Strange Relationship von Konnichi (From a different point of view) ================================================================================ Kapitel 16: Road Trip: Leg 5 – Österreich 2 ------------------------------------------- Okay, endlich hab ich´s geschafft. Dieses Kapitel sollte ganz anders werden (vor allem nicht so lang)hat sich dann aber meiner Kontrolle entzogen. Trotzdem bedeutet es mir sehr viel... Selbsttherapie. In der Endszene hab ich mich etwas in Rage geschrieben *hust, hust* Und ich bin endlich wieder sadistisch. Ach, ich quäle Chris so gerne... (ärztlicher) Warnhinweis: Allzu sensible Seelen sollten den Teil ab dem Unfall vielleicht nicht lesen. Blut, Tod, usw. Nach diesem geheimnisvollen Telefongespräch schien Rico irgendwas zu quälen. „Was ist denn los?“, fragte Chris, dem das ganze auch zu schaffen machte. „Es ist nichts. Mein Vater wollte mir nur erzählen, dass bei uns ein Serienmörder durch die Gegend läuft, der lauter Leute umbringt, die wir kannten“, antwortete der Angesprochene. „Und das Andere? Er vermisst etwas; hat er etwa gedacht, wir hätten ihm was geklaut?“, hakte der Jüngere nach. „Nein, hat er nicht. Er ist nur so furchtbar schusselig und er hat sein Protokollbuch verlegt, wo der ganze geschäftliche Kram drinsteht und da dachte er, ich hätte es vielleicht gesehen“, erklärte Rico in betont lässigem Ton. Kurz danach sagte er, er müsste noch was erledigen und verschwand. „Ich glaub´, das war die fetteste Lüge, die er mir jemals erzählt hat“, sagte Chris zu seinem Bruder. „Es war auf jeden Fall nicht die Wahrheit“, entgegnete dieser. Um sich abzulenken packten sie schonmal ihre Sachen zusammen und warteten schließlich auf Rico´s Rückkehr, was nicht lange dauerte. Sie verließen das Hotel und machten sich auf den Weg, das Land zu durchqueren. „Warum sind wir eigentlich hier?“, fragte Chris plötzlich, während er der vertrauten Landschaft vor dem Fenster zusah, wie sie an ihnen vorbeizog. „Weißt du, wir dachten uns, wenn ich mich mit meiner Vergangenheit auseinander setze, solltet ihr das vielleicht auch tun. Deswegen sind wir hier“, sagte Rico, als ob es selbstverständlich wäre. Mit einem Schaudern sah der Jüngste wieder zum Fenster raus. Er versuchte nicht drüber nachzudenken, über die Vergangenheit und auch nicht über die Zukunft. Er versuchte sich auf das Problem in der Gegenwart zu konzentrieren und sich zu überlegen, was Rico verheimlichte. Vielleicht hatte es etwas mit dieser Geistergeschichte zu tun, vielleicht aber auch mit seiner Vergangenheit. Was es auch war, Rico schien sich keine Gedanken darüber zu machen, oder er versteckte es gut. Gut gelaunt wie selten spielte er am Radio rum und als er keinen ordentlichen Sender fand suchte er die CDs aus dem überfüllten Handschuhfach. Sie fuhren den ganzen Tag durch die Gegend und je nach Musik wechselte auch ihre Stimmung. Doch plötzlich fiel ebenjene auf den Nullpunkt. Das Auto fing an, komische Geräusche von sich zu geben und ruckelte furchterregend. Sie schafften es noch bis an einen Waldweg bevor der Motor abstarb. „War ja klar, dass das irgendwann passiert“, meinte Alex nur, schaltete den Warnblinker an und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Nachdem sie es geschafft hatten, das Warndreieck aus dem Kofferraum zu kramen und aufzustellen standen sie alle Drei vor der geöffneten Motorhaube und taten so, als hätten sie irgendeine Ahnung, was denn nun kaputt sein könnte. Rico hatte wohl am meisten Ahnung von Autos, aber auch er konnte keinen offensichtlichen Fehler finden. So entschlossen sie sich schweren