, da kam der Kerl in den Saal, der bei der Aufführung den starken Marinesoldaten gespielt hatte, der von allen jungen Frauen umschwärmt wurde, aber doch von einem Piraten bezwungen worden war. Er brüllte: „Raus hier, aber schnell!“ Kim, die langsam die Geduld verlor, brüllte zurück: „Pass auf, was du sagst, Freundchen, meine Geduld ist bald am Ende.“ Zornig fragte Richard: „So? Deine Geduld ist bald zu ende? Dann zeige ich dir mal, wie geduldig ich bin: und zwar gar nicht!“ Er kam mit großen Schritten auf sie zu und wollte sie am Arm packen, da stellte Charles sich ihm und den Weg und sagte: „Hey, hey, hey! Man vergreift sich nicht an wehrlosen Frauen.“ Wütend donnerte Richard: „Dann musst eben du dran glauben!“ Blitzschnell zückte Charles sein Messer, das er immer bei sich führte, hatte Richard beim Kragen gepackt, hielt es ihm an die Kehle und zischte: „Ich würde an deiner Stelle nicht so viel reden, sondern Taten folgen lassen. Sonst ergeht es dir vielleicht noch heute Abend wie in diesem Theaterstück.“ Er stieß Richard von sich und steckte sein Messer wieder weg. Dieser fiel unsanft auf den Boden und griff sich ängstlich an den Hals. Die Frau eilte zu ihm und schrie hysterisch: „Was hast du getan? Er blutet ja!“ Ruhig antwortete Charles: „Tja, ich bin nun mal ein Pirat und mein Hobby ist es, Menschen umzubringen und ihre Seelen dem Teufel zu verkaufen.“ Kim verstand sofort die Anspielung auf das Theaterstück, doch die Frau keuchte: „Pirat? Was? Wieso bist du hier?“ Er lachte: „Na selbst wenn ich Pirat bin, werde ich mir doch wohl hin und wieder einmal ein Theaterstück ansehen dürfen und wenn ich es nicht darf, ist es auch egal, da Piraten sowieso gesetzlose Gesellen sind, die mit dem Teufel im Bunde sind.“ Die junge Frau wich vor ihm auf dem Boden zurück und Charles seufzte genervt: „Jetzt krieg dich mal wieder ein, ich will dich nicht vergewaltigen oder so.“ Kim rollte mit den Augen und dachte sich, dass er sie so wohl nur noch mehr in Panik versetzte. Sie kam langsam auf die Frau zu, bot ihr Hilfe beim Aufstehen an und lächelte: „Achte gar nicht auf ihn. Wir sind zwar Piraten, aber deswegen werden wir dich jetzt nicht skalpieren. In Wahrheit sind wir ganz anders als in euerm Stück.“ Zögernd ergriff die junge Frau ihre Hand und fragte: „Und du bist auch Pirat? Du bist doch ein Mädchen, tun sie dir nicht Gewalt an?“ „Die, bei denen ich bin, sind alle ganz lieb und zahm. Aber wenn sie zu kämpfen beginnen, sieht die Sache ganz anders aus.“ Charles musste grinsen, als sie sagte die Piraten seien zahm, denn normalerweise waren sie das ganz und gar nicht. Nur bei Kim hielten sie sich einigermaßen im Zaum. Warum wusste er auch nicht so genau. Die junge Frau allerdings fragte: „Und warum wolltest du Pirat werden? Du konntest doch sicher nicht wissen, dass die Mannschaft, bei der du anheuertest so freundlich ist, oder?“ Kim lachte bestätigend: „Oh nein, das konnte ich nicht, schließlich haben sie mich entführt. Die ersten Wochen waren echt hart für mich, aber dann hab ich mich mit dem Captain angefreundet.“ Charles musterte sie skeptisch und fragte: „Was verstehst du denn unter ‚angefreundet’?“ Etwas verlegen meinte sie: „Nun ja, er ist eben ein guter Freund von mir.“ „Mehr nicht?“ Nun bestimmter sagte sie: „Mehr nicht!“ Der Mann, der inzwischen wieder aufgestanden war und sich gefangen hatte, fragte: „Ihr seid aber noch nicht lange ein Paar, oder?“ Verwundert sahen Kim und Charles zu ihm und letzterer fragte: „Ein Paar? Wie kommt Ihr darauf, wir seien ein Paar?“ Nervös meinte der Mann: „Na ja, ihr habt euch geküsst und das macht man doch nur, wenn man ein Paar ist.“ Charles und Kim warfen sich einen vielsagenden Blick zu und Kim lächelte: „Nein, nein, da habt Ihr etwas missverstanden, dies ist lediglich eine Verabredung, nichts weiter.“ Charles jedoch trat nähre an sie heran, küsste sie auf die Wange und flüsterte: „Daraus könnte aber vielleicht noch mehr werden, oder?“ Kim schob ihn von sich und zischte: „Nein, das ist eine Verabredung, es wird nicht mehr passieren, Lustmolch!“ Seinen beleidigten Blick ignorierend, wandte sie sich wieder dem Mann und der jungen Frau zu und sagte freundlich lächelnd: „Ich bin übrigens Kim und das ist Charles, er ist nicht auf dem selben Schiff wie ich.“ Die Frau entgegnete schüchtern: „Ich bin Charline und das ist mein Verlobter Richard. Aber woher kennt ihr euch denn, wenn ihr nicht auf dem gleichen Schiff seid?“ Kim lächelte: „Unsere Kapitäne haben zusammen einen Coup durchgezogen und dadurch haben wir uns kennen gelernt.“ Richard wischte sich mit einem Taschentuch das Blut ab, das noch an seinem Hals klebte und Kim raunte Charles zu: „Na los, entschuldige dich!“ Dieser sah sie nur schräg von der Seite an und fragte trotzig: „Wieso sollte ich? Der wollte dich angreifen!“ „Na und? Ist doch egal, du hast ihn verletzt und seine Verlobte Todesängste ausstehen lassen, also tu was ich sage und entschuldige dich!“ Knurrend willigte er ein, ging auf Richard zu und murmelte: „Tut mir Leid.“ Kim, die fand, er könnte ruhig etwas höflicher sein, fragte laut: „Wie bitte? Ich hab nicht verstanden, was du zu ihm sagtest, sag es bitte noch einmal etwas lauter!“ Charles stieß wütend die Luft aus und sagte schließlich: „Tut mir Leid, dass ich vorhin so grob zu dir war, Richard, darf ich dich und deine Verlobte zur Entschädigung vielleicht auf ein Getränk unten im Hafen einladen?