Almost lost von shot_coloured ================================================================================ Prolog: -------- Er hätte es vorher wissen müssen. Natürlich. Im Grunde ist es ganz einfach: alles ändert sich, alles ist im ständigen Wandel. Nur braucht manches länger, als anderes. Und manches ändert sich nicht im Laufe eines Menschenlebens, sodass es einem vorkommt, als würde es stillstehen. Das war der Grundgedanke. Und er hatte es immer gewusst, dass man sich auf die Dinge nicht verlassen konnte, dass sich der Wind andauernd drehte und das der größte Teil der Menschheit ihr Dasein in einer fortwährenden launischen Stimmung verbrachte. Ja, das ist wahr. Aber manchmal hilft einem auch Wissen nicht, um Dummheiten zu vermeiden. Nein, denn eigentlich war es ja auch nicht die Vernunft, die diese Dummheit begann, eigentlich war es… Was war es? Leidenschaft? Affekt? Oder nur der Versuch der grauen Eintönigkeit zu entkommen? War es am Ende nur Langeweile? Kapitel 1: ----------- Er, heiß Sebastian und war ein 27 jähriger Bürohengst, stand mit beiden Beinen fest im Leben, war nie ein größeres Risiko eingegangen, als er hätte tragen können und hatte dennoch – oder auch gerade deswegen – einen sehr guten Erfolg in der Firma zu verzeichnen. Abteilungsleiter… nicht übel, wenn man bedachte, dass er sich nicht mit Connections, sondern mit harter Arbeit dahin bewegt hatte. Lange Arbeitszeiten, trotzdem häufig noch Überstunden, kaum ein Privatleben. So war es ja auch viel bequemer, denn dann musste er sich nicht mit seiner Familie beschäftigen, oder gar mit den Problemen Zwischen-menschlicher Beziehungen. Es mochte ein Klischee sein, dass Chefs immer ein bisschen Weltfremd sind. Aber bei ihm traf es zu, und auch das wusste er. Es war ihm nur schlichtweg gleichgültig. Dabei hatte er fachliche Kompetenzen, die niemand leugnen konnte, und war nicht nur wegen seines Postens, sondern auch wegen seines Aussehens sehr begehrt, bei den meisten weiblichen Mitarbeitern. Aber Beziehungen? Nicht nur in sexueller Hinsicht, in jeder Form von Zwischenmenschlichen Beziehungen war er hoffnungslos überfordert gewesen. Menschen, sind wie das Papier in seinem Büro. Es gibt viel zu viel davon, und das meiste gehört sowieso in den Müll. Dennoch hatte Sebastian, als er die 25 erreichte, beschlossen die einzige Frau zu heiraten, die es über längere Zeit mit ihm ausgehalten hatte. Sie hatte ihn wirklich lieben wollen, da war er sich sicher. Aber ob sie es auch tat? Er jedenfalls, nahm sie zur Frau, um nach der Erfüllung im Leben zu greifen. Ja, so war der Plan. Letztlich aber nur, um sich anzupassen. Rückblickend, sah er so auf sein Leben herab. Und das war in Ordnung. Ehrlich. Denn er hatte einen Grund, um weiterzumachen, um den Kampf nie aufzugeben, und dieser Grund hieß Syra. Große, blaugrüne Augen und kurzes, aber dichtes, helles braunes Haar. Wenn sie Lachte, war es so überwältigend schön, dass es ihn beinahe schmerzte. Sie war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, fast ein Ebenbild, eine Miniaturausgabe von ihm. Seine Tochter, gerade ein halbes Jahr alt, aber bereits eine starke Persönlichkeit. Und er liebte sie. Es gibt nicht viele Menschen, die einen so starken Antrieb besitzen, der sie aus allen Tiefen wieder empor zu reißen vermag. Er hätte sich glücklich schätzen können. Aber die Menschen sind vermutlich niemals wirklich zufrieden, nicht über längere Zeit. Dazu ist die Zeit zu sehr im Wandel. Oder auch sie selbst. *** Die Einsicht kommt spät, aber immerhin kommt sie noch: man sollte niemals, wirklich niemals im Rausch ein ernsthaftes Gespräch führen, und schon gar nicht, wenn sein Gegenüber nüchtern ist. Markus erinnerte sich nur Bruchstückhaft an seine Geburtstagsparty, die immerhin erst 9 Stunden zurück gelegen hatte, aber es reichte aus, um ihm klar zu machen, dass er etwas sehr, sehr dummes getan hatte. Er lag auf einem halbwegs bequemen Untergrund. Das war vorerst alles, was er mitbekam. Widerstrebend erhob er sich, schwankte und schaffte es gerade noch zu einem Eimer, neben der Couch auf der er gelegen hatte, und erbrach sich darüber. Es war sein 27. Er wollte ihn nicht feiern, dass war viel zu deprimierend, aber irgendwie ließ er sich wohl doch breitschlagen. Markus musste seine langen Haare zurückhalten, damit er nicht auf sie spukte. Seine braunen Augen waren blutunterlaufen und sein Kopf dröhnte. Er konnte die Umgebung, in der er sich befand nur verschwommen wahrnehmen, aber er wusste auch so, wo er war: Bei ihm. Bei Alesandro, dass verriet schon die Größe des Raumes und eine Rote Wand, die sonst nur von Weißen umgeben war. Warum er hier war, wusste er nicht mehr, nur, dass er einfach nicht von ihm los kam. Dass er nur auf der Couch geschlafen hatte, war aber immerhin ein Anfang gewesen. Dass glaubte er zumindest. Alesandro war fast ein Star im Untergrund. Seine Band war zwar nicht so erfolgreich, dass es zu mehr hätte reichen können, aber seine kleine Fangemeinde vergötterte ihn dennoch. Dass er gut aussehend war, brauchte ihm keiner zu sagen, denn er wusste es selbst! Er war sehr groß, durchtrainiert, hatte Schulterlanges, rotes Haar und eisblaue Augen, so charismatisch, dass ihm kaum jemand widerstehen konnte. Und das war auch das Problem: er liebte es, umgarnt zu werden, vielleicht brauchte er es auch. Gelegentlich war der Reiz – gerade weil verboten – so groß, dass er ihm nicht trotzen konnte. In jenem Fall war es Alesandro auch egal, ob weiblich oder männlich, was ihm gefiel, wirklich gut gefiel, wollte er besitzen, es reichte ja für eine Nacht. Danach wollte er die Betreffenden oftmals nie wieder sehen. Das war bei Markus anders, warum allerdings, konnte sich er selbst nie so recht erklären. Deshalb hatte er Alesandro an diesem Abend auch darauf angesprochen, als sie auf der Herrentoilette kurz allein waren. „Warum willst du mich eigentlich?“, er war schrecklich angetrunken, und hatte einen Joint geraucht, eigentlich halb so wild, aber sein Gegenüber war absolut nüchtern gewesen. Dieser sah ihn mit seinem unglaublich verführerischen Blick an, beugte sich vor und sagte: „Ich kann nichts dafür, ich liebe dich.“ Markus dagegen lachte auf. „Du? Du liebst doch nur dich selbst! Wem machst du was vor?“ Er lachte noch einmal, diesmal eher ernüchtert. „Ich weiß schon: Allen.“, beantwortete er seine Frage schließlich selbst. Eigentlich wollte er ihn noch fragen, ob er ihn nur wollte, weil er sich so heftig sträubte, weil er ihn immer wieder erobern musste, (war es das?), aber in dem Moment betrat jemand die Toilette und er ergriff schließlich die Flucht. Markus hatte bis dahin selten aus freiem Willen mit ihm geschlafen, er war immer sehr abweisend gewesen und musste meistens von Alesandro mit (oftmals noch barmherziger) Gewalt bezwungen werden. Dabei hatte er es gewollt. Aber dessen Starallüren gingen ihm so unglaublich auf die Nerven, dass er hätte schreien können. Im Grunde hasste er ihn mehr, als er ihn liebte, und war dennoch von ihm abhängig. Und im Grunde hasste er sich selbst dafür. Markus saß inzwischen wieder auf der Couch, auf der er erwacht war, und trank ein Wasser. Es fiel ihm wieder ein, dass er nicht auf diesem Sofa eingeschlafen war, sondern dass er draußen von ihm abgefangen wurde. Sie hatten sich noch eine Weile gestritten. Diesmal war es ihm zu weit gegangen, vor allem, weil er betrunken war und dann ohnehin alles schlimmer erscheint. Er wollte Alesandro diesmal wirklich verlassen, aber das schien diesen nur noch begieriger auf Markus werden zu lassen. Und irgendwie hatte er seinen Willen erneut gebrochen, irgendwie schaffte er es, dass dieser ihm zwar nicht verzeihen, aber immerhin ausblenden konnte, was gewesen war. Sie hatten Sex in der Gasse, wo er ihn abgefangen hatte, und im Flur in Alesandros Wohnung und noch mal in seinem Bett. Erst spät in der Nacht war er ins Wohnzimmer gewankt, legte sich dann aber doch auf der Couch nieder, weil er keine Kraft mehr hatte weiter zu gehen. Es war inzwischen halb Zwei, Nachmittags, und Alesandro war weg, hatte aber freundlicherweise einen Eimer dagelassen. „Wie soll das bloß enden?“, Markus war nicht glücklich über eine solche Beziehung, gewiss nicht. Aber traurigerweise war sie noch eines der besseren Dinge in seinem Leben. Was hatte er sonst schon erreicht? Er ging auf die 30 zu, war von einem Job in den nächsten geschlittert und hatte es oftmals nie länger als zwei Jahre ausgehalten. In dieser Stadt, in der er im Moment gelandet war, war das nicht anders. Er war – wie nannten sie es noch? –Installateur, was im Grunde wenigstens halbwegs seiner Ausbildung als Elektriker nahe kam, und in einer Galerie beschäftigt. So hatte er auch Alesandro kennen gelernt. Weil er eine Galerieleiste angeschraubt, und einige Bilder seines Lieblingsmalers ausbalanciert hatte. Sie hatten eine ganze Weile darüber diskutiert, bis Alesandro zu erkennen gab, dass er sie gemalt hatte. Ja, ja, ein Künstler in vielerlei Hinsicht. Markus war aber bereits so taktlos gewesen sie als Schrott hinzustellen, und er stand zu seiner Meinung, als er das wusste. Das schien den jungen Künstler wiederum, dennoch durchaus zu gefallen. Nicht jeder hat den Mut – oder die Dummheit – seinen Arbeitsplatz zu gefährden, nur um seine Meinung zu vertreten. *** An diesem Tag war es schief gegangen. Nicht, dass es sonst glatt lief im Geschäft, sicherlich nicht, aber diesmal hatte sich wirklich alles gegen Sebastian verschworen. Dabei war er so sicher gewesen, hatte sich mehr als ausreichend vorbereitet, lieferte eine überzeugende, souveräne Präsentation ab und war wirklich guter Dinge. Immer, wenn es zu gut läuft, stockt das Rad, um uns daran zu erinnern, das es läuft. Wie zerbrechlich doch alles sein kann, es kam ihm wieder in den Sinn, als seine Finanzstärksten Kunden nicht mitzogen und damit das Projekt zur Farce erklärten. Alle bisherige Planung, alle Skizzen, alle Modelle, waren herausgeschmissenes Geld gewesen. An diesem Abend wollte er seinen Frust ertränken. Nicht im Fluss, nein, aber im Alkohol. Nun, er war kein Trinker, einige, weniger Gläser Tequilla sollten ihren Dienst schon verrichten. Wo geht man hin, um ungestört und unerkannt zu bleiben? Dorthin, wo man sonst niemals verkehren würde. Und das tat Sebastian auch, in dieser verrauchten, heruntergekommenen Bar, um di e er ansonsten einen großen Bogen gemacht hätte. Dass er mit seinem dunkelbraunen, eleganten Anzug und seinen 250 Mücken teuren Schuhen sehr auffallen würde kümmerte ihn aber nicht sonderlich. Und so kam es dann auch, dass er an der Theke saß und der süßen Bardame die Ohren abkaute. Dass diese, ihrem doch ziemlich aufdringlichen Gast, immer wieder freudig nachschenkte, damit er doch irgendwann vom Stuhl fallen würde, verwunderte dann nicht. Süßer Rausch, komm´! Manche heitern sich mit einem anständigen Fick auf, manche auch mit einem schmutzigen… Aber was es auch ist, es soll die entsetzliche Leere füllen, stattdessen wird sie einem dadurch nur umso schmerzlicher bewusst. *** „Wo hast du mich jetzt schon wieder hingeschleppt?