Herzens, den Abschleppdienst anzurufen. Sie vertrieben sich die Wartezeit mit ziemlich lächerlichen Kinderspielen und blöden Witzen. Als der Abschleppwagen ankam dämmerte es schon fast und sie stiegen todmüde in den LKW, der sie in die nächste Stadt brachte. Der LKW-Fahrer konnte sich sein Lachen kaum verkneifen, als er die drei Männer weckte, die neben ihm auf der Sitzbank friedlich eingeschlafen waren, und sie vor dem einzigen Hotel der Stadt absetzte. Da standen sie nun vor der Rezeption und bekamen drei Einzelzimmer an komplett verschiedenen Enden des Gebäudes zugewiesen, weil einfach keine anderen mehr da waren. Oder vielleicht auch, weil die alte Hotelbesitzerin ihre Beziehung zueinander durchschaut hatte und so etwas in ihrem Haus nicht wollte. Sie gingen in ihre Zimmer; ihre Müdigkeit hatte gegen ihren Unmut gewonnen. Alex wollte gerade das Zimmer verlassen und seinen Bruder suchen, da klopfte es und ebendieser stand vor der Tür. Er wirkte betrübt und nervös, so wie früher immer, wenn er etwas angestellt hatte. „Ich muss unbedingt mit dir reden... Ist dir klar, was für eine Stelle das heute war, wo das Auto kaputtging?“, murmelte er und ging unruhig auf und ab. „Ja, das ist mir klar. Setz dich, du machst mich ganz schwindelig mit deinem Gerenne“, antwortete Alex ganz ruhig und verfrachtete ihn auf das Bett. Er wusste genau, was jetzt kam. Vor ungefähr sieben Jahren hatte Chris in der Nähe dieser Stelle auf Drogen einen tödlichen Autounfall verursacht. Alex´ damalige Freundin Jessica war dabei ums Leben gekommen. Wie sein Bruder es geschafft hatte aus der ganzen Sache an einem Stück und ohne Gefängnisstrafe rauszukommen, wusste er bis heute nicht. „Willst du mir endlich erzählen, was damals wirklich passiert ist?“, fragte er und kannte die Antwort schon. „Ja. Vielleicht kannst du mir dann endlich verzeihen“, sagte der Jüngere und sah ihm in die Augen. „Das hab ich schon längst. Aber ich will es trotzdem wissen...“, meinte sein Bruder und lehnte sich erwartungsvoll gegen die Wand. „Also gut“, begann Chris, „Wir sind zu diesem Konzert gefahren, es war abgemacht, dass ich fahren soll, weil Jessi wegen ihrer Krankheit ja nicht fahren konnte. Allerdings konnte ich mich noch nie gut zurückhalten und war bald schon total besoffen und nach der Backstage-Party auch absolut stoned. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, nur noch, dass sie von irgendeinem Typen angemacht wurde, der kurz vorher noch mit mir geknutscht hatte, und dann wollte sie auf einmal heim. Als sie gemerkt hat, in welchem Zustand ich bin, hat sie gesagt, dass sie fahren will. Sie hat mir geschworen, sie hätte nichts getrunken und auch an ihre Tabletten gedacht. Also hab ich ja gesagt, was blieb mir schließlich anderes übrig...“ An diesem Punkt unterbrach Alex ihn. „Warte mal, sie ist gefahren? Du hast ihr den Schlüssel freiwillig gegeben, obwohl du wusstest, dass sie Gleichgewichtsstörungen hatte und nichtmal immer grade gehen konnte? Warum habt ihr denn nicht einfach im Auto gepennt?“, fragte er überrascht. Bis zu diesem Zeitpunkt war er immer davon ausgegangen, Chris wäre in jener Nacht unter Drogeneinfluss gefahren. „Ich weiß es nicht. Sie war so entschlossen, nach Hause zu fahren, sie hatte den Schlüssel schon in der Hand, bevor ich es überhaupt gemerkt hatte. Ich hab ihr noch gesagt, sie soll bloß langsam fahren und wenn ihr schlecht wird soll sie sofort anhalten. Sie war immer so vernünftig und ich hab ihr fast so stark vertraut wie dir...