“ Richard warf einen fragenden Blick zu seiner Geliebten, doch als diese zögerlich nickte, sagte er: „Warum nicht? Uns soll’s Recht sein.“ Als sie auf dem Weg zum Hafen waren, liefen Richard und Charline hinter ihnen her und Charles knurrte: „Warum musste ich mich denn bei ihnen entschuldigen?“ Genervt zischte Kim: „Weil sie nette Leute sind. Und jetzt kein Wort mehr zu diesem Thema!“ „Dann versprich mir aber, dass du mich nachher noch einmal küsst und zwar richtig, egal wer zuschaut.“ Kim seufzte resignierend und lächelte: „Schon gut, wenn du unbedingt willst.“ Süffisant grinsend zwickte er ihr in den Hintern und raunte: „Deal.“ Erschrocken schlug sie seine Hand weg und sah ihn vorwurfsvoll an. Charline, die leicht außer Atem war, fragte: „Sind im Hafen eigentlich viele Piraten? Ich fühle mich nämlich normalerweise schon in Gegenwart von Matrosen unwohl, aber Piraten…“ Abrupt blieben Charles und Kim stehen, drehten sich um und sahen Charline ungläubig an. Schließlich fragte Charles: „Ihr seid noch nicht so lange hier, oder?“ Ihre Gegenüber schüttelten den Kopf und Charline sagte leise: „Wir sind auf der Durchreise und hier erst seit heute Mittag, wieso?“ Die beiden Piraten warfen sich einen vielsagenden Blick zu und Kim sagte: „Nun, es ist so, New Providence ist nicht irgendeine Hafenstadt. Es ist eher eine Art Piratennest. Und das wusstet ihr nicht?“ Das junge Paar wechselte einen nervösen Blick, doch Charline sagte mit zitternder Stimme: „Ist doch jetzt auch egal, lasst uns weitergehen.“ Gezwungen lächelnd meinte Kim: „Na wenn du meinst, aber wir übernehmen keine Verantwortung.“ Charline achtete jedoch nicht auf ihre Worte, sondern setzte sich mit steifem Gang in Bewegung. Richard beeilte sich neben sie zu kommen und Kim und Charles schüttelten nur den Kopf. Als sie in der Spelunke angekommen waren, in die Kim immer ging, war diese recht voll. Kim sah sich um, ob sie nicht doch noch einen freien Platz erhaschen konnte und da sah sie, dass an einem großen Tisch in einer Ecke Jon, Terry, Aodh, Laffite, Juanito, Jack und Edward saßen. Sie wollte noch versuchen, sich hinter Charles zu verstecken, doch Terry hatte sie schon entdeckt und winkte sie zu sich. Sie atmete tief durch, warf Charles einen wehmütigen Blick zu und drängte sich durch die Reihen von Piraten. Stets achtete sie darauf, dass Charles, Charline und Richard hinter ihr blieben und sie nicht verloren. Schließlich stand sie vor dem Tisch an dem noch genau vier Plätze frei waren, wenn man sich etwas quetschte. Gequält lächelte Kim: „Guten Abend allerseits. Wie geht es denn?“ Terry, der nicht wirklich gut gelaunt schien, wetterte: „Soso, geruht sich das Fräulein auch mal wieder zu ihren Kameraden und nicht zuletzt Freunden zu kommen?“ „Ja, Terry, das feine Fräulein hat sich entschlossen, euch jemanden vorzustellen.“ Sie zog Charles nahe zu sich, küsste ihn und sagte, mehr an Terry, als an die anderen gewandt: „Das ist Charles.“ Mit Genugtuung sah sie, wie er Charles zähneknirschend musterte und drehte sich erschrocken um, als sich jemand hinter ihr räusperte. Es war Richard, der Charline im Arm hielt, die sich ängstlich umschaute und sie fügte hinzu: „Ach ja, das sind Richard und Charline, sie sind verlobt und wir haben sie in dem Theater in dem Charles und ich heute waren, kennen gelernt, sie arbeiten dort.“ Jon, der genug von dieser Eifersuchtsmasche hatte, deutete auf die Plätze neben sich und sagte ruhig: „Setzt euch doch und trinkt etwas mit uns, die Nacht ist schließlich noch jung.“ Kim ließ sich das nicht zweimal sagen und ließ sich neben ihm nieder, Charles mit sich hinunterziehend. Auch das junge Paar setzte sich zögerlich und Charline beäugte skeptisch Laffite, neben dem sie saß, der aber nur Charles giftige Blicke zuwarf. Als die Bedienung kam, bestellten sich die vier je ein Bier und auch noch andere an ihrem Tisch beteiligten sich an der Bestellung. Nach einiger Zeit und auch einigem Alkohol später, lag Kim halb auf der Bank. Sie hatte ihre Beine auf Jons Schoß gelegt und sich an Charles angelehnt, den sie von Zeit zu Zeit zärtlich küsste. Richard unterhielt sich angeregt mit Edward und Charline leerte gerade ihren dritten Humpen Bier in einem Zug, wofür sie von Laffite begeisterten Beifall gespendet bekam. Jon jedoch klopfte Kim auf den Oberschenkel und sagte: „Kim, kommst du mit zum Schiff? Es ist schon spät.“ Sie gähnte herzhaft und nickte. Anschließend sagte sie zu Charles: „Ich gehe zum Schiff, kommst du mit?“ Er nickte verschmitzt lächelnd. So verabschiedeten sich die Drei von den anderen und machten sich auf den Weg zur Vengeance. Kim wollte sich schon bei Charles verabschieden, da meinte der: „Zeig mir doch noch deine Kajüte, bitte.“ Skeptisch fragte sie: „Warum?“ Eigentlich konnte sie sich denken, auf was er hinaus wollte, aber sie brauchte noch Zeit, doch er sagte nur: „Weil ich wissen will, wie deine Koje aussieht.“ Und schob sie an Deck. Jon beobachtete das ganze Geschehen etwas kritisch und warf Kim einen fragenden Blick zu, ob er eingreifen sollte. Doch sie schüttelte gequält lächelnd den Kopf und führte Charles unter Deck. Als sie in ihrer Kajüte ankamen, schloss er die Tür hinter ihnen ab und kam langsam auf Kim zu, um sie zu küssen. Sie allerdings schob ihn von sich und meinte: „Nein, lass mir Zeit.“ Verwirrt schüttelte er den Kopf und fragte: „Zeit? Du hast mich doch vorhin auch geküsst.“ „Ja, aber das war… zwanglos, es lief auf nichts hinaus. Aber hier sind wir allein, in einem Zimmer eingesperrt. Ich weiß, worauf du hinaus willst.“ Er hob unschuldig die Hände und sagte: „Bei Gott, ich will auf nichts hinaus. Man kann sich doch auch in einem Raum, wenn man nur zu zweit ist völlig zwanglos küssen.“ Verlegen entgegnete sie, sich die Locken hinter die Ohren streichend: „Ja schon, aber bei dir ist das anders, bei Piraten insgesamt ist das meist anders, da läuft es immer darauf hinaus. Und das weiß ich, also versuche erst gar nicht es abzustreiten.“ Auch er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Lachend ließ er sich aufs Bett fallen und meinte: „Ach Kim, dir kann man einfach nichts vormachen. Und wenn ich dir verspreche, dass nichts passieren wird außer einem Kuss?“ Sie überlegte kurz, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und legte Leos Brief, der zuvor auf der Oberfläche gelegen hatte, hinein. Dann wandte sie sich Charles zu und fragte: „Du versprichst es? Hoch und heilig?“ Langsam stand er auf, ging auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Hüfte. Sein Gesicht näherte sich ihrem und ihre Lippen berührten sich, dann flüsterte er: „Piraten-Ehrenwort.“ Sie schloss die Augen und er küsste sie. Leidenschaftlich fuhr er durch ihre Locken und drückte sie aufs Bett. Als er jedoch seine Hand unter ihren Rock schieben wollte, drückte sie ihn von sich und sagte: „Du hast es versprochen.“ Er allerdings kam ihr wieder näher, versuchte erneut sie zu küssen und meinte: „Ist doch egal, gestern haben wir doch auch…“ Aber Kim stieß ihn nun heftiger weg und sagte aufgebracht: „Es ist nicht egal! Gestern war gestern und heute ist heute, außerdem war ich gestern betrunken und frustriert, glaube ich.“ Ärgerlich fuhr Charles sich wieder durch die Haare und sah zur Seite. Dann sagte er, versucht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Ich verstehe dich nicht. Küssen und alles ist erlaubt, aber wenn es zur Sache geht, machst du einen Rückzieher?“ „Ich hatte es dir vorhin schon gesagt. Hör mir halt zu!“ „Du bist unfair. Warum darfst du bestimmen?“ „Weil es sonst Vergewaltigung wäre und du hingerichtet werden würdest. Und wenn dir das nicht passt, dann kannst du ja gehen.“, zischte sie zornig. Er schüttelte lächelnd den Kopf und äußerte: „Schon gut, schon gut. Ich mache ja nichts. Darf ich dich trotzdem noch einmal küssen?“ „Ich weiß nicht.“ „Bitte, nur ein kleines Küsschen. Mehr nicht, ich schwöre es.“ „Also auf deine Versprechen ist ja nicht wirklich verlass, was soll ich denn jetzt machen?“ „’Ja’ sagen?“ Sie musste schmunzeln und nickte schließlich mit dem Kopf, woraufhin er ihr näher kam und sie sanft auf die Lippen küsste. Sofort darauf ließ er auch wieder von ihr ab, wie er es versprochen hatte. Erleichtert schenkte sie ihm ein Lächeln und kuschelte sich an ihn. Träumerisch spielte Charles mit einigen Locken ihres Haares, bis er fragte: „Sag mal, wie stehst du eigentlich wirklich zu deinem Captain? Ihr seid doch niemals nur befreundet.“ Verblüfft fragte sie: „Wie kommst du denn darauf?“ „Nun ja, ich sehe es an der Art, wie ihr miteinander umgeht, miteinander redet oder lacht. Deine Weise mit ihm umzugehen ist so anders, als wenn du mit McQuilligan, oder Terry oder so jemandem zusammen bist.“ „Das musst du dir einbilden, Jon ist für mich nur ein Freund, ich bin nicht in ihn verliebt und er auch nicht in mich. Und wenn es so aussieht, als wäre da noch mehr, dann liegt das daran, dass er für mich so etwas wie ein Vater ist. Er sorgt sich um mich, tröstet mich. Aber das war’s.“ „Bist du dir sicher? Ich weiß nicht, meine Intuition sagt mir, dass da mehr ist.“ Sie richtete sich belustigt auf und kicherte: „Deine Intuition? Seit wann haben Männer Intuition? Höchstens ein Gefühl im Bauch, was man auch Hunger nennt.“ „Ha ha, sehr witzig. Nein, ich meine das ernst. Sei ehrlich, läuft da was?“ Süffisant grinste sie: „Eifersüchtig?“ Und er antwortete schlicht: „Ja.“ Überrascht von seiner ehrlichen Antwort sagte sie: „Ehm, nein, da läuft nichts und da kannst du auch die anderen fragen.“ Beruhigt ließ er sich aufs Bett fallen und schnurrte zufrieden, als sie ihren Kopf auf seine Schulter legte und mit ihrem Finger sanfte Bahnen auf seiner Brust fuhr. Um sie herum herrschte reges Treiben, denn es war Markttag in dem kleinen Hafenstädtchen. Sie bummelte nur ein wenig umher, da rannte ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, in sie hinein, fiel zu Boden und sah sie mit großen Augen an. Im nächsten Moment begann er fürchterlich zu weinen und Kim, die sich schuldig fühlte, kniete sich zu ihm runter und entschuldigte sich: „Oje, tut mir Leid. Hast du dir wehgetan? Das wollte ich nicht. Soll ich dich zu deiner Mama bringen? Wo ist sie denn?“ Mit verheultem Gesicht sah er zu ihr auf und sagte: „Weiß nicht. Hab sie verloren. Ich will zu meiner Mama!“ Und er begann wieder zu weinen. Kim sah sich um, half dann dem kleinen Jungen auf und fragte: „Wie sieht denn deine Mama aus?“ Er ergriff ihre Hand und sagte: „Sie ist blond und hat eine weiße Bluse an. Und sie hat blaue Augen, wie ich.“ Sich umschauend fragte sie: „Soso. Sag mal, mein Kleiner, wie heißt du eigentlich?“ Mit strahlendem Gesicht antwortete er: „Leonard, aber meine Mama, mein Papa und mein Bruder und die anderen sagen immer Leo zu mir.“ Abrupt blieb sie stehen und musste unwillkürlich an ihren Leo denken. Doch sie riss sich zusammen und fragte weiter: „So, Leo, wo hast du denn deine Mama verloren?“ „Weiß ich nicht.“ Doch da rief eine Frauenstimme: „Leo! Leonard! Wo steckst du denn, Junge?“ Und der Junge rief freudig: „Ich bin hier! Hier Mama!“ Plötzlich kam aus der Menschenmenge vor ihnen eine Frau mit blondem Haar, blauen Augen, einer weißen Bluse und einem weiten, roten Rock. An der Hand führte sie einen anderen Jungen, auch blond und ungefähr sieben oder acht. Leo lief glücklich auf seine Mutter zu. Diese holte allerdings aus und ohrfeigte ihn kräftig, dann brüllte sie: „Mit euch Bälgern hat man auch nichts als Ärger! Erst lässt sich Charles beim stehlen erwischen und dann läufst du auch noch weg, Leo! Wenn euer Vater davon wüsste, aber er wird davon erfahren, darauf könnt ihr Gift nehmen und er wird nicht so gnädig mit euch sein wie ich. Der wird euch verdreschen, dass ihr drei Tage nicht mehr sitzen könnt! Und jetzt kommt endlich!“ Sie packte den Jungen, der inzwischen wieder angefangen hatte zu heulen, am Arm und zog ihn grob mit sich. Jetzt reichte es Kim. Sie rief: „Hey Ihr! Was soll das denn? Das sind Eure Söhne! Seid gefälligst nicht so grob, schließlich sind sie noch klein!“ Als sie allerdings nicht reagierte, wollte Kim sie an der Schulter packen und aufhalten, doch sie griff durch sie hindurch. Nur der kleine Leo drehte sich noch einmal mit einer roten Backe zu ihr um und Tränen standen in seinen Augen. Die Mutter ging schnell, selbst Kim hatte Schwierigkeiten nachzukommen. Sie fragte sich, wie die beiden Jungs da mithalten konnten, doch nicht viel später stand sie vor einem großen Schiff, ohne Flagge. Sie wusste, was das bedeutete - Piraten. Wie konnte die Frau nur zwei so kleine Jungen mit auf ein Piratenschiff nehmen? Doch sie musste sich beeilen, damit sie sah, wo die Frau die beiden hinschleppte. Schließlich blieb sie vor einem Mann mit grauem Haar und Drei-Tage-Bart stehen und brüllte: „Deine verdammten Söhne nehme ich nie wieder mit zum Markt! Der eine lässt sich beim Stehlen erwischen und der andere läuft einfach davon! Ich will, dass du sie bestrafst!“ Der Mann lächelte mitleidig und sagte ruhig: „Also erstmal sind es auch deine Söhne, Xante und zweitens glaube ich, hast du sie schon genug bestraft. Leos Backe ist ja vollkommen verschwollen und bei Charles sieht es nicht anders aus. Also lass mich in Ruhe und pack die Jungs nicht so hart an.“ Wutschnaubend stieß sie die Kinder auf ihn zu, drehte sich um und keifte im Gehen: „Du bist doch das allerletzte! Weich bist du geworden! Ein Waschlappen! Kein Wunder, dass die Jungs so verweichlicht sind, bei dem Vater! Wie konnte ich mich nur auf dich einlassen?“ Schadenfroh rief er ihr nach: „Das nennt man Liebe, meine Liebe!“ Leo, der inzwischen nicht mehr weinte, kam auf seinen Vater zu und erzählte freudig: „Ich habe heute ein Mädchen getroffen, Papa, sie war groß und wunderschön und ganz lieb. Sie hat mir geholfen Mama wieder zu finden. Wenn ich groß bin, will ich sie mal hochzeiten.“ Sein Vater lachte und meinte: „Heiraten, Leo, das heißt heiraten. Zum Teufel noch mal, warum werdet ihr Bälger auch so früh erwachsen? Hast dich also verliebt, Leo. Wenn du sie wieder triffst, lass sie nicht gehen, sondern stell sie mir vor, damit ich euch meinen Segen geben kann.“ Kim errötete leicht, da sie wusste, dass der kleine Leo sie gemeint hatte. Dennoch fragte sie lächelnd: „Hast du mich gemeint, Leo?“ Er drehte sich schlagartig zu ihr um und seine Augen weiteten sich. Strahlend rannte er zu ihr, nahm sie bei der Hand und zog sie vor seinen Vater. Dann sagte er: „Guck, Papa, das ist sie. Darf ich sie jetzt hochzeiten?“ Der Mann sah verwundert zu ihm und sagte dann: „Da ist niemand, Leo. Außerdem habe ich dir eben schon gesagt, dass es heiraten heißt.“ Das Lächeln verschwand nicht vom Gesicht des Jungen und er strahlte: „Siehst du sie denn nicht? Sie steht direkt hier neben mir. Ich will sie sofort hochzeiten.“ Noch bevor der Vater irgendetwas sagen konnte, lief Charles um ihn herum und Sang: „Leo wird beklo-hoppt! Leo wird beklo-hoppt!“ Der Vater jedoch drängte Charles zur Seite, kniete sich zu Leo herunter, legte ihm die Hand auf die Stirn und fragte: „Sag, Junge, hast du Fieber? Fühlst du dich unwohl?“ Wütend schnaubte Leo: „Nein, nein, nein! Warum seht ihr sie denn nicht? Sie steht doch direkt neben mir! Ihr seid blöd!“ Kim allerdings legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: „Psst. Du solltest nicht von mir sprechen, sie sehen mich nicht und könnten denken, du seist verrückt geworden.“ Gerade wollte der Mann Leo schütteln, da er nicht antwortete, da rief jemand: „Hey, Josh, ich glaube, deine Frau hat da gerade eine kleine Auseinandersetzung!“ Seufzend richtete sich der Mann auf und sagte noch: „Charles, pass auf deinen kleinen Bruder auf, ich bin gleich wieder da.“ Charles nickte brav und sein Vater eilte davon. Sofort darauf wandte er sich allerdings an Leo, schubste ihn, dass er zu Boden fiel und sagte gehässig: „Blöder Bastard! Zum Glück schnappst du jetzt über, dann sind wir dich los. Mama und Papa haben mich ja sowieso viel mehr lieb!“ Leo stand allerdings auf, streckte ihm die Zunge heraus und sagte trotzig: „Ist gar nicht wahr! Mama und Papa haben mich viel mehr lieb als dich, ich bin nämlich viel schlauer und ich hab bald meine eigene Frau!“ Charles, der anscheinend nicht mehr wusste, was er sagen sollte, rief beleidigt: „Warte nur, bis ich Mama erzähle, dass du heiraten willst! Die wird dich dann grün und blau schlagen!“ Mit diesen Worten rannte er lachend davon. Große Augen machend sah Leo ihm nach und fragte Kim ängstlich: „Glaubst du Mama wird wirklich böse auf mich? Ich mag nicht, dass Mama böse wird. Willst du mich wirklich hochzeiten?“ Vergnügt lachte Kim auf und sagte: „Wenn du deswegen Ärger kriegst, dann bestehe ich natürlich nicht darauf. Es war aber eine schöne Idee, nicht?“ Strahlend nickte er. Kim wachte auf und sah sich um. Es war dunkel und in ihrem Nacken konnte sie Charles gleichmäßigen Atem spüren. Hatte sie das geträumt? War das Zufall? Vorsichtig stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Gerade wollte sie die Tür öffnen, da fiel ihr auf, dass Charles sie ja abgeschlossen hatte. Etwas genervt ging sie zum Bett, rüttelte Charles unsanft wach und fragte ruppig: „Wo ist der Schlüssel?“ Überlegen grinste er sie an: „Du willst raus? Wieso? Willst du zu deinem Captain?“ „Wie kommst du denn da drauf? Ich will mir ein Glas Wasser holen, nichts weiter.“ Er drehte ihr den Rücken zu und sagte: „Nein.“ Wütend blaffte sie ihn an: „Geht’s noch? Du kannst mich doch nicht in meiner eigenen Kajüte einsperren!“ „Wie du siehst, kann ich doch.“ „Und warum? Ich werde nicht zu Jon rennen. Du bist doch bekloppt!“ - „Leo wird beklo-hoppt! Leo wird beklo-hoppt!“ - Warum kam ihr denn jetzt so etwas in den Sinn? Ach ja, das hatte ja der kleine Charles gesungen, als Leo gesagt hatte, dass er sie heiraten wollte. Stopp! Konnte es sein? Es müssten schon einige Zufälle sein, damit das nicht stimmte… Vorsichtig legte sie sich wieder zu ihm, sie wollte es ruhig angehen lassen, da sie nicht wusste, wie er auf die Sache reagieren würde. Sie kraulte ihm durchs Haar und überlegte sich, wie sie es am besten angehen sollte. Nach nicht allzu langer Zeit drehte sich Charles zu ihr um, küsste sie sanft und fragte: „Hast du jetzt doch Lust?“ Sich bemühend, nicht zu sehr genervt zu klingen, sagte sie: „Nein, tut mir Leid. Aber sag mal, ich weiß gar nichts von deiner Familie, erzähl mir doch was über sie. Wo kommst du her?“ Überraschend rüde gab er zurück: „Du musst auch nichts darüber wissen, ich weiß doch auch nichts über deine Familie. Also lass mich mit so was in Ruhe.“ Etwas gekränkt gab sie zurück: “Ich hab doch nur gefragt, also wenn du so weiter machst, kannst du das mit uns vergessen.“ Für einen kurzen Augenblick schien er zu überlegen, dann knurrte er: „Na gut, frag mich eben, was du wissen willst.“ Von seinem rauen Ton irritiert, fragte sie: „Bist du sicher, dass das OK ist? Wenn du gar nicht willst, ist das OK, du musst nur was sagen.“ Ziemlich gestresst zischte er: „Nun frag schon!“ „Aber du willst doch nicht darüber reden.“ „Ist doch egal, ich nehm so einiges auf mich…“ „Aber ich will dich nicht in Verlegenheit bringen oder so was.“ Er sog bebend die Luft ein und brüllte dann: „Jetzt frag endlich damit ich meine Ruhe hab!“ Sofort darauf konnten sie ein Klopfen an der Wand vernehmen, das aus der Kajüte nebenan kam und deren Insassen brüllten: „Ruhe da drüben! Wir wollen schlafen!“ Schuldbewusst rief Kim zurück: „Entschuldigung, kommt nicht wieder vor!“ Jetzt wieder ruhiger und lächelnd sagte Charles: „Also Kim, entweder du fragst mich jetzt, was du wissen willst, oder du lässt es bleiben und das Thema ist für alle Ewigkeit vom Tisch.“ Schwer schluckend raffte sie sich dann doch zusammen und fragte: „Hattest du einen Bruder?“ „Ja. War’s das?“ „N… nein, aber…“ Sie wusste nicht, wie sie ihre Frage formulieren sollte. Da fragte Charles: „Was denn noch? Mach doch mal hinne, das hält ja kein Mensch aus!“ Giftig zischte sie: „Tut mir ja Leid. Kann es sein, dass dein Vater Josh hieß?“ „Nein.“ Sie wollte schon traurig seufzen, da sagte er: „Er hieß Joshua.“ Ihre Augen strahlten auf und sie fragte weiter: „Und deine Mutter, sie hatte doch einen so seltsamen Namen, irgendwas mit x.“ „Xante. Mein Vater hat immer zu Leo und mir gemeint, das wäre eine Kurzform für Xanthippe.“ Er lachte auf, aber Kim fragte: „Dein Bruder war Leonard? Leo? Damals, als er fünf und du sieben warst, da hast du dich doch auf dem Markt beim Stehlen erwischen lassen und er hat eure Mutter verloren, oder?“ Fassungslos nickte Charles und Kim lief eine Träne die Wange hinunter. Er war Leos großer Bruder. Sein Bruder. Vorsichtig fragte er: „Woher weißt du das alles? Und warum weinst du jetzt?“ Sie ging nicht darauf ein, sondern forderte: „Gib mir den Schlüssel. Auf der Stelle!“ „Nicht, bevor du mir nicht sagst, was los ist. Kennst du Leo? Wo ist er jetzt? Wie geht es ihm?“ Sie legte die Stirn in ihre Hände, schüttelte den Kopf und murmelte: „Nein, das kann nicht sein, das ist nur ein Zufall. Du bist nicht Leos Bruder!“ Verwirrt fragte Charles: „Aber du hast doch eben noch gesagt, dass du meinen Bruder Leo kennst. Entscheide dich doch mal. Ist er nun mein Bruder oder heißt er nur so?“ Sie atmete tief durch und sah auf. Ihr Atem stockte, denn es war ihr, als säße da neben Charles Leo, der ihm zum verwechseln ähnlich sah, starrte sie an und nickte. Sie stand auf, wich zurück und keuchte: „Nein, bitte. Mit jedem, aber nicht mit seinem Bruder. Wie konnte ich nur? Warum ist es mir nicht eher aufgefallen?“ Langsam kam Charles auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Schultern und fragte: „Was ist denn los? Was ist mit Leo?“ Und Kim schluchzte: „Ich liebe ihn! Nur ihn! Und jetzt ist er tot und du bist sein Bruder! Und ich habe mit dir geschlafen und dich geküsst. Warum habe ich es nicht eher bemerkt? Du siehst ihm doch ähnlich, als wärt ihr Zwillinge. Ich hasse dich!“ „Warte, warte. Langsam, ich verstehe kein Wort. Wer ist tot? Leo? Du hast ihn geliebt und hasst mich jetzt, weil du mit mir geschlafen hast?“, fragte Charles verwirrt und Kim rief: „Ja verdammt, ich hasse dich! Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!“ Er antwortete nichts und nach einer Weile setzte Kim sich, verbarg das Gesicht in ihren Händen und flüsterte: „Nein, ich habe gelogen. Ich hasse dich nicht, ich hab dich lieb.“ Ein Schluchzer entfuhr ihr und er kniete sich zu ihr nieder, legte seine Hand auf ihr Knie und sagte: „Ist ja gut, es war eine Nacht, was hat eine Nacht denn zu bedeuten? Im Gegensatz zu all den Nächten die du mit Leo verbracht hast.“ „Eine Nacht ist eine zu viel! Er hasst mich jetzt bestimmt, zumindest hasse ich mich.“ Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch, holte Leos Brief und war kurz davor ihn zu zerreißen, da rief sie sich ins Gedächtnis, dass er von Leo war. Er hatte ihr geschrieben, dass er sie liebte. Sie konnte ihn nicht zerreißen, schließlich hatte Leo ihn aus Liebe geschrieben. Sie legte den Brief wieder beiseite und setzte sich erneut aufs Bett, neben Charles, der sich auch gesetzt hatte. Leise fragte er: „Was ist das für ein Brief?“ „Er ist von Leo, er hat mir geschrieben, dass er mich liebt und mich immer geliebt hat. Wenn ich es ihm doch auch noch einmal sagen könnte, doch jetzt hasst er mich bestimmt, weil du sein Bruder bist. Und du hasst mich, weil du denkst, ich würde dich nur als Ersatz nehmen, weil ihr euch so ähnlich seht. Alle hassen mich, mich eingeschlossen.“ Wütend brauste er auf: „Du weißt doch gar nicht, was Hass ist! Nimm dieses Wort nicht so leichtfertig in den Mund! Ich hasse dich nicht und Leo sicher auch nicht. Aber warum solltest du dich hassen? Du warst betrunken und ich habe diesen Umstand ausgenutzt. Und alles andere hat sich entwickelt, dafür kannst du nichts, so ist das Leben. Die Liebe kommt und geht. Sicherlich hat Leo dich geliebt, aber wenn er dich wirklich geliebt hat, dann will er nichts anderes, als dass du glücklich bist und wenn du um ihn trauerst und dich selbst fertig machst, dann kannst du nicht glücklich sein. Also sieh auf das was vor dir liegt, von mir aus lins über die Schulter, aber gehe stets voran und vertrau darauf, dass das Leben weiß, was gut für dich ist, denn irgendwie wird immer alles wieder gut.“ Mit großen Augen schaute sie auf ihn und lauschte seinen Worten. Dann musste sie sich lächelnd an Leos Postskriptum erinnern: Tu was du willst, ich will, dass du glücklich wirst. Sie bekam eine Gänsehaut und rieb sich über die Oberarme. Besorgt fragte Charles: „Ist dir kalt? Willst du mein Hemd?“ Doch sie grinste: „Du willst dich doch nur ausziehen.“ Sich trotzdem das Hemd ausziehend sagte er: „Findest du es hier nicht auch unwahrscheinlich heiß?“ „Und gerade eben fragt er noch, ob mir kalt wäre…“ Überheblich schlang er die Arme um sie und warf sie aufs Bett, wo er sich auf sie setzte und begann sie zu kitzeln, bis sie Bauchschmerzen hatte und sie drehte den Spieß um. Das ging so lange, bis der Morgen graute und sie vor Erschöpfung einschliefen. Als sie am nächsten Mittag das Deck betraten kam Jon auf sie zu und begrüßte sie erst einmal. Dann sagte er: „Kim, es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Nachbarn haben sich beschwert, ihr seid zu laut gewesen. Was auch immer ihr macht, mir soll es Recht sein, aber tut es leise, ansonsten sehe ich mich gezwungen Konsequenzen zu ziehen.“ „Aber wir haben doch gar nicht…“, setzte Kim an, doch Jon unterbrach sie: „Ich sagte doch, es ist mir egal, was ihr macht, solange ihr es leise macht und ich dich nicht bestrafen muss, denn das würde ich gar nicht lieben.“ „Ai, Sir.“ Verblüfft sah er sie an und fragte: „Was ist denn mit dir los? Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden oder hast du deine Tage? ‚Ai, Sir’ hast du schon seit zirka drei Jahren nicht mehr zu mir gesagt, wenn nicht sogar noch länger.“ „Du lässt mich einfach nicht ausreden und das nervt mich. Ich wollte sagen, dass wir gar nichts getrieben haben. Wir haben uns nur unterhalten. Über einen Traum von mir, dass Leo sein Bruder war, über seine Eltern, seine Vergangenheit, eben so was..“ „Soso. Nur unterhalten? ... Moment! Dass Leo sein Bruder war? Er war Leos Bruder? Warum wusste ich denn noch gar nichts davon?“ „Bis heute Nacht wusste ich es doch auch nicht, aber nach diesem Traum war es eigentlich klar.“ Sie in die Seite pieksend fragte Charles: „Und warum war es dir dann nicht sofort klar, sondern erst nach einer halben Stunde Diskutieren?“ Sie streckte ihm die Zunge heraus und fragte Jon: „Sag mal, Jon, wo wollen wir eigentlich als nächstes hin? New Providence ödet mich an.“ „Ich weiß es noch nicht genau, wahrscheinlich Puerto Bello oder Cartagena oder so was in der Art. McQuilligan wird sich übrigens als Korsar versuchen, falls es dich interessiert, Charles.“ Das Gesicht verziehend meinte dieser: „Im Mittelmeer? Was will er denn da? Ist doch langweilig, da gibt es nur ein paar Spanier und Franzosen.“ Lächelnd schlug Jon vor: „Wenn du nicht ans Mittelmeer willst, dann schließ dich doch uns an, wir haben immer einen Platz frei.“ „Wo wolltest du noch gleich hin? Du wolltest in der Karibik bleiben, Genitson? Eigentlich keine schlechte Idee, was meinst du Kim?“ Beide sahen zu ihr, aber sie wusste nicht so recht was sie von dieser Idee halten sollte, war es wirklich vorteilhaft wenn sie Charles den ganzen Tag vor der Nase hatte? Dennoch lächelte sie: „Von mir aus, tut was ihr nicht lassen könnt.“ Jon gab Charles die Hand und begrüßte ihn: „Dann bist du angeheuert, du musst nur noch unterschreiben, aber das hat noch Zeit bis wir ablegen.“ Es war Abend und wie so oft saßen sie in der Kneipe. Kim in Charles Arm und bei Jon, McQuilligan, Dark Lou, Loft und Elbersaw, denen sie noch einmal genau beschreiben musste, wie sie Folkhorn erschossen hatte. Irgendwann meinte McQuilligan die Stirn runzelnd: „Und ich dachte, der wäre schlimmer als der Teufel. Dabei sitzt er nur zusammengekauert unterm Treppchen und fürchtet sich. Was für ein feiger Hund!“ Jon jedoch grinste: „Tja ja, McQuilligan, man sollte eben nicht allen Gerüchten trauen, die man so aufschnappt.“ „Und trotzdem verstehe ich nicht, warum er dann so gefürchtet war, seine Mannschaft zu schlagen war ja wohl mehr als einfach.“ „Vielleicht lag das daran, dass wir mindestens siebenmal so viele waren wie sie. Außerdem finde ich, dass es sehr danach aussah, dass ihnen bald der Proviant ausgegangen wäre, wahrscheinlich waren sie schon einige Wochen auf See.“ „Ich glaube, es lag einfach an unserem überlegenen Kampfstil.“, scherzte McQuilligan und spielte dabei mit seiner Pistole in der Hand. Die anderen lachten schallend und es wurde weiter getrunken. Kim jedoch zog Charles noch näher zu sich und fragte leise: „Hast du eigentlich schon mit McQuilligan gesprochen? Nicht dass er sich hintergangen fühlt, denn Jon will wegen so was sicher keine Probleme mit ihm.“ Er küsste sie neckisch auf die Lippen und grinste: „Lass das nur meine Sorge sein, ich werde morgen mit ihm reden und wegen so einer Kleinigkeit regt sich McQuilligan doch nicht auf.“ Kim war sich dabei nicht so sicher, aber sie widersprach ihm lieber nicht, da sie keine Lust auf irgendeine Szene hatte, die er sicher veranstalten würde, weil er auch schon ordentlich was getrunken hatte. Anfangs hörte sie den Männern noch interessiert zu, doch irgendwann begannen ihre Gespräche sie zu langweilen und sie schaute sich unbeteiligt in der Spelunke um. Es war niemand interessantes da, außer Laffite, Terry, Edward und die ganze Truppe, zu denen sie allerdings nicht unbedingt wollte, weil sie schon Damenbesuch hatten. Auch das Klavierspiel des Pianisten erheiterte sie nicht sonderlich, da sich für sie alle seine Stücke gleich anhörten. Also bestellte sie sich noch Rum und nippte daran, während sie versuchte, nicht ganz so teilnahmslos auszusehen. Sie tippte Jon auf die Schulter und fragte: „Hey, Jon, wann legen wir wieder ab?“ Er drehte sich besorgt zu ihr um und fragte: „Warum willst du eigentlich so schnell von hier weg? Ist irgendetwas vorgefallen?“ Verblüfft entgegnete sie: „Wie kommst du denn darauf?“ „Nun, es ist schon recht ungewöhnlich, dass du so schnell wieder auf See willst.“ „Nein, es ist nichts passiert, aber irgendwie möchte ich etwas Neues sehen, erleben und hier in New Providence geht das nicht.“ „Ach so? Was möchtest du denn neues erleben?“ „Keine Ahnung, ich will einfach Abwechslung, nicht immer die gleiche Stadt, die gleichen Gesichter. Es ist hier immer alles gleich!“ „Mag sein, aber ich kann mich nicht nur nach deinen Wünschen richten, du musst verstehen, die Crew hat auch gewisse Ansprüche und im Moment, glaube ich, fühlen sie sich ganz wohl hier.“ Er nickte zu Terry, der gerade eine der Huren küsste, Laffite, der anscheinend ziemlich betrunken bei einer im Arm lag, Edward, der seinerseits eine abgefüllt hatte, die jetzt in seinem Arm lag und den ganzen anderen, die sich anscheinend wirklich pudelwohl fühlten. Kim seufzte und erwiderte nichts. Charles allerdings ergriff sie bei den Schultern, zog sie zu sich nach hinten und fragte sie eifersüchtig: „Was hast du denn mit deinem Jonny-Boy besprochen?“ Verärgert entgegnete sie: „Er ist nicht mein Jonny-Boy, er ist mein Captain und hör endlich auf uns eine Affäre zu unterstellen. Außerdem habe ich ihn nur gefragt, wann wir ablegen… Lass das!“ Er hatte seine Hand etwas zu tief sinken lassen und sie sprang entnervt auf und brüllte: „Verdammt noch mal, lass deine Finger gefälligst da, wo ich sie sehen kann! Mir reicht’s, ich gehe!“ Wütend stapfte sie aus der Spelunke, das Gelächter der anderen Piraten ignorierend. Sie fror ein wenig, doch hatte sie keine Jacke dabei, die sie sich überziehen konnte. Kurzerhand ging sie zu einem Kerl, der da an eine Mauer gelehnt stand und sich eine Zigarette drehte. Aggressiv forderte sie: „Gib mir auch eine, aber mach hinne, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit!“ Von ihrem rauen Ton irritiert, gab ihr der Mann die Kippe, die er sich gerade anstecken wollte und zündete sie ihr an. Sie tat einen kräftigen Zug und versuchte auch einen Lungenzug, doch sie musste anfangen zu husten und beließ es so fürs Erste beim Paffen. Cecile und Jackie hatten ihr einmal erzählt, dass Zigaretten beruhigend wirkten, doch sie fand, sie kratzten und ihr wurde davon schwindelig. Dennoch rauchte sie weiter, während sie zum Hafen lief. Plötzlich nahm ihr jemand die Zigarette aus der Hand, nahm einen Zug und trat sie dann aus. Anschließend sagte McQuilligan: „Lass das, hast du erst einmal angefangen, kannst du nicht mehr aufhören und beim Küssen schmeckt es grässlich.“ Die Hände in die Hosentaschen steckend ging sie weiter und murmelte: „Wenn du meinst.“ Ein Weilchen ging er neben ihr her und schwieg, dann sagte er: „Ich glaube, Genitson hat Recht. Du verhältst dich wirklich seltsam, was ist denn los?“ Sie kickte einen Kieselstein, der vor ihr auf dem Weg lag vor sich her und antwortete: „Nichts.“ „Ach komm schon, erzähl es mir doch. Ich segele sowieso zum Mittelmeer, also wirst du mich wahrscheinlich nicht mehr wieder sehen, von daher kann ich dir auch nichts vorhalten und im Prinzip müsste dir dann auch nichts peinlich sein…“ „Hat Jon dich geschickt, damit du herausfindest, warum ich so schlecht drauf bin?“ Erst druckste er verlegen rum, dann allerdings sagte er: „Ja, es stimmt schon, aber ehrlich gesagt, kannst du einem schon Sorgen machen. Wenn ich bedenke, wie du warst, als ich dich das erste Mal gesehen habe, du wirkst viel verschlossener.“ „Ich habe mit Charles geschlafen.“ „Na und? Wenn ich jedes Mal, wenn ich mit einer Frau geschlafen habe so melodramatisch geworden wäre, dann hätte die Crew schon längst gemeutert. Was soll’s? War eben ein Ausrutscher. So was passiert.“ Abrupt blieb sie stehen und sagte: „Nein, das darf nicht passieren. Es liegt aber nicht daran, dass es passiert ist, oder dass es mit ihm passiert ist, es liegt viel mehr daran, dass er Leos Bruder ist.“ Leiser fügte sie hinzu: „Oder war.“ Und ging weiter. „Was ist so schlimm daran, dass er mit Leo verwandt ist? Wer ist Leo überhaupt?“ „Ich habe dir doch schon mal von ihm erzählt, oder?“ „Nein, nicht soweit ich weiß und an solche Sachen erinnere ich mich für gewöhnlich.“ „Leo, er ist – war - der Einzige, den ich liebe. Der Einzige, niemanden werde ich jemals so lieben können wie ihn. Und nun macht sich Charles Hoffnungen und will sogar auf der Vengeance anheuern, aber er ist sein Bruder und ich kann doch nicht mit seinem Bruder; das wäre so- so falsch.“ „Das ist es also, es liegt an ihrer Verwandtschaft, die Wurzel allen Übels liegt in ihrer Bruderschaft.“ „Mach dich nicht über mich lustig.“ „Nun sei aber mal ehrlich, ein schlechtes Gewissen hättest du doch auch, wenn er nicht Leos Bruder gewesen wäre. Du suchst nur nach Ausflüchten dein schlechtes Gewissen zu begründen, aber du solltest es aufgeben, denn die Schlacht kannst du nicht gewinnen, schließlich hast du ein schlechtes Gewissen, weil du ehrlich bist. Aber das ist gut so. Und jetzt komm an meine Brust, damit ich dir gute Nacht sagen kann.“ Er wartete jedoch nicht, sondern schlang überheblich seine Arme um sie und quetschte sie zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam. Als er Kim endlich wieder losließ und sie nach Luft schnappte, grinste er: „Ich wünsche dir eine gute Nacht und wunderschöne Träume. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken, sonst kannst du nicht schlafen, außerdem ist Leo tot, der bekommt nix mehr mit.“ Sie winkte ihm nur noch leicht verwirrt nach und dachte sich, wenn der wüsste. Doch als sie sich hinlegte, konnte sie tatsächlich nicht einschlafen, weil ihr tausende Gedanken durch den Kopf schossen, einer ungreifbarer und schwachsinniger als der andere. Sie wälzte sich schon Ewigkeiten, so kam es ihr vor, hin und her, da hörte sie, wie die Türe geöffnet wurde. Schlagartig setzte sie sich auf und spähte in die Dunkelheit, den Fremden zu erkennen, doch da flüsterte Jon schon: „Scht, ich habe eben noch mal mit McQuilligan geredet, er meint, es wäre immer noch wegen Leo und jetzt auch noch wegen Charles…“ Er war näher an sie herangetreten und schnupperte leicht irritiert. Dann fragte er: „Hast du geraucht?“ Schuldbewusst bejahte sie und er wetterte: „Was fällt dir ein? Du fängst mir nicht das Rauchen an, ich bin sowieso gerade am Überlegen, ob ich es an Bord verbiete, was das für Gefahren sind! Da kann das Schiff so leicht Feuer fangen! Außerdem kannst du nie wieder aufhören, wenn du einmal mit dem Scheiß angefangen hast!“ Ruhig entgegnete sie: „Jetzt tu nicht so, ich weiß genau, dass du auch ab und zu mal eine rauchst, also spiel dich nicht auf, als wärst du mein Vater.“ Er lachte auf und sagte: „Hast ja Recht, Lilay. Was du nicht alles mitbekommst. Tut mir Leid, ich werde mich nie wieder aufführen wie dein Vater, ich verspreche es dir hoch und heilig, ich gebe dir darauf sogar mein Piratenehrenwort!“ Geringschätzig lachte sie auf und meinte: „Also auf Piratenehrenwörter kann ich echt verzichten, das musste ich schon mal feststellen.“ Sich auf den Stuhl setzend, zuckte er mit den Achseln und entgegnete: „Na wenn du meinst.“ „Ja, meine ich. Aber trotzdem danke, dass du dir Sorgen um mich machst. Auch wenn du dich aufführst wie mein Vater.“, kicherte sie. Auch er lachte auf, doch wurde er gleich wieder ernst und sagte: „Nein, wirklich, du weißt, ich bin immer für dich da. Und wenn dir einer ein Haar krümmt, dann kann der sich auf was gefasst machen. Das wollte ich dir eigentlich nur sagen.“ Sie lächelte mild und entgegnete: „Danke, das ist lieb von dir und ich weiß es zu schätzen.“ „Aber lass mich dir einen Tipp geben.“ „Von mir aus.“ „Gib Charles eine Chance. Vielleicht ist er ja ganz anders als Leo, wer weiß? Und vielleicht kannst du ihn sogar lieben, also lass es auf einen Versuch ankommen.“ „Ich weiß nicht so recht, vielleicht sollte ich es wirklich versuchen.“ „Genau. Und selbst, wenn es nicht funktionieren sollte, jedes Ende ist ein neuer Anfang, also Kopf hoch, es wird schon schief gehen.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von ihr und ging. Bis eben war sie noch hellwach gewesen, doch auf einmal war sie todmüde und schlief ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)