“, Markus war entnervt und müde. Gelegentlich packte es seinen Freund und er ergriff die Flucht von Orten, in denen er zu bekannt war. Es kam nicht oft vor, dass er ihn dabei mitnahm, aber diesmal schien er sich ernsthaft bei Markus entschuldigen zu wollen. Na ja, so weit das bei Alesandro möglich war. Die höchste Stufe schien damit erreicht. „Hier ist selten etwas los, wahrscheinlich überlebt der Laden nur durch andere Geschäfte.“, antwortete Alesandro schließlich. „Geldwäsche?“, warf sein Gegenüber ein. Dieser zuckte nur gleichgültig mit den Achseln. Das dieser Schuppen selten viele Gäste hatte war nicht unbedingt offensichtlich. Denn trotz der schlechten Lage im Industriegebiet und trotz der unglaublich stickigen Luft, war doch immerhin die Musik ganz passabel und die Bardame… wow, ein hübsches Ding! Dennoch hatte sich nur eine Hand voll Leute hier eingefunden. Ein Pärchen saß an einem Tisch zu ihrer Linken, und feierte irgendein Jubiläum, zu ihrer Rechten saßen drei Mädels und zwei halbstarke Kerle, die sich bemühten sie irgendwie zu beeindrucken und es tanzten sogar drei Gestalten. Sah nicht sehr elegant aus, aber immerhin. An der Theke lungerte ein heruntergekommener Säufer, auf der anderen Seite ein frustrierter Geschäftsmann. Das war wirklich ein viel versprechendes Ambiente. Die beiden Neulinge wurden von fast allen schaulustig inspiziert, aber entgegen seiner Befürchtung erkannte den selbsternannten Star niemand. Dennoch genoss er die bewundernden Blicke mit einer offensichtlichen Arroganz. Markus nahm es genervt zu Kenntnis, versuchte aber es zu ignorieren. Er ging geradewegs zur hübschen Bardame und bestellte sich erst einmal zwei Schnaps. Er hatte wirklich große Lust es Alesandro schwer zu machen, ihn vielleicht mit einer kleinen Affäre zu verletzen, oder einfach ein bisschen Spaß mit jemand anderem zu haben. Irgendwie lag ihm die Verführungsnummer nicht, und wahrscheinlich hätte er auch ohnehin keinen Erfolg gehabt, aber er wollte der Bardame trotzdem schöne Augen machen. Nicht, dass er irgendetwas mit einer Frau hätte anfangen wollen, aber um sein Selbstbewusstsein zu stärken, reichte es aus. Er war ja auch wirklich süß. Das musste die Bardame gedacht haben, denn sie flirtete von sich aus mit ihm. Markus setzte sich an die Bar, neben den heruntergekommenen Säufer – was er aber nur am Rande mitbekam – und unterhielt sich mit ihr. Das schien Alesandro nicht zu stören, denn obwohl er sich nun neben seinen Freund platziert hatte, rückte er ihm nicht nahe genug auf, um etwa einen Besitzanspruch geltend zu machen. „Ich bin gleich wieder bei dir…“, gab sie Markus zu verstehen und wandte sich notgedrungen wieder ihren anderen Gästen zu. Dieser schenkte ihr ein erwartungsvolles Lächeln. * Sebastian hatte die beiden Ankömmlinge nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Missgelaunt bemerkte er nur, dass seine Gesprächspartnerin sich mit sehr viel größerem Interesse jemand anderem zuwandte. Als er Markus zum ersten Mal wirklich ansah, kam er ihm seltsam bekannt vor. Es viel im schwer, sich an irgendetwas zu erinnern, ein Schwindel überkam ihn und er rieb sich mit einer Hand über seine Augen. „Ich sollte nach Hause gehen.“, flüsterte er zu sich selbst. Eine Besitzergreifende Trauer legte sich auf ihm nieder. Wann war ihm sein Leben nur so wertlos vorgekommen? Er versuchte verzweifelt sich Syras Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, aber es verschwamm sofort wieder. Wäre sie und Mareen nicht bei seiner Schwiegermutter, wäre er vermutlich nicht mehr hier, aber andererseits musste er nun wenigstens keine Erklärungen abgeben. Immer wieder zog es seinen Blick auf den jungen Mann, gegenüber von ihm. Irgendwoher… kannte er ihn. Dieser flirtete immer noch ungehemmt und wurde sich seiner Umgebung nicht gewahr. Erst als dessen überheblicher Begleiter ihn darauf aufmerksam machte, dass ihn „der Typ da vorn“ andauernd anstarrte, wandte er seinen Blick von der Bardame und schaute in Sebastians Richtung. Dessen Reaktionsgeschwindigkeit und sein Schamgefühl waren durch seinen Alkoholspiegel so weit heruntergesetzt, dass er ihn auch noch ansah, als dieser seinen Blick erwiderte. Trotzdem überraschte es ihn, als sich der junge Mann erhob und auf ihn zuging. „Sebastian?“, flüsterte Markus. Es war eigentlich keine Frage, eher eine plötzliche Erkenntnis. Kapitel 2: ----------- „Sebastian?“, flüsterte Markus. Es war eigentlich keine Frage, eher eine plötzliche Erkenntnis. Er schien vielmehr zu sagen: Scheiße, was ist denn aus dir geworden? Die Musik war zwar nicht sehr laut, aber Sebastian verstand trotzdem nicht, was er da geflüstert hatte, er ahnte es nur. Angestrengt betrachtete er den jungen Mann und versuchte sich an irgendetwas zu erinnern. Als dieser genau vor ihm stand, blickte er von oben auf ihn herab, da sein Gegenüber nicht vom Barhocker aufgestanden war. Eine Weile sahen sie sich nur an und Markus bemerkte amüsiert, wie sein alter Freund immer noch versuchte ihn einzuordnen. Als ihm klar wurde, dass er es an diesem Abend vermutlich nicht mehr zu Stande brachte, klärte er ihn auf, wer er war und dass sie sich das letzte mal gesehen hatten, als sie beide 15 waren. „Markus…“, flüsterte Sebastian verstehend. Ja, er erinnerte sich, natürlich, wie hätte er ihn auch vergessen können? Er hatte nur nicht geglaubt, dass er sich so sehr verändert hatte. Sein Haar war nun lang und wahrscheinlich schwarz gefärbt, zudem trug er ein kleines Bärtchen am Kinn. Sein Gesicht war natürlich nicht mehr so Knabenhaft, es war inzwischen sehr maskulin, aber ausgesprochen hübsch. Außerdem war er erstaunlich kräftig, er musste eine körperlich anstrengende Arbeit haben. Aber seine braunen Augen… und der viel sagende Blick, ja, er war es zweifelsohne. Dieser lächelte ihn an, er war ehrlich erfreut ihn wieder zu sehen. Sebastian stand nun doch auf und umarmte ihn Freundschaftlich. Vielleicht lag es an der offensichtlich großen Menge an Alkohol, die er zu sich genommen hatte, aber er umarmte ihn etwas zu lange. Alesandro, der immer noch auf der gegenüberliegenden Seite der Bar saß, betrachtete das mit feindseligem Blick. Endlich löste er sich von seinem Freund und sah ihn an. Es war ein merkwürdiges Gefühl für Sebastian, ihn zu umarmen und er wusste selbst nicht, warum. Markus dagegen gefiel, was er sah. Nicht, dass er es erwartet hatte, aber er wusste immer, dass sein alter Kumpel es weit bringen würde, er war schon damals ein geistiger Überflieger gewesen. Er erinnerte sich auch, dass er früher eine ähnliche, kleine Brille getragen hatte, die ihm damals wie heute immer noch sehr gut stand. Überhaupt sah er verdammt gut aus, er wagte es nicht zu Alesandro zu blicken, hoffte aber, dass er wenigstens einmal so etwas wie Eifersucht empfinden würde. Sie setzten sich nebeneinander und fingen sofort an zu plaudern, fast so, als wären sie immer noch die besten Freunde. Er war so ins Gespräch vertieft, dass er Alesandro irgendwann einfach vergaß. „Du bist verheiratet?“, fragte Markus erstaunt. „Nicht zu fassen, welches bezaubernde Geschöpf würde sich ein Zusammenleben mit dir antun?“, stichelte er unverblümt und grinste. „Sie heißt Mareen.“, erwiderte dieser, ganz und gar nicht verliebt. Er wollte nicht über sie sprechen, er wollte nicht einmal über Syra sprechen und ganz sicher würde er jetzt nicht sein Portmonee rausholen und Fotos zeigen. Trotzdem erwähnte er, dass er sogar eine Tochter habe und dass sie das Beste ist, was ihn in seinem Leben passierte. Markus schien alles begierig aufzusaugen, was dieser erzählte. Er ließ es sich zwar nicht anmerken, aber er bemerkte fast etwas erfreut, dass seine Ehe nicht so gut zu laufen schien. Immerhin war er hier und nicht bei ihr. „Was ist mit dir?“, fragte Sebastian nun ausweichend. „Hast du jemanden?“, er blickte ihn auffordernd in die Augen. „Ich…“, er drehte sich nun in Alesandros Richtung, doch dieser saß nicht mehr an der Theke. Nach einem kurzen, suchenden Blick sah er, dass dieser mit einem Typen redete, der sich zuvor auf der Tanzfläche ausgelassen hatte. „Er?“, fragte Sebastian ganz und gar nicht überrascht und deutete mit einer Kopfbewegung in Alesandros Richtung. Markus blickte seinem alten Kumpel fast etwas eingeschüchtert entgegen. „Kann ich noch nein sagen?“, fragte er schließlich und lächelte leicht. Dieser schüttelte nach kurzer Überlegung den Kopf. „Dazu hast du jetzt schon zu lange gewartet.“, ergänzte er noch. Sie lachten leise darüber, wurden aber bald wieder ernst. Nun wurde es zu ersten Mal still, zwischen den beiden. Sebastian sah deprimiert auf sein Glas herab und leerte den Rest mit einem Zug. Auch sein Gegenüber starrte auf die Theke und schien seltsam betrübt. „Möchtest du… über damals reden?“, fragte Sebastian schließlich zögernd. „Nein.“, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, und es war ein sehr entschiedenes nein, fast ein bisschen grob. „Wir haben nie darüber geredet…“, hakte der Geschäftsmann nach. Sicher, er war ziemlich betrunken, aber er hätte ihn vermutlich auch nüchtern danach gefragt, es beschäftigte ihn einfach schon viel zu lange. Dieser antwortete jedoch immer noch nicht. „Hey, wieso bist du sauer? Wenn schon, dann hätte ich einen Grund sauer zu sein, immerhin bist du einfach aus meinem Leben getreten, ohne ein Wort.“, redete Sebastian immer weiter. Er stockte aber, als er bemerkte, wie starr und verletzt Markus´ Blick zu Boden gerichtet war. „…Schon gut, du… musst ja nicht darüber reden.“, stammelte der Geschäftsmann, nach langen Zögern, um die Situation etwas zu entspannen, aber er schaffte es nicht. Markus stand nun auf und versuchte ruhig zu klingen, als er sagte: „Lass uns an die frische Luft gehen.“ Schweigend gingen sie nebeneinander her. Es war kalt geworden, ein frischer Wind war aufgezogen und hatte dunkle Wolken herangebracht. Aber es würde noch einige Stunden dauern, ehe es regnete. Markus setzte sich mit verschränkten Armen auf den Sims eines Fensters und blickte überallhin, vermied es aber Sebastian anzusehen. *** Vergangenheit (12 Jahre zuvor) *** Sebastian war gerade erst 15 geworden, als er und Markus wirklich Freunde wurden. Zuvor kannten sie sich zwar, waren aber einfach zu verschieden, um auf die Idee zu kommen, gemeinsam etwas zu unternehmen. Sebastian war wahnsinnig schüchtern, aber seine Intelligenz stellte niemand in Frage. Beliebt war er natürlich trotzdem nicht und im Grunde war es ihm auch völlig egal. Markus dagegen war zwar auch ein Außenseiter, aber aus einem ganz anderem Grund: er hatte sich mit jemanden angelegt, der auf der Beliebtheitsscala ganz oben stand und war nach und nach immer tiefer gefallen. Niemand wollte schließlich noch etwas mit ihm zu tun haben, aus Angst sie könnten ihren so ungeheuer wichtigen Status verlieren. Er hatte letztlich nur noch 2 wirkliche Freunde: seinen etwas dicklichen Kumpel Jens, der sich damit abgefunden hatte, Specki zu sein (was ihn dennoch maßlos ärgerte), und einen Jungen, der seinen Stil so häufig wechselte, wie seine Unterhosen. Er hatte vom Jazz Liebhaber über Hip Hopper über Grufti bis schließlich zum Rocker so ziemlich alles durch. Eugen war sein Name gewesen. Komischer Kauz, aber er war immerhin ehrlich und hatte einen Sinn für Gerechtigkeit. Sebastian wollte eigentlich nicht auf diese Klassenfahrt. Er hasste es, in der Nacht mit Zahnpasta beschmiert zu werden, oder seine Hefter in der Toilette wieder zu finden. Das war nicht einmal das schlimmste, das grausame an der ganzen Angelegenheit waren die verspottenden Worte, die sie vermutlich wahnsinnig überlegen fühlen machten. Er konnte ihren bösartigem Spott und gemeinen Worten einfach nichts entgegensetzen, es waren zu viele und er zugegebenermaßen zu feige dazu. Er bewunderte Markus manchmal, der mit einer ähnlichen Situation sehr viel Selbstsicherer umging. Er wehrte sich immer, auch wenn er manchmal handgreiflich wurde und dann mitbestraft wurde. Es kümmerte ihn nicht. Er trat seinen Klassenkameraden mit einer solchen Arroganz und Selbstsicherheit entgegen, das sie eigentlich nur gespielt sein konnte, so abgebrüht ist nämlich niemand. Das sollte zumindest niemand sein, das wäre nämlich wirklich unerträglich. Aber irgendwann half es, denn obwohl er immer noch gemieden wurde und obwohl sie hinter seinem Rücken tuschelten, wagte es doch kaum noch jemand sich direkt mit ihm anzulegen. Sebastian wünschte, dass er auch den Mut dazu gehabt hätte. Aber dem war nicht so, leider. Und irgendwie hatte seine Mutter es geschafft, ihn zu dieser Klassenfahrt anzumelden, und er saß dann doch im Bus und las ein Buch. Niemand setzte sich neben ihn. Natürlich nicht. Der einzige, der auch keinen Partner neben sich hatte war Markus, der jedoch seinen Kopf zu seinen beiden Kumpels gedreht hatte und ununterbrochen mit ihnen quatschte. Ach wäre er doch so wie er! Es hätte einiges erleichtert, dessen war er sich sicher. Das erste Mal, als sie aufeinander gerieten, war es äußerst unsanft. Paul, ein Klassenkamerad von ihm, hatte Sebastian in der Herberge absichtlich angerempelt, sodass er seine Bücher verloren hatte. Dieser lachte nur lautstark darüber, schnappte sich eines und ging zu seinen Kumpels, die dem Geschehen mit offensichtlichem Amüsement folgten. Der Anrempler schaute auf das Buch und lachte nur noch breiter. „Das Parfüm…von Patrick Süskind!“, las er lautstark vor. „Ein Schwuchtelroman!“ Sebastian sammelte seine anderen Bücher kommentarlos wieder ein. Er schluckte und versuchte seinen Ärger aber auch seine Verletzlichkeit nicht zu zeigen. Mit viel Überwindung schaffte er es, Paul in die Augen zu sehen. „Gib es mir wieder.“, murmelte er kleinlaut. Natürlich hatte das eher den gegenteiligen Effekt, denn der Kerl hob es über seinen Kopf und grinste blöd. „Hol´s dir doch, kleine Tucke.“, spottete er. Die Umstehenden hatten nur Gelächter für ihn übrig. Sebastian schluckte noch einmal hart und streckte verzweifelt die Tränen nieder, die in ihm aufstiegen. Für einen Moment gelang es ihm auch. Markus war so plötzlich hinter dem Typen aufgetaucht, dass selbst Sebastian es nicht gleich bemerkt hatte. Ohne Vorwarnung schlug er Paul mit der Handfläche auf den Hinterkopf, zwar nur mit mäßiger Kraft, aber es reichte, um ihn erschrocken herumwirbeln zu lassen. Bestürzt und verärgert funkelte sein Klassenkamerad ihn an, brachte im ersten Moment aber keine Erwiderung hervor. „Hast in deinem völlig beschränkten Hirn wohl kein Platz mehr für Weltliteratur, was?“, herrschte Markus ihn an, nahm ihm das Buch ab und warf es Sebastian zu, der es nur knapp fangen konnte. Unbeeindruckt ging er aus der Menge und verschwendete nicht einmal mehr einen Blick an die Umstehenden. Nachdem sich Paul halbwegs gefangen hatte, warf er seinem Peiniger wenigstens ein „Idiot“ hinterher und drehte sich beleidigt und erzürnt weg. Dass Markus das nicht aus einem plötzlichen Ehrgefühl heraus getan hatte, war Sebastian bereits bewusst (denn dafür hatte er viel zu häufig einfach weggesehen). Dennoch suchte er seinen Verteidiger nach einigen Stunden auf, nachdem er den Mut gefunden hatte, sich aufzuraffen und sich wenigstens zu bedanken. Es war seltsam still um Pauls Clique geworden, und Sebastian fragte sich ernsthaft, welchen Blödsinn sie nun wieder anstellten. Aber eigentlich war das Wort Blödsinn noch zu gelinde ausgedrückt, für dass, was sie so abzogen. Nun ja, immerhin traf es diesmal nicht ihn. Immerhin… Die meisten, wenn nicht alle, aus seiner Klasse feierten ausgiebig, und trotz des doch ziemlich eindeutigen Verbotes, floss der Alkohol in Massen. Eigentlich wollte Sebastian in seinem Zimmer bleiben, sich in sein Schneckenhaus zurückziehen und abwarten, bis sich der Sturm gelegt hatte, aber wie nicht selten in seinem Leben hatte er sich auf die Vernunft besonnen und durchsuchte das Gelände nach Markus. Er fand aber nur dessen seltsamen Kumpel Eugen, der so tief im Delirium schwebte, dass er keine Antwort auf dessen Fragen geben konnte. Als er ihn doch noch entdeckte, weit Abseits, im Schatten einiger Bäume, war es in einer äußerst verzwickten Situation: Paul hatte sich einige seiner Kumpanen geschnappt und diese traten mit höchster Freude nach Markus, der zusammengekrümmt am Boden lag und nicht einmal die Chance hatte, sich zur Wehr zu setzen. Ohne lange zu überlegen suchte Sebastian etwas in seinem Umfeld, fand einen schweren Ast und hob ihn auf. „HEY!“, brüllte er den Kerlen zu. „Lasst ihn gefälligst in Ruhe!!!“. Er rannte mit erhobenen Ast auf sie zu. In diesem Moment erfüllte zwar kein anderer Gedanke seinen Geist, aber im Nachhinein fragte er sich schon, wie er es geschafft hatte den Mut dazu aufzubringen. Immerhin waren sie zu viert, er hätte gegen sie kaum eine Chance gehabt. Doch allein seine Drohung zeigte erstaunlich viel Wirkung: Einer der Typen stieß seinen Freund an. „Lasst uns abhauen, der dreht noch völlig durch!“, und mit diesen Worten rannten sie auch schon. Als Sebastian sachte auf den am Boden Liegenden zuschritt, hatte ihn bereits wieder ein Großteil seines Mutes verlassen. „Hey, ist alles in Ordnung?“, er war wieder so kleinlaut wie eh und je, und die Frage hätte er sich ohnehin schenken können. Natürlich war nicht alles in Ordnung! Als der blonde Junge seinen Klassenkameraden an der Schulter berührte, schlug dieser seinen Arm weg. „Lass mich!“, zischte er nur wütend. Sebastian ging verschreckt einen Schritt zurück, brachte es aber auch nicht fertig ihn einfach liegen zu lassen. Schwerfällig stemmte sein Gegenüber sich hoch und setzte sich auf die Wiese. Er sah dessen Bemühungen nur nach, wagte es aber nicht, ihm noch mal zu nahe zu kommen. Markus blickte ihn verärgert an. „Was glotzt du so blöde? HAU AB!“, fauchte er ihn an, und ließ seine Stirn erschöpft auf sein angezogenes Knie sinken. „…Das kann ich nicht.“, murmelte der Blondschopf daraufhin leise. „Es… es ist meine Schuld, dass sie das getan haben…“, fügte er resigniert hinzu. Markus hätte wirklich heulen können, und das nicht mal vor Selbstmitleid, sondern einfach vor Wut und Entrüstung. Das es Sebastians Schuld war, stimmte zwar gewissermaßen, aber eigentlich hatte Markus schon seit einer Weile auf eine Abreibung von Paul gewartet, der Kerl war einfach ein arroganter, großkotziger, und noch dazu feiger, Pisser! „Ja, genau, es IST deine Schuld, also zisch endlich ab!“, fluchte er, und schaute seinem verängstigten Mitschüler in die Augen. „Na los!“, ergänzte er unfreundlich. Sein Gegenüber schüttelte nur leicht den Kopf. „Nein.“, hauchte er tapfer. Genervt hievte sich der geprügelte Junge hoch, und humpelte in Richtung Herberge. Er nahm es mit Argwohn zur Kenntnis, dass ihm der Blondschopf folgte. „Jetzt lauf mir nicht auch noch nach! Ich komm schon zurecht, OKAY?“, gab Markus genervt von sich, klang aber inzwischen weniger überzeugend. Sebastian hielt sich zwar auf Abstand, blieb aber an ihm dran. Markus ließ sich letztlich in den Waschräumen nieder und kühlte seine Prellungen. Er hatte eine riesige Beule an seinem Hinterkopf und auch sonst sah er sehr geschlagen aus. Sebastian traute sich irgendwann nahe genug an ihn heran, dass er dessen Wunden etwas genauer betrachten konnte. Sein Blick zeigte ein kaum noch erträgliches Maß an Mitleid. „Ich hol etwas Verbandszeug, lauf nicht weg.“, rief er ihm gedämpft zu und ging. Ich werde nicht weinen… ich werde nicht weinen… dachte Markus und umarmte sich wärmend. Das tut so verdammt weh! Diese verfluchten Wichser! Sein Kopf hämmerte und auch seine Prellungen pulsierten mit einem dumpfen Schmerz. Diese Befriedigung gebe ich ihnen nicht! Als Sebastian zurückkehrte, war er fast überrascht, dass der brünette Knabe immer noch brav an dem Waschbecken lehnte und auf ihn wartete. Seine Laune schien sich zwar nicht gebessert zu haben, aber immerhin war seine Wut schwächer geworden. Zumindest auf ihn. „He, was willst du denn mit dem Messer?“, fragte Markus verstört und schaute auf sein Gegenüber. „Für deinen Kopf, ich meine, deine Beule, es Hilft die Schwellung zu unterdrücken.“, antwortete dieser. „An mir fummelst du damit aber nicht rum!“, stellte er seinen Standpunkt klar. „Jetzt hab dich mal nicht so!“, erwiderte der Blondschopf. Irgendwie schaffte er es dann doch noch, den geprügelten Jungen zu versorgen, obwohl dieser mehr fluchte, als ein Priester beten kann. Und auch, wenn es ihm nicht gefiel: das Sebastian so behutsam, fast liebevoll mit ihm umging, tröstete ihn ein wenig. Eigentlich… ist der kleine Streber ja ganz in Ordnung. „Hör mal… ich weiß, dass du das nicht für mich getan hast… aber ich möchte dir trotzdem danken, dass du mir mein Buch zurückgeholt hast…“, der hagere Junge biss nervös auf seiner Unterlippe herum. „Danke.“, wiederholte er leise. Markus nickte abwesend. „…Ja… Der Penner hat´s verdient.“, murrte er schließlich. „Es tut mir wirklich leid, dass das passiert ist...“ „Ach, es ist… ja auch nicht deine Schuld… na ja, nicht wirklich.“, er lächelte schief und sah ihn freundlich an. Zum ersten Mal ehrlich. *** Kapitel 3: ----------- Aber es würde noch einige Stunden dauern, ehe es regnete. Markus setzte sich mit verschränkten Armen auf den Sims eines Fensters und blickte überallhin, vermied es aber Sebastian anzusehen. „… Ich hab es niemals lange an einem Ort ausgehalten… ich brauchte die Veränderungen, ich…“ Markus schüttelte leicht den Kopf. „Für mich gab es nie Sicherheit. Ich wollte sie auch gar nicht…“, er flüsterte nun fast. „… sie ist sowieso nur eine Illusion. Es gibt nichts, an dem wir wirklich festhalten können. Gar nichts. Alles was du besitzt, jeden, den du liebst, kann dir in Sekunden wieder genommen werden…“ Er löste sich aus seiner Starre und schaute in Sebastians verschleierte Augen. „Ich war ja schon damals nicht wie die anderen, aber jetzt bin ich völlig verkorkst.“, Markus lächelte schief. „Das ist Unsinn.“, erklärte sein Gegenüber leise, musste sich aber eingestehen, dass er selbst nicht so recht daran glaubte. Ihm was schwindlig und nichts von dem, was sein alter Freund sagte ergab für ihn im Augenblick wirklich einen Sinn. „Sag mal… du wohnst doch nicht hier in der Gegend, oder?“, fragte Markus schließlich, um von sich abzulenken. „Nein, ich… wollte mit dem Bus nach Hause fahren…“, antwortete Sebastian schnell. Er biss sich nervös auf die Zunge, denn eigentlich wollte er mit seinem Auto fahren. Es war spät und kaum noch jemand auf der Straße, es wäre schon irgendwie gegangen. „Um die Uhrzeit fahren keine Busse mehr.“, erinnerte ihn sein Freund skeptisch und musterte ihn kühl und abschätzend. Er erhielt jedoch keine Antwort. Dass er ein Taxi in dieser Gegend nur bekommen würde, wenn er Beziehungen hatte, darauf brauchte er ihn gar nicht erst aufmerksam zu machen. „Lass mich aufstehen.“, befahl er schließlich sanft. Sein Freund ging einen Schritt zur Seite, sodass Markus vom Sims absteigen konnte, ohne ihm zu nahe zu kommen. „Du kannst deinen Rausch auf meiner Couch ausschlafen, wenn du willst, und morgen Heim fahren.“, schlug er freundschaftlich vor. „Aber Autofahren wirst du heute bestimmt nicht mehr… Sieh dich an, du kannst ja kaum noch grade stehen!“ Sebastian atmete tief durch und kämpfte gegen sein Schwindelgefühl an. Aber schließlich nickte er nur einsehend. Markus ging noch einmal in die Bar und wollte Alesandro Bescheid geben, doch dieser war bereits nach Hause gefahren. Sicher hatte er sich ein Taxi genommen (denn er hatte besagte Beziehungen…) doch eigentlich interessierte es ihn nicht. Die hübsche Bardame gab ihm einen Zettel von ihm mit, auf dem unter anderem stand: tu nichts Unvernünftiges. Und um noch einen drauf zu setzten: ich liebe dich. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn kopfschüttelnd in den Papierkorb. Dann ging er mit Sebastian einige Blocks weit zu sich nach Hause. Als sie bei ihm waren, plauderten sie eine Weile über alte Zeiten. Markus war es unangenehm, als Sebastian ihm gestand, wie wahnsinnig verliebt er damals in ihn war. Dieser harmlose Satz, so einfach dahingesprochen löste in Maruks eine leichte Übelkeit aus und zog einen Schwall Erinnerungen mit sich. Es war so lange her… und er konnte selbst kaum glauben, dass er nun, nach 12 Jahren, mit ihm in seinem Wohnzimmer saß und eine Tonic trank. Damals, ja es ist unglaublich lange her, aber manche Dinge vergisst man niemals. Oft sind es Dinge, die nicht nur Erinnerungen, sondern auch Gefühle hinterlassen haben und solange man sich nicht von ihnen trennen, oder sie überwinden konnte, wird man sich an jedes Detail erinnern können. *** Vergangenheit (vor 12 Jahren) *** Sebastian saß auf dem Boden, so viel bekam er noch mit. Aber so recht zuordnen, wo er war, konnte er nicht. Nur, dass er definitiv zu viel getrunken hatte, daran erinnerte er sich. Aber warum eigentlich? Er war noch nie betrunken gewesen, auch wenn er gelegentlich heimlich etwas von Mutters Wein getrunken hatte. Aber an den Schnaps in der Minibar hatte er sich nie getraut. Er war deprimiert gewesen, konnte sich aber nun nicht mehr ins Gedächtnis rufen, warum. Was spielte es auch für eine Rolle? Alles drehte sich und schwankte. Der Raum war groß, aber dunkel und die Möbelstücke um ihn wirkten bedrohlich. Er lachte kindlich, fast irr, auf. Immer wieder biss er sich auf die Unterlippe und freute sich darüber wie taub sie sich anfühlte. Er merkte gar nicht, dass sie bereits blutete. „Du meine Güte, Sebastian...“, flüsterte Markus, der ihn gerade noch auffing. Seine Berührungen waren heiß, zumindest kam es Sebastian so vor. Wie Feuer, nur dass es nicht schmerzte. Markus versuchte ihn auf den Beinen zu halten, hatte aber Mühe, da sein Gegenüber ihm nicht so recht dabei helfen wollte. Schließlich zerrte er ihn ins Bad und setzte ihn auf dem Klodeckel ab, da es ziemlich eng war und keine anderen Sitzmöglichkeiten bot. Erst jetzt bei Licht fiel ihm dessen blutige Unterlippe auf. In einem unbedachten Reflex fuhr er mit seinem Daumen darüber. Sebastian sah ihn mit verschleiertem Blick an. Für einen Moment bohrten sich ihre Blicke ineinander fest. Als plötzlich der betrunkene kleine Streber Anstalten machte sich zu übergeben. Markus drehte ihn zum Waschbecken und hielt zur Sicherheit seinen Kopf, weil er nicht wusste, ob dieser nicht an seinem Erbrochenen ersticken würde. „Bist es wohl nicht gewohnt, zu trinken, was?“, murmelte Markus und versuchte seinen Blick nicht unbedingt auf das grünlich gefärbte, undefinierbare Etwas zu legen, das sein Freund da gerade auskotzte. „Ach was... andauernd.“, erwiderte Sebastian herablassend und unter Würgen. Er hustete hart und fühlte sich inzwischen ganz und gar nicht mehr so umwerfend. Markus streichelte beruhigen über seinen Rücken. „Keine Sorge, das geht vorbei. Morgen geht´s dir wieder besser.“ Der Blondschopf hörte kaum auf seine Worte. Obwohl er sich so elend fühlte, hätte er am liebsten die Zeit angehalten. Er genoss die Nähe und Berührungen des Rebellen, sehr viel intensiver, als es ihm lieb war. Die Schmetterlinge in seinem Bauch halfen gegen seine Übelkeit nicht unbedingt. Er versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als Markus seine Hand wieder sinken ließ und den Wasserhahn aufdrehte. Er ließ selten eine solche Nähe zu, oftmals war er nur abweisend, manchmal sogar richtig verletzend. Ja, das war auch der Grund, warum er sich betrunken hatte. Er wusste, dass Markus gar nicht bewusst war, wie sehr ihn seine harten Worte oder seine Ablehnung treffen konnten. Aber das machte es für ihn nicht leichter. Was genau vorgefallen war, daran erinnerte er sich nicht mehr, zumindest nicht in diesem Moment. ... Als Sebastian am nächsten Morgen erwachte hatte er Mühe sich zurechtzufinden. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm klar, dass er in einem fremden Bett lag. In Markus´ Bett. Sein Puls beschleunigte sich Augenblicklich, als ihm das klar wurde. Trotzdem war ihm immer noch schlecht. Er entdeckte einen Eimer neben dem Bett, in den er sich offensichtlich noch einige Male erbrochen hatte. Angewidert drehte er sich weg. Er wunderte sich, wo sein Freund steckte und warum er ihn in sein Bett gelassen hatte, auch wenn er hier vermutlich allein gelegen hatte... Als Markus das Zimmer betrat, brachte er tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande. Dabei war der brünette Knabe am Morgen normalerweise unausstehlich. Zudem roch es in dem Zimmer fürchterlich nach Erbrochenem. Markus rümpfte die Nase und ging zu einem Fenster, das nur etwa einen Meter vom Bett entfernt war, und öffnete es. „Wie geht´s dir?“, fragte er wie nebenbei. „Wie soll´s mir schon gehen?“, hauchte Sebastian müde. „Tut mir leid, dass ich dir zur Last falle.“, fügte er kleinlaut hinzu. Ehe Markus darauf etwas erwidern konnte, stellte er jedoch die nächste Frage: „Sag mal, warum liege ich in deinem Bett?“ „Na hör mal, meine Eltern sind heute Morgen, gegen Sechs, nach Hause gekommen, glaubst du ich wollte, dass sie einen fremden, alkoholisierten Jungen auf ihrer Couch finden?“ Er sah ihn scharf vom Fenster aus an. „Und außerdem: du fällst mir nicht zur Last. Ich bin ja selber Schuld, dass es dir so schlecht geht.“ Sebastian glaubte sich verhört zu haben, sein Mund wurde plötzlich trocken und er schluckte hart. „Wieso... wieso das?“, bekam er gerade noch raus. „Na ja, ich hab nicht auf dich aufgepasst, dabei hätte ich wissen müssen, wenn du schon mal die Gelegenheit hast was Verbotenes zu tun, wirst du es garantiert übertreiben...“, er lächelte. Seine Ausführungen waren so unbedacht, er hatte absolut keine Ahnung von Sebastians Gefühlen, und würde vermutlich niemals auf die Idee kommen, dass ein Kerl überhaupt so etwas denken könnte. Sebastian ließ sich resigniert auf sein Kissen sinken. Die Bettwäsche roch nach ihm, stellte er erfreut fest. Erst nach einer Sekunde fiel ihm plötzlich ein, dass Markus woanders geschlafen haben musste. „Wo hast du eigentlich die Nacht verbracht?“, fragte er schließlich leise. Auf einmal kam ihm sein Freund sehr müde vor, er hatte tiefe Augenringe und Rot unterlaufene Augen. Dieser wischte sich mit den Handballen darüber. „Ich hab eigentlich gar nicht geschlafen.“, erwiderte er erschöpft. „Aber wenn irgendjemand fragt: ich hab mit Sandy rum gemacht, ja?“, er grinste und kam direkt auf das Bett zu. Sebastian erschrak so heftig darüber, dass er für einen Moment wie erstarrt war. Aber sein Freund schnappte sich nur den Eimer, um ihn auszuleeren. „Hast mich ganz schön auf Trapp gehalten, Kleiner.“, er lächelte sachte. Der Blondschopf war nicht einmal in der Lage sich über das „Kleiner“ zu ärgern. Geschweige denn, es zu kommentieren. Als er dann doch mal gegangen war, fühlte sich Markus gleich doppelt so erschöpft, wie zuvor. Er brauchte dringend Schlaf. Obwohl er sehr leise war, als er Sebastian mehr oder weniger rausgeschmissen hatte, stand seine Mutter im Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Flur gelehnt. Eine unangenehme Hitze durchlief ihn plötzlich. „Du meine Güte, Mutter! Hast du mich erschreckt!“, fluchte er gedämpft. Sie lächelte unter ihrem vom Kissen gezeichneten Gesicht hervor. Sie hatte sicherlich nur zwei, drei Stunden geschlafen. Ihr Haar war noch nie so durcheinander gewesen. „Ich wollte nur sichergehen, dass du dich an unsere Abmachung gehalten hast...“, erwiderte sie, bei weitem nicht so erzürnt, wie Markus befürchtet hatte. „Ich...ähm...“, stotterte er. Verdammt, was sollte er schon sagen? „Schon gut, dein Vater hat wie immer nichts gemerkt. Aber eine Mutter kennt die Schuhe ihres Sohnes! Und diese gehörten ganz eindeutig nicht dir. Ich bin aber trotzdem froh, dass es kein Mädchen war... du bist 14, du solltest noch keinen...“ „Stopp! Jetzt halt mal die Luft an, ich weiß, was du sagen willst! Ich hab Sebastian hier nur schlafen lassen, weil ich ihn in seinem Zustand nicht nach Hause schicken wollte. Mutter, es tut mir leid, dass das so ausgeartet ist, ich wollte nur ein paar Freunde einladen und ein bisschen feiern... ich hab alles so gut wieder aufgeräumt, dass hättest du doch gar nicht merken dürfen!“ „Junger Mann, ich verbitte mir, das du in einem solchen Ton mit mir sprichst!“, ihre Stimme hob sich nur leicht, weil sie – um alles in der Welt – ihren Mann nicht wecken wollte. „Markus... warum machst du es mir so schwer? Du hörst einfach nicht auf das, was ich – oder sonst wer – dir sagt! Was soll ich denn bloß mit dir machen?“ „Jetzt fang bitte nicht wieder damit an!“, er rollte genervt die Augen und wandte sich zur Küche. Seine Mutter kam ihm natürlich nach. „Was?“, zischte er und drehte sich zu ihr, nachdem sie eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte. „Jetzt sei nicht so gereizt, ich möchte nur, dass du mir einige Fragen beantwortest: woher hattest du den Alkohol her, der hier ja offenbar reichlich geflossen ist...“ „Von ein paar Freunden.“, erwiderte er gezwungen geduldig. „Toll. Was hast du denn für Freunde, die einem 14 Jährigen Schnaps besorgen? Waren die etwa auch hier?“ Markus musste ein Grinsen unterdrücken. Natürlich nicht. Glaubt sie wirklich das über 18 Jährige auf eine solche „Kinderparty“ gehen würden? Die hätten ihm bestenfalls für eine solche Einladung verprügelt! Aber jeder ist käuflich, dachte er vergnügt. „Nein. Es waren nur Eugen, Jens und eben Sebastian hier.“, log er gekonnt. Bedacht vermied er es Spitznamen zu verwenden, er brachte ein solches Verhör immer sehr geschickt zu einem schnellen Ende. „Keine Mädchen?“, hakte seine Mutter nach. „Nein, Mutter, die Mädchen, die uns gefallen, finden uns eh alle blöd.“, es war herrlich, dass sie diese Geschichte immer noch glaubte. Natürlich hatten sie auch einige weibliche Wesen eingeladen! (Was wäre denn das für eine Looser-Party geworden!) Es war erstaunlich, dass einige wirklich hübsche Mädels auf seinen Charme ansprachen (er hatte also noch nicht alles verlernt!). An diesem Abend gefiel ihm aber nur eine wirklich gut, und das war Sandy. Sie schien zwar nicht die Schlauste zu sein, aber sie sah geil aus! Sie war 15, hatte Strohblond gefärbte Haare und trug einen Minirock, den er fast für einen breiten Gürtel hätte halten können. Leider hatte sie aber ein Auge auf Sebastian geworfen. Noch ziemlich am Anfang des Abends hatte sie ihn angesprochen, nur um ihm zu sagen, dass sie seinen blonden Kumpel „süß findet“ und ob er eine Freundin hätte, weil er nicht so gierig auf die Mädchen losging, wie die anderen Jungs. Markus war ziemlich genervt darüber und sagte ihr nur, sie sollte die Finger von ihm lassen. Er war wohl etwas unfreundlich, denn sie sprach am Abend kein Wort mehr mit ihm. Er wiederum ließ Sebastian links liegen, dabei konnte der ja nun wirklich nichts dafür. „Dieser Sebastian. Scheint, als würdest du ihn wirklich mögen.“, warf sie plötzlich ein. Markus sah ihr verärgert entgegen. „Wie kommst du denn jetzt bitte darauf?“ „Du hast noch nie einen Freund bei dir schlafen lassen, nicht mal Jens oder Eugen - die übrigens die einzigen sind, die ich wenigstens schon mal zu Gesicht bekommen habe...“ „Du weißt warum.“, unterbrach er sie. Sie sah schuldbewusst zu Boden. „Ich gehe wieder schlafen. Lüfte gut durch, damit dein Vater nichts riecht, ja? Wir unterhalten uns morgen noch mal. Gute Nacht.“ Sie drehte sich weg und ging Richtig Schlafzimmer. „Ja.“, sagte er plötzlich. Sie wandte sich mit fragendem Blick noch einmal ihrem Sohn zu. „Ja, ich mag ihn irgendwie, er ist in Ordnung.“, ergänzte er seinen Ausspruch. Sie nickte und lächelte. „Vielleicht stellst du ihn ja mal vor.“ „Hey, er ist nicht meine Freundin!“, erwiderte er darauf. „Als ob du deine Freundin vorstellen würdest!“, konterte sie. „Was meinst du damit?“ „Gar nichts.“, entgegnete sie gespielt. „Aber du verhältst dich anders, als sonst. ich könnte schwören, du bist verliebt. Ich wüsste gerne, wie sie so ist, die dir den Kopf verdreht hat...“ „Ja... das wüsste ich auch gerne, weil da niemand ist!“, formulierte er scharf. „Wenn du es sagst. Schlaf schön, Schatz.“ Er antwortete nicht mehr, verdrehte wieder nur die Augen und ging in sein Zimmer. Kapitel 4: ----------- 4. Kapitel [Vergangenheit] Nach zwei Wochen hatte er sich tatsächlich durchgerungen, seinen blonden Freund und auch Eugen mal nach Hause einzuladen (natürlich nur, weil sein Vater nicht da war, offiziell war er auf Geschäftsreise – vermutlich aber nur in einem anderen Bett.) Sebastian versuchte vergebens ihm und Eugen die einfachsten Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung beizubringen. Was hatte er noch dazu gesagt? Stochhastik … er drückte sich gelegentlich sehr seltsam aus. Sowieso war er der Meinung, dass diese Aufgaben für die 9. Klasse viel zu schwer waren. Und mit dieser Ansicht stand er nicht allein. Sie waren jedenfalls zu Dritt in Markus´ Zimmer und taten alles, nur keine Mathematik. Eugen spielte mit Markus´ Gitarre (die dieser das letzte Mal mit 12 angerührt hatte), allerdings bekam er inzwischen schon ein paar ganz brauchbare Akkorde zustande. Sebastian starrte auf sein Heft, ohne die Aufgaben noch einmal zu fokussieren, und Markus spielte gelangweilt mit jedem erdenklichen Utensil, das ihm zwischen die Finger geriet. Er beobachtete amüsiert wie Sebastian nach der Flasche Kirschsaft angelte, (er trank das Zeug mit einer solchen Freude, als wäre es Alkohol – oder als würde er Daheim nur Wasser bekommen – was vermutlich auch noch stimmte.) Seine Verrenkungen waren herrlich anzusehen, er schaffte es dann aber doch sie zu greifen, ohne vom Stuhl zu fallen. Allerdings, gerade, als er sie aufgeschraubt und zum Trinken angesetzt hatte, sprang Eugen von Bett auf und rief lauthals: „Das ist es!“ Sebastian erschrak sich so sehr, dass er elegant den Saft über sich verschüttete, womit er ungewollt zur Erheiterung beitrug. Beiden, Markus und Eugen, liefen Tränen aus den Augen, so sehr mussten sie lachen. Dieser verhielt sich allerdings sehr seltsam. Dass er es nicht witzig finden würde, sondern sich eher ärgerte, war verständlich, aber er wurde regelrecht bleich vor Schreck. „Oh Gott, entschuldige, ich wollte nicht… Das tut mir leid, ich hab nicht aufgepasst, ich… hab bestimmt den Teppich ruiniert…!“ Markus wurde nur langsam wieder ruhiger, weil er Sebastians Ernsthaftigkeit nicht nachvollziehen konnte (und es für einen dieser seltsamen Scherze hielt, die ihn ausmachten). Aber der kleine Streber kam regelrecht ins Stocken vor lauter Entschuldigungen, dass er sich genötigt fühlte ihn wieder zu beruhigen. „Keine Sorge, Mann, du hast den Teppich doch gar nicht getroffen, sondern nur dein Hemd… na ja und deine Hose.“, er grinste wieder. „Leute, dass sieht aus wie aus so einem Gruselfilm. Wirkt wie ein riesiger Blutfleck auf dem weißen Hemd, voll krass!“, meldete sich Eugen zu Wort. Dem konnte Markus nicht unbedingt beipflichten, es war viel zu violett für Blut, aber KRASS waren eigentlich schon alleine seine Sachen gewesen. Ein weißes Hemd – das ihn garantiert zwei Nummern zu groß war – und eine widerliche, braune Stoffhose, ohne jegliche Form. Markus verstand Sebastians Kleiderstil noch nie so wirklich. Langsam tat ihm der Blondschopf jedoch Leid. „Meine Mutter kennt, glaube ich, einen Trick gegen solche Flecken.“, rief er Sebastian gutmütig zu. Sie ist ja nur Hausfrau und Mutter, da sollte sie das verdammt noch mal auch! Aber eigentlich nicht mal das, Mario ist hier schon mit 17 abgehauen…, fügte er in Gedanken hinzu, sagte aber schließlich laut: „Ich kann dir solange was von mir geben.“ Der Blondschopf zögerte anfangs seine Sachen vor Eugen und Markus auszuziehen. Sie amüsierten sich über diese Eigenheit, drehten sich dann aber, immer noch lachend, um. Sebastian hatte Markus´ Kleidung so schnell angezogen, dass keiner der beiden Jungs einen Blick auf seinen von blauen Flecken und Kratzern übersäten Oberkörper, oder seine zerschlagenen Beine hätten werfen können. Sein Herz schlug schnell und unheimlich laut, vor Aufregung. Nervös suchte er seine Brille auf dem Tisch, als sich Markus, gefolgt von seinem Freund, wieder umdrehte. Sebastian fummelte an den Bügeln seiner Brille – hinter seinem Rücken – herum, setzte sie aber nicht auf, weil er sonst nichts mehr in den Händen gehalten hätte, und weil er seine Handgelenke vor den Blicken der Jungs schützen wollte. Markus´ T-Shirt war schwarz und sehr eng anliegend, zudem hatte er eine Jeans von ihm bekommen, die keinen Bund hatte! Er fühlte sich immer noch nackt und selbst die Tatsache, dass es Markus´ Sachen waren, trösteten ihn nicht darüber hinweg. „Mensch, Kleiner, …“, brach Eugen die Stille. „Du siehst in seinen Sachen ja echt heiß aus!“ Markus erwiderte nichts. Und der kleine Streber setzte ein unglückliches Lächeln auf. „Solltest echt öfter so was tragen!“, in Eugens Stimme klang Ehrlichkeit mit. Auch wenn der brünette Knabe kein Wort darüber verlor, hieß das nicht, dass er dazu nichts zu sagen gehabt hätte. Heiß war gar kein Ausdruck! Er sah einfach nur geil aus! Eine plötzliche Hitze durchlief ihn, und er musste sich zwingen die Augen abzuwenden. Ab diesem Zeitpunkt hatte er nichts eiliger, als beide, Eugen und Sebastian, los zu werden. Nach einer halben Stunde gingen sie dann auch. Den ganzen Abend dachte er an ihn. An seine blauen Augen, die immer etwas Nachdenkliches und Verschlossenes an sich hatten. An seinen flachen Bauch oder an seine durchtrainierten Radfahrer-Beine. Irgendwann kam er zu dem Schluss, dass er nun völlig durchgedreht war. Und es fühlte sich nicht einmal schlecht an. Nur einen Tag später ging er mit ihm und Jens einkaufen (letzterer hatte es auch dringen nötig!), er vermied es mit Sebastian allein zu sein, und ärgerte sich darüber, dass er das nötig hatte. (Aber Zeitweilen funktionierte es …). *** Es war vielleicht vier, fünf Wochen später, als es passierte. Viele Schüler waren frisch gestärkt durch ein verlängertes Wochenende, sogar Markus war guter Dinge, er hatte es geschafft vier Tage lang Sebastian nicht zu sehen, anzurufen oder sonst irgendeinen Kontakt mit ihm zu suchen. Er fing sogar langsam an ihn nicht mehr so sehr zu vermissen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er eingesehen hatte, dass er sich doch irgendwie in diesen blonden kleinen Streber verliebt hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass er das so einfach hinnehmen wollte! Nicht, dass er sich Sorgen um seinen Ruf gemacht hätte – welcher Ruf? – aber das war sogar für ihn ein bisschen zu gruselig. Seine Mutter – mit der er (G**t behüte!) beinahe darüber gesprochen hätte, weil ihm sonst keiner einfiel – hätte ihm gesagt, dass ein 14 jähriger nur verwirrt und neugierig sei, dass er nicht wisse, was er wolle, …. So etwas eben. Und damit hatte sie sicherlich sogar mal Recht! Zudem hätte ein solches Bekenntnis garantiert zum Abbruch ihrer Freundschaft geführt. Er versuchte immer wieder den Gedanken zu verdrängen, der ihm schließlich die Erkenntnis gebracht hatte, dass er schlichtweg verliebt war, und sich deshalb irgendwie reflexartig auf Abstand begab. Er hatte Angst, die Grenze zwischen freundschaftlicher Nähe und was-auch-immer nicht mehr zu finden, wenn Sebastian ihm zu Nahe kam. Jetzt, da die Schule wieder losging, glaubte Markus, dem irgendwie gewachsen zu sein. Sebastian schien es sogar gut mit ihm zu meinen, denn er hatte wieder seine üblichen, langweiligen Streberklamotten an, nicht dass, was er für ihn ausgesucht hatte (und es für ihn noch schwieriger machte ihn nicht gierig anzusehen). Er war so sehr damit beschäftigt Sebastian auszublenden, dass er nicht mitbekam wie bleich und krank er aussah. Als der Blondschopf ihn in der Pause ansprach, versuchte er beschäftigt zu wirken und befasste sich nicht wirklich mit ihm. Er trank seine Limonade und fummelte an einigen Konzepten für ein Musikstück, dass er nie zu spielen gedachte, aber es genügte als Ausrede. Markus konnte nicht wissen, wie viel Mut sein Freund aufbringen musste, mit ihm zu sprechen. „Hast du heut Nachmittag ein bisschen Zeit?“, fragte er nervös. Markus vermied es ihn anzublicken. „Tja, weißt du, ich… ich hab wieder zu spielen angefangen, und ich hab heute Probe… Wie wäre es denn ein anderes Mal? Entschuldige, es geht echt nicht…“, redete er sich heraus. Sebastian nickte traurig. „Ich brauch wirklich Hilfe.“, flüsterte er tapfer. Markus sah ihn nun doch an. „Oh, tja, also worum geht es denn?“, druckste er herum. Sebastian holte tief Luft und versuchte sich zu sammeln, aber er konnte es nicht, da Markus wieder in seinen Zetteln kramte und ihm kaum Beachtung schenkte. „Ach schon gut. Dann ein anderes Mal.“, er formulierte diese Worte irgendwie tonlos und wandte sich schließlich ab. Markus sah ihn nicht mehr an, als er ging. Sebastian ging in der Pause nach Hause. Er sagte, er fühle sich nicht gut – was überdies ja auch stimmte. Seiner Lehrerin entging seine Blässe nicht, sie hätte ihn aber lieber gleich zu einem Arzt schicken wollen. Nur mit viel Zureden schaffte er es dann doch sich loszueisen. Er wusste dass seine Mutter – mal wieder – nicht zu Hause sein würde und Lutz oder Bernd oder wie er hieß, seit dem letzten Streit irgendwie verschwunden war. Gut so. Mit einer beinahe erschreckenden Seelenruhe trat Sebastian in die noch immer verwüstete Wohnung. Er schloss die Tür hinter sich und legte die Sicherungskette davor. Wie auf Automatik gestellt, schob er den kleinen Schuhschrank vor die Tür und ging ins Bad. Er zögerte nicht, als er die Schranktüren der Spiegeltoilette öffnete und gezielt Acht, Neun, Zehn Tablettenschachteln und Tropfen herausnahm. In Wohnzimmer angekommen stellte er sie alle penibel in einer Reihe auf (Ordnung war etwas, dass er beim Psychologen als irgend so eine Grundregel betrachten sollte.) Sein Blick war leer und hilflos, als er in der Küche ein großes Glas Wasser füllte und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Er mischte die Tropfen, mit einer Engelsgeduld, darin. Dann nahm er sich die Tabletten vor. Einige lösten sich in dem Glas auf, aber nicht alle. Seine Mixtur hatte inzwischen eine leichte Orange-Braune Färbung und ein weißer, klumpiger Absatz hatte sich auf den Boden gesetzt. Er holte sich einen Löffel aus der Küche und rührte langsam um. Der Gedanke an einen Abschiedsbrief blitzte kurz vor seinem inneren Auge auf. Aber für wen hätte er den schon schreiben sollen? Er beschloss nicht länger darüber nachzudenken. Wieder war er sehr geduldig, als er die Tabletten, die sich nicht aufgelöst hatten, mit dem Löffel herausfischte und ohne Flüssigkeit einnahm. Nur hin und wieder nahm er einen kleinen Schluck von seiner Mixtur, die noch relativ flüssig war. Ohne es zu wollen verzog sich sein Gesicht mit Abscheu, mit jedem Schluck. Er würgte einige Male, schluckte es aber jedes Mal hart hinunter. Es war nicht nur bitter, es war widerlich. Eine ganze Zeit wartete er, ohne den Rest seiner Mixtur hinunterzuwürgen. Sein Blick blieb starr auf der Tischplatte hängen. Sebastian versuchte jedes Bild, jede Erinnerung zu verdrängen, aber sie suchten ihn nur umso stärker heim. Wie plastisch erschien ihm das Gesicht seiner Mutter, wie sie unter Tränen versuchte zu lächeln. Er hatte immer geglaubt, er hasste sie, für alles, was sie getan hatte. Aber… als Bernd sie verprügelte stellte er sich dazwischen, griff den zwei Köpfe größeren Mann an, ohne auch nur zu zögern. Er bereute es nicht, auch wenn sie ihm nachher nur mit Vorhaltungen begegnete, als sie seine blauen Flecken versorgte. Mit erschreckender Gewissenhaftigkeit hatte Bernd ihn nur an Stellen verletzt, die sich abdecken ließen. Vorzugsweise Beine und Oberkörper, aber nie im Gesicht. Das war nicht das schlimmste. Sie sagte, sie könne ihn nicht rauswerfen, dass sie jemanden brauchte, dass sie es alleine nicht schaffte. Aber er schaffte es doch auch. Weil er es musste. Nein, dass ist nicht wahr, immerhin sitz´ ich hier, dachte er. Bereit jeden Schmerz zu ertragen, bereit zu sterben... Wie lächerlich ist das? Ohne Zutun blitzte Markus´ Gesicht auf. Aber es war flach, nicht so lebendig, wie die vorangegangenen. Nein, er brauchte auch ihn nicht. Das erste Mal erbrach er sich auf dem Tisch. Seine Kehle brannte wie ein Inferno, selbst seine Lunge schmerzte und er bekam kaum Luft. Seine Augen füllten sich mit Tränen der Entrüstung. Er wischte sie beiseite und nahm einen weiteren tiefen Schluck seiner Mixtur. Er hustete und erbrach sich wieder. Diesmal mischte sich Blut unter das Erbrochene. Mit viel Anstrengung hievte sich Sebastian auf. Bunte Sterne explodierten hinter seinen Augen, die wie das weiße Rauschen eines Fernsehers zuckten. Seine Beine sackten unter ihm zusammen und er konnte sich gerade noch an einem Stuhl festhalten. Er stieß sich erneut nach oben und schwankte zu seinem Glas zurück. Er würgte wieder, trank aber dennoch daraus. Einige Flüssigkeit rann an seinen Wangen hinab, aber er kippte das Glas trotzdem über seinem Mund aus und nahm so viel auf, wie er konnte. Der zähe, weiße Absatz klebte an seinen Lippen und seinen Zähnen und schmeckte wie bitterer Staub. Als er es schaffte auf die Beine zu kommen, um wer-weiß-wohin zu stolpern, verdichteten sich die bunten Punkte. Er schwankte und fühlte sich schwach und haltlos. Blutiger Speichel lief aus seinem Mund und färbte den weißen Schaum der Tabletten rot. Er bemerkte nicht mehr, wie er zu Boden fiel und sich den Kopf am Tisch rammte. Ein Rauschen war ringsum. In weiter Ferne, aber dennoch dröhnend. Wie ein Schwarm Fliegen, nur nicht ganz so hoch. Er starrte in ein grelles Licht, wie durch einen Tunnel. Erst nach endlosen Sekunden wurde ihm klar, dass es das Deckenlicht des Wohnzimmers war. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Aber er wollte sich auch nicht bewegen. Er konnte sein rechtes Auge kaum öffnen, es war verklebt, aber er konnte sich nicht erinnern durch was. Er würgte wieder und drehte sich mühselig zur Seite. Noch einmal erbrach er sich. Keine Gedanken… Er versuchte jedes Bild zu verdrängen und es mit einem schwarzen Nichts zu ersetzen. „H…Hilfe…“, raunte er schwach und unter Tränen. „Oh…Gott, Hilfe…“, er wusste nicht, ob er das wirklich gesagt hatte. Aber was änderte es schon? Er riss sich panisch sein Hemd auf. Das Atmen fiel ihm schwer. „Ich will dass es aufhört …! Bitte…“ Nun war er sich sicher, dass sich seine Lippen nicht bewegt hatten. Seine Glieder waren so schwer, als wären sie festgebunden. Sein Kopf hämmerte mit einem dumpfen, steten Schmerz. Er nahm seine Umgebung nur noch verschwommen und verzerrt wahr. „Ich will nicht sterben…“, er wollte es nicht, aber dieser Gedanke bemächtigte sich seiner. Wie lächerlich. Es änderte gar nichts. Nur minder wurde ihm bewusst, dass er mit seinem Gesicht in seinem eigenen Erbrochenem lag, aber er hatte keine Kraft sich zu rühren. Resigniert schloss er das linke Auge, das einzige, das noch offen war, und ließ sich von dem Schwindelgefühl mitreißen. Leere. Schatten huschten über sein Gesicht. Stimmengewirr stieß an seine Halbtauben Ohren. Alles Schwankte. Der erste und eine zeitlang einzige Gedanke der sich in ihm manifestierte war der: Ich lebe. Weiße und gelbe Lichter strahlten in sein Bewusstsein. Er fühlte, wie er geschüttelt wurde. Kälte kroch in seine Glieder. Überall waren verzerrte Geräusche, ihm war so kalt, dass er zitterte. Sein Körper schien unter Strom zu stehen, alles kribbelte unangenehm. Doch plötzlich wurde sein Kopf ganz leicht und wieder schwanden ihm die Sinne. Als er erneut erwachte, spürte er einen Klumpen in seinem Magen. Ein lähmendes Gefühl der Schwäche legte sich auf ihm nieder. Seine Schläfen pulsierten unter lauten Schlägen. Es war schwer für Sebastian die Augen zu öffnen. Vor allem sein rechtes Auge brannte. Verwirrt schaute er sich um. Er lag auf einem weichen Untergrund, vermutlich einem Bett, vermutlich in einem Krankenhaus. Grelles Licht strahlte von links durch die Fenster. Verschwommen konnte er die Umrisse eines Menschen erkennen, die sich davor abzeichneten. Die Person trat näher an ihn heran und nun konnte er sehen, dass es seine Mutter war. Ihre Augen waren rot und verheult. Beinahe liebevoll, aber doch irgendwie ungeschickt, streichelte sie über seine Stirn. Eine andere Person betrat den Raum. Er konnte hören, dass sie etwas sagte, aber er verstand den Sinn nicht. Langsam wandte er den Kopf zur Seite. Eine Ärztin stellte sich vor sein Bett und leuchtete mit einer kleinen Lampe in seine Augen. Das Licht schmerzte in seiner Helligkeit und Sebastian wurde plötzlich klar, dass jedes Licht im Moment wehtat. Schwach versuchte er sich ihr zu entziehen. „Frau Zimmer könnte ich sie jetzt bitte in meinem Büro sprechen? Sie müssen noch einige Formulare ausfüllen… und außerdem…“, sie sah zu Sebastian, der ihren Blick als seltsam besorgt deutete. „… ist da noch etwas anderes.“, fügte sie gedämpft hinzu. „Es geht ihm soweit ganz gut, er ist ja jetzt wach.“, nun nahm ihre Stimme wieder einen professionelleren Ausdruck an. Seine Mutter nickte, löste sich aber nur schwer von Sebastians Seite. „Ich komme gleich wieder, mein Liebling….“, hauchte sie ihm zu. Dann verließ sie den Raum und ließ ihn allein mit seinen Gedanken zurück. Auf dem Flur, nicht weit vom Büro der Doktorin, an dessen Namen sich Ingrid nicht erinnerte, sah sie den brünetten Knaben, mit dem sie geschlagene 26 Stunden verbracht hatte. Er war die ganze Zeit bei Sebastian gewesen, hatte sich nicht einmal von den Pflegern rauswerfen lassen, als die Besuchszeit bereits beendet war. Aber selbst, wenn besagte Doktorin keine „Ausnahme“ gemacht hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Wenn er stirbt, will ich nicht zu Hause gewesen sein! Schlafen kann ich da doch sowieso nicht!, hatte er sich energisch verteidigt. Schließlich hatten sie seine und auch Ingrids Anwesenheit stillschweigend akzeptiert. Sie waren total unterbesetzt und hatten wohl keine Ausdauer mehr, um sich um solch ein – doch eher belangloseres – Problem zu kümmern. Ingrid wunderte sich sehr über ihn. Sie hatte viel geweint, denn anfangs sah es wirklich nicht gut aus, aber er saß nur da und starrte Löcher in die Luft. Zwar fiel ihr auf, dass auch er häufig mit den Tränen rang, aber er kämpfte sie immer wieder erbittert nieder, so als würde sein Leben davon abhängen. Sehr merkwürdig. Und immer wieder fragte sie sich, was sie nur falsch gemacht hatte. Es drang ihr nur minder ins Bewusstsein, dass sie den Menschen, der ihm vermutlich am meisten bedeutet haben musste, nicht einmal kannte, keinen Nachnamen oder sonst irgendetwas. Ich weiß ja nicht einmal mehr wer mein Sohn eigentlich ist, hatte sie gedacht, aber dieses, wie so vieles andere, immer wieder beiseite geschoben. Nun ging sie langsam zu dem Jungen, der sie irgendwie ignorierte, nachdem sie ihn angerufen, und einige Details erklärt hatte. Die Nummer hatte sie in Sebastians Portemonnaie gefunden, als sie seine Krankenkarte heraussuchte. Sie stand separat auf einem Zettel, zwischen dem Bibliotheksausweis und eben dieser Karte, nur mit dem vermerk: Markus. Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie ihn anrief, sie wollte wohl einfach nicht allein sein. Bernd hatte Sebastian zwar gefunden und er hatte sogar einen Krankenwagen gerufen, aber er war bereits verschwunden, als sie eintrafen. Er hatte die Tür eingetreten, weil er wohl glaubte, sie sei drinnen und wollte nur nicht mit ihm sprechen. Als Ingrid jedoch nach Hause kam, rollten sie ihren Sohn auf einer Trage in einen Krankenwagen. Noch Stundenlang war sie kreidebleich und kaum ansprechbar! Markus bemerkte sie erst sehr spät. Er sah elend und übermüdet aus, er hatte sich einen Kaffe am Automaten geholt und starrte, den Plastikbecher umklammert, aus einem Fenster. Sie wagte es zögernd, ihm eine Hand auf sine Schulter zu legen. „Er ist jetzt wach…“, hatte sie kaum hörbar geflüstert. „Ich muss… aber noch was ausfüllen…“, ergänzte sie noch, er ging jedoch sofort in Richtung Krankenzimmer, ohne ihr weiterhin zuzuhören. Obwohl Markus sofort losgestürmt war, blieb er vor dem Zimmer stehen. Er zögerte fast eine geschlagene Minute, ehe er die Tür öffnete und langsam zu seinem blonden Freund ans Bett trat. Er scheint immer noch zu schlafen, stellte er enttäuscht fest. Sein Gesicht sah schrecklich aus, trotz der geschlossenen Augen, konnte er die Nachtschwarzen Augenringe erkennen. Er hatte eine Platzwunde am Kopf, die mit wenigen Stichen genäht wurde, aber das war nicht das grausigste an seiner Erscheinung. Alles in allem wirkte er… ausgemergelt. Sicherlich hatten sie seinen Magen ausgepumpt, aber das schien nicht der einzige Grund zu sein. Irgendwie wirkte er auf Markus wie tot, oder zumindest fast tot. Nun, dass war er ja auch. Eine Welle brach über ihn herein, angefüllt mit den unterschiedlichsten Gefühlen; Trauer, Liebe, Dankbarkeit, Hass, Hilflosigkeit, und… sengender Wut. Er ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett sinken und legte den Kopf an die Bettseite, ohne ihn dabei zu berühren und damit zu wecken. Er brauchte diesmal unglaublich viel Willenskraft um nicht zu weinen. Er war so müde. Fast wäre er eingeschlafen, als Sebastian sich plötzlich rührte und Markus schwach ansah. Dieser starrte zurück, eine seltsame Härte mischte sich in seinen Blick. Sie sahen sich eine ganze Weile an, bis Markus fähig war, etwas zu sagen. „Ich… Ich hasse dich!“, Markus spukte ihm die Worte förmlich entgegen. Schon im selben Augenblick wurde ihm klar, dass es das denkbar schlechteste war, was er sagen konnte. Beschissener Egoist!, schoss es Markus durch den Kopf. Er fixierte seinen Freund wütend, dann drehte er sich um und ging schnellen Schrittes zur Tür. „Ich… kann dir… nicht nachlaufen…“, raunte Sebastian schwach. „ …also geh bitte nicht weg…“ Markus blieb abrupt an der Tür stehen, hielt sich jedoch unterstützend am Rahmen fest. Verzweifelt versuchte er sich zu beruhigen, schaute an die Decke, blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken. Sie liefen trotzdem. „Mark… bitte.“, hauchte Sebastian. Markus wischte sich über seine Augen und drehte sich langsam um. Nur um haltlos mit dem Rücken an der Tür gelehnt zu Boden zu sinken. Er presste beide Hände über den Mund, um nicht zu schluchzen. „Wieso machst du das nur?“, hauchte er aufgelöst. Sebastian sah ihn nur an, aber erwiderte nichts. Schließlich erhob sich Markus und stürmte hastig raus. _______________ Anm.: Sorry für die Verspätung... es geht aber wirklich sehr bald weiter. ^^ Kapitel 5: ----------- „Wo ist denn dein brünetter Freund?“, fragte Ingrid ohne sich ernsthafte Gedanken darum zu machen. „Er ist weg.“, erklärte ihr Sohn knapp. Erst jetzt wurde sie hellhörig, und sah verwundert zur Tür, so als würde sie alle Antworten kennen. Schließlich blickte sie zu Sebastian zurück. „Weg? Aber… er hat hier über 24 Stunden gewartet, ohne zu schlafen oder zu essen, nur bis du aufwachst… und jetzt ist er einfach gegangen?“ Sebastian zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß nicht…“, ergänzte er kleinlaut. Ingrid weinte wieder, sie schaffte es nicht, sie so einfach zu unterdrücken, wie Markus das wohl konnte. Es war nicht die Tatsache, die sie gerade besprochen hatten, weswegen sie weinte, sie war einfach völlig fertig aber dennoch dankbar, das ihr Sohn noch lebte. Nichts bedeutete ihr mehr als er, auch wenn sie ihm das nie gesagt hätte. „Die Ärztin…“, schluchzte sie und schluckte erst einmal. „Die Ärztin hat Fragen über einige ältere Blutergüsse und Narben gestellt…“ Sebastian nickte sachte. „Was hast du gesagt?“, fragte er. „Was schon?“, erwiderte sie resigniert. „Ich weiß es doch nicht. Zumindest… nicht wirklich. Einiges davon wird wohl Bernd gewesen sein…“, fügte sie hinzu. „Aber sie sagte vieles ist älter, bevor ich ihn kannte.“ Sebastian nickte wieder, schwach, aber doch vernehmbar. „Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte sie, während erneute Tränen über ich Gesicht liefen. Markus lief durch die Gassen. Er war müde und hungrig, fühlte sich aber andererseits nicht in der Lage schlafen zu gehen, geschweige denn etwas zu essen. Erst jetzt drang ihm langsam ins Bewusstsein, dass er seit gestern Nachmittag nicht mehr zu Hause gewesen war, ohne sich abzumelden und dass er die Schule heute geschwänzt hatte. Zwar würde seine Mutter ihm sicherlich eine Entschuldigung schreiben, aber leicht würde es diesmal wohl nicht. Wenn alle Stricke reißen…, dachte er, ich hab genug Tränen aufgestaut, um ihr Mitleid zu bekommen… Gott, das ist sogar für mich echt das Letzte. Und das musste er dann auch. Sie und sein Vater machten ihm die Hölle heiß, bis er schließlich weinend zusammenbrach. Bei jedem anderen hätten sie geglaubt es sei wegen der Zurechtweisung, aber so etwas ließ Markus sonst völlig unbeeindruckt. „…er wäre fast gestorben“, hauchte er seiner Mutter zu. Sein Vater antwortete aber stattdessen. „Das ist kein Grund, dass du ohne anzurufen die Nacht nicht nach Hause kommst!!!“, donnerte er. Nun, er hatte Recht, das wurde sogar Markus klar. Trotzdem verteidigte dessen Mutter sein Verhalten (das war neu). „Hör mal Ricardo! Du bist manche Nächte auch nicht hier, ohne anzurufen. Bist´ ein tolles Vorbild! Jetzt lass den Jungen in Ruhe, er ist völlig fertig, ich rede allein mit ihm!“ Plötzlich richtete sich Ricardos Wut ungebremst auf sie. „Du wagst es meine Autorität anzugreifen?!?“, brüllte er sie an. Markus sah, wie sehr seine Mutter um Stärke rang. Sie tat es für ihn und zwar nur für ihn, dass wusste er. Sie brauchte ihren Mann einfach viel zu sehr, er brachte das Geld nach Hause (und nicht wenig!), zudem kümmerte sich um alle Belange, die ihr Haus betrafen, waren es Klempner oder Dachdecker. Dafür nahm sie eben in Kauf, dass er Affären hatte oder dass er sich aufspielte, als gehörte ihm die Welt. Sie liebte ihn schon lange nicht mehr, aber ihn zu verlassen kam für sie nicht in Betracht. Im Prinzip hasste er es, dass sie so wenig Rückrad hatte, aber andererseits konnte er es sogar verstehen. Sie tat es nur für ihn und seinen Bruder, denn obwohl Mario seit langem ausgezogen war, wurde er ja noch mit Daddys Geld unterstützt. Ganz zu schweigen, was Markus alles bekam. Nun war es wohl an ihm rückradlose Puppe zu spielen… „Hört auf, Leute, hört auf!!!“, rief er. „Es tut mir Leid, dass ich so eine Scheiße gebaut hab, echt, keiner hat Schuld, okay? Ich hab einfach nicht nachgedacht… Fuck, ich… ich kann einfach nicht mehr…“, er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und weinte. Auf dem Boden saß er ja schon. Die Tränen waren echt, auch wenn seine Entschuldigung es vielleicht nicht war. Sein Vater war ein Heuchler, wenn seine jetzige Geliebte – sofern sie ihm genug bedeutete – in einer solchen Lage gewesen wäre, hätte er auch niemandem gesagt, dass er nicht nach Hause kommen würde, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Er wäre ebenfalls einfach fort geblieben, da war sich Markus sicher. Allerdings wurde ihm nicht bewusst, dass er Sebastian mit einer Geliebten gleichstellte… „Du verweichlichst ihn zu sehr!“, murrte Ricardo, zwar immer noch wütend, aber weitaus gefasster. Seine Frau sah ihn nur an, mit einem sonst-noch-was(?)-Blick. Er verließ daraufhin das Wohnzimmer. Nun ließ Markus´ Mutter ihre Fassade fallen, sie sank erleichtert aber erschöpft auf die Knie und wischte sich anbahnende Tränen aus den Augen. Dann sah sie zu ihrem Sohn. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht, Junge!“ rief sie ihm leise zu. Dieser blickte auf. „Es tut mir leid, Mutter, ich… ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn er gestorben wäre…“ Er ließ sich diesmal ohne Gegenwehr von ihr in den Arm nehmen. „…echt nicht.“ ---- Als es an der Tür klingelte, zuckte Ingrid zusammen. Es war auch nach einer Woche immer noch schwer für sie wieder zur Normalität zu finden. Nur langsam erhob sie sich aus ihrem Sessel und trat zur Tür. Ihr Herz klopfte wild und unnatürlich laut, zumindest kam es ihr so vor. Sie fluchte innerlich, weil sie noch immer keinen Türspion eingebaut hatte. Zwar war eine Sicherungskette vor der Tür, aber Bernd würde das nicht aufhalten. Ein einziger, gewaltiger Tritt gegen das Holz und er wäre drin. Keine guten Aussichten. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit und spähte hindurch. Es war nicht Bernd, stellte sie erleichtert fest. Es war der schöne, brünette Knabe. Sein Blick war seltsam matt, aber dennoch durchdringend, sie konnte ihn nur schwer einordnen. Er sagte nichts, aber er setzte ein Lächeln auf, das sie unwillkürlich erwidern musste. Eigentlich wusste sie nicht, was sie von ihm halten sollte, aber sie empfand ihn auch nicht als Bedrohung. Zumindest – und da war sie sich sicher – könnte er etwas tun, um ihren Sohn zu irgendeiner Handlung zu animieren. Seit Tagen schon hockte er in seinem Zimmer, redete nicht mehr mit ihr oder sonst wem, und legte ein immer autistischeres Verhalten and den Tag. Wenn das so weiter ging, würde er in einer geschlossenen Anstalt landen, anstatt nur zu täglichen Sitzungen beim Psychologen, die ihm ja nun auch nicht helfen konnten. Es war wirklich zum heulen. Der schöne Junge konnte sich nicht zu einem Wort durchringen, sodass Ingrid ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte. „Bitte tu was…“, hauchte sie. „Irgendwas… ich weiß nicht weiter…“. Als er in ihre traurigen Augen sah, anklagend und ebenso verletzt, wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. Sie zog ihre Hand weg. „Bitte…“, ihre Stimme war schwach, fast schüchtern. Der Junge nickte langsam und lächelte, beinahe warm. Als Markus vor das Zimmer seines Freundes trat, fühlte er sich so fehl am Platz, wie selten irgendwo. Es war nicht die Tatsache, dass er noch nie hier gewesen war, vielmehr war es das Wissen, das er hier nie wirklich willkommen sein würde. Egal, was er Sebastian sagen würde, er konnte nicht ungeschehen machen, was er bereits gesagt hatte. So dumm es sich für Markus auch anhören mochte. Es war so unglaublich schwer für ihn gewesen überhaupt hier her zu kommen. Und die Aussicht, dass dieses Gespräch über das Fortführen oder Scheitern ihrer zerbrechlichen Freundschaft entscheiden würde, half nicht gerade. Genauso wenig, wie es half, dass Sebastian sich beinahe umgebracht hatte und Markus scheinbar alles dafür getan hatte, dass es soweit kommt. Zumindest aber hatte er nichts getan um es zu verhindern… Langsam öffnete er die Tür. Er zwang sich ein fröhliches Lächeln aufzusetzen und mit seiner üblichen alles-ist-in-Butter-Nummer irgendwie zu überzeugen. Am liebsten hätte er laut aufgeschrieen. „Sebastian!“, warf er fröhlich in den Raum. Dieser saß auf seinem Bett und las ein Buch. Zumindest schien er das vorgehabt zu haben, aber sein Blick war starr und weit fern. Er ging auf ihn zu und schnappte sich sein Buch. „Hey, Kleiner, willst du dich ewig hier drin verkriechen? Du musst mal wieder nach draußen, dort wo das Leben ist!“, er war selbst überrascht, wie wenig seine Unsicherheit oder seine niederschmetternde Stimmung mitklang. Sebastian sah zwar langsam auf, erwiderte aber nur: „Lass mich in Ruhe.“ Für einen Moment war Markus tief getroffen. Es tat weh. Er hatte gewusst, dass es wehtun würde, aber davor hatte er sich nicht einmal am meisten gefürchtet. Er versuchte es zu ignorieren und berührte sachte seinen Arm. „Aber…“ Der Blondschopf zog ihn augenblicklich weg. „Fass mich nicht an!“, fauchte er. „Sebastian…“, die aufgesetzte gute Laune gefror in ihm zu Eis. Er schluckte und versuchte nicht so verdammt hilflos zu klingen. „…was ist los?“, er bemerkte selbst, dass ihm das nicht gelang. „Warum gehst du nicht einfach?“, die Stimme seines Freundes war flach, ohne Emotion. Ich muss es ihm sagen…, dachte Markus mutlos. Er wusste nicht, was er tun sollte, fühlte sich aber außerstande zu gehen. Nein…, schoss es ihm durch den Kopf. Resigniert schloss er die Augen. „Bitte geh!“, Sebastians Stimme hatte eine seltsame Härte in sich, die Markus noch nie bei ihm erlebt hatte. So endet es also… ich hab ihn verloren. Als es dem brünetten Jungen klar wurde, hätte er beinahe geschluchzt. Jetzt brauchst du es ihm auch nicht mehr sagen…!, rief ihm eine zynische kleine Stimme im Innern zu. Klasse. Er sah zu ihm und beugte sich vor, stützte sich mit den Knien auf die Bettkante und kam Sebastian mit seinem Gesicht sehr nahe, fast ein bisschen zu nahe. „Rede mit mir.“, Markus Augen suchen die seines Gegenübers. „Geh doch einfach.“, flüsterte dieser und wich bis zur Wand zurück. „Rede mit mir…“, wiederholte der Brünette Knabe, kam erneut dichter ran und lehnte seine Stirn an Sebastians. Der konnte mit dieser Nähe nicht viel anfangen. Er zitterte. „Bitte, jetzt geh schon…!“, seine Stimme klang nicht mehr hart, sondern nur noch flehend. Sebastian schaute nervös nach unten und zwang sich stark zu bleiben. Sein Körper bebte so heftig, dass er es nicht unterdrücken konnte, und Schmetterlinge wirbelten in seinem Bauch. Die Nähe seines Freundes war so überwältigend, dass er ein Seufzen nur schwer unterdrücken konnte. Markus umfasste die Wange seines Gegenübers mit einer Hand und hob seinen Kopf hoch, sodass er ihn ansehen musste. Warum kommt er nur so Nahe? Sebastians Herz schnürte sich zusammen. Aus den Schmetterlingen wurde ein regelrechter Sturm. Er versuchte sich zu entziehen, aber er konnte es nicht. Markus kam nur näher. „Sieh mich an!“, befahl er sanft. Er war so nahe, dass sich ihre Lippen beinahe berührten. Und dieser Blick! Warum sieht er nur so intensiv in meine Augen?, dachte Sebastian. Er zitterte fürchterlich. „Was…?“, fragte er kaum hörbar. Er atmete schwer, alles in ihm verkrampfte sich. Markus Lippen streiften seine. Er hätte es für ein Versehen halten können, aber dieser sah ihm immer noch in die Augen und wich keinen Millimeter weg. Sebastian liefen einige Tränen über seine Wangen. Er war nicht fähig sich zu bewegen, seine Glieder waren bleiern und sein Herz setzte mindestens einen Schlag aus. Warum tut er das? Sein Gegenüber schien auf ein Zeichen der Wehr zu warten, doch als dieses nicht kam, küsste er ihn sachte auf die Lippen. Er hatte seine Augen inzwischen geschlossen, obwohl er dem Frieden nicht traute. Sebastian tat gar nichts. Er war starr vor Schreck, immer wieder versuchte er sich einzureden es sei nur ein Traum. Ein völlig verrückter, unglaublich echt wirkender, Tagtraum. Sebastian merkte erst, dass auch er die Augen geschlossen hatte, als er seine bleischweren Lider hob. Er schaute in zwei wunderschöne glänzende, schokoladenbraune Augen. Markus leckte sich unbewusst über die Lippen. Er hatte sich schwerfällig gelöst, um Sebastians Reaktion zu sehen, auch wenn sie Verachtung, Missbilligung oder sogar Hass zeigten. Doch dem war nicht so. Sie strahlten zwar auch keine Liebe aus, aber schienen nicht zwingend abgeneigt. „Wow, ich dachte du würdest mir den Schädel einschlagen…“, murmelte Markus leise. Sein Atem war so nahe. Sebastian fühlte sich wie ein Einwürfel im Backofen, seine Knie wurden weich und er wäre tatsächlich umgekippt, wenn er nicht gesessen hätte. Er lächelte leicht. Die Finger seines Freundes suchten sich sachte einen Weg unter sein T-Shirt. Sebastians leises Stöhnen ermutigte den brünetten Knaben offensichtlich, denn er grinste inzwischen Selbstsicherer, zog ihn so nahe er konnte an sich, kam ganz langsam wieder seinen Lippen entgegen und küsste ihn sacht. Sebastian hob zitternd seine Hände und umfasste seinen Rücken. Vorsichtig tastete sich Markus´ Zunge in seinen Mund. Das war komplett verrückt. Undenkbar. Inakzeptabel. Doch es fühlte sich verdammt gut an. Er schmeckte gut. Eigentlich sogar mehr als das, es war berauschend, der kleine Streber hätte vor Glück weinen können. Der Blondschopf löste sich leicht, um zu Atem zu kommen. Schüchtern sah er in die Augen seines Gegenübers. „Ich… ich hab nicht viel Ahnung…“, flüsterte er schuldbewusst. „Hm, ich schätze, ich ein bisschen mehr…“, der brünette Junge grinste und küsste ihn wieder, diesmal intensiver als zuvor. Nur langsam wagte er sich noch etwas weiter unter sein T-Shirt. Doch dann fühlte er sie. Die Narben. Sebastian war so in Trance, dass er es gar nicht merkte. Markus löste sich. Sein Gegenüber gab nur einen enttäuschten Laut von sich. Der brünette Knabe zog ihm langsam das T-Shirt aus. Sebastian ließ es zu, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Er hatte schon lange den Boden unter den Füßen verloren. „Ach du Scheiße…“, flüsterte Markus und fuhr mit seinen Fingern über die nur langsam verheilenden, grünlichen Flecke und die Narben. Erst jetzt schien der Blondschopf zu realisieren, was er geschehen war. Abrupt versuchte er Markus abzuwehren, schaffte es aber nicht wirklich. „Nein, ich…“ „Scheiße…“, hauchte der Jüngere. „Scheiße… ich… ich hatte ja keine Ahnung.“ Der kleine Streber krallte sich sein T-Shirt und hielt es sich schützend vor seinen Körper. Seine Augen… sehen so traurig aus. „Meine Güte, Sebastian, es tut mir so leid, ich…“ Doch dieser wich nur zurück und versuchte irgendwie sich wieder zu fangen. „Nein, ich… ich will nicht…“, murmelte er unter schwerem Atmen. Markus berührte seine Wange und küsste sie. Behutsam zog er seinen Freund in seine Arme und streichelte liebevoll über seinen Kopf. Dieser schluchzte leise. „Ich hab nie gefragt…“, murmelte der brünette Junge. „Ich komme mir so dumm vor… ich hab nie gefragt… warum du es getan hast.“ Sebastian entspannte sich etwas in der Umarmung, er legte nach einiger Zeit sogar seine Arme um ihn. Sie hielten sich so fest, wie zwei Ertrinkende an einem umgekippten Boot. Keiner wollte den anderen los lassen. Und beide merkten nicht, dass der andere weinte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)