“,fuhr Chris fort. Jetzt kam der schlimmste Teil der Geschichte. „Wir fuhren also ziemlich langsam dahin, wenn meine Erinnerungen stimmen. Und es war auf dieser Straße da, als sie plötzlich Vollgas gab. Trotz meinem Zustand merkte ich es und versuchte sie zum Bremsen zu überreden, was allerdings nicht klappte. Wie durch ein Wunder schafften wir es um die Kurven. Auf grader Strecke gab sie noch mehr Gas und plötzlich drehte sie sich zu mir um und sagte: `Es tut mir leid, Chris´ Dann riss sie das Lenkrad nach rechts, wir durchschlugen einige kleine Bäume, flogen über einen Hügel und knallten schließlich gegen einen Baum. Sie war wohl sofort tot... überall war Blut und Glassplitter. Und in diesem Moment wurde mir schlagartig klar, was passiert war. Sie hatte sich umgebracht und versucht mich gleich auch zu töten. Meine nächster Gedanke warst du und Jessi´s Eltern. Wie würdet ihr reagieren, wenn ihr wüsstet, dass sie Selbstmord begangen hatte? Was hätte sie für einen Ruf, wenn es rauskäme? Also beschloss ich, es wie einen tragischen Unfall aussehen zu lassen. Ich zerrte sie auf den Beifahrersitz, wischte das Blut weg und schlug so lange meinen Kopf auf das Lenkrad, bis mein Blut überall verteilt war. Dann warf ich ein paar Pillen ein und lief zurück zur Straße, wobei ich über einen Baum stolperte und mir das Bein brach. Ich hielt an der Straße ein Taxi an, leider geriet ich an einen übelst notgeilen Taxifahrer, dem ich zuerst einige Gefallen tun musste, bis er mal die Polizei rief. Als die ankamen erzählte ich ihnen zuerst, dass ich die Drogen erst nach dem Unfall genommen hätte, wegen dem Schock und, um die Schmerzen zu betäuben. Später erfuhren sie die Wahrheit und ich kam ohne Strafe davon. So bin ich zwar schuld an Jessica´s Tod, aber ich habe sie nicht umgebracht. Und ich hoffe, dass du mich verstehst“ Das hoffte er wirklich. Er hatte all die Jahre geschwiegen, weil er diese Lüge nicht zerstören wollte, die er zum Schutz seines Bruders, Jessica´s Angehörigen und auch Jessi selbst aufgebaut hatte. Dieser Vorfall heute war eine Art Zeichen gewesen, doch endlich die Wahrheit zu sagen. Alex starrte ihn sprachlos an. Es war offensichtlich, dass in diesem Moment seine Gefühle Achterbahn fuhren, denn sein Gesichtsausdruck veränderte sich ständig. „Das hast du alles wirklich gemacht? Obwohl du wusstest, dass alle dich dafür verantwortlich machen würden? Du bist so ein dummer Junge... und so ein guter Mensch“, sagte er mit tränenerstickter Stimme und zog seinen kleinen Bruder in eine Umarmung, die voller Verzweiflung, Erleichterung und Liebe war. „Warum hast du denn nie was gesagt? Ich hätte Jessi´s Selbstmord leichter ertragen als die Tatsache, dass mein geliebter Bruder schuld an ihrem Tod war“, murmelte er nach einer Weile. „Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich war sowieso für meine Unzuverlässigkeit überall bekannt und ging damals davon aus, ihr würdet mich eh alle hassen. Und Jessi war so ein anständiges Mädchen... ich hatte sie so gern und ich wollte nicht, dass sie der Welt als Selbstmörderin in Erinnerung blieb. Ich wollte doch nur helfen...“, sagte Chris und wäre fast in Tränen ausgebrochen. „Das weiß ich. Du willst immer nur helfen, aber meistens geht es furchtbar schief. Oh, Chris, du schaffst es auch immer wieder es dir schwer zu machen, nur weil du es anderen leicht machen willst. Wahrscheinlich bist du deshalb so ein Engel... ein gefallener Engel“, antwortete sein Bruder und küsste ihn. Sie saßen noch eine Weile so da. Die Tränen der Erleichterung liefen immer noch über Alex´ Gesicht, als Chris sich erhob und ihm mitteilte, er müsste gehen und noch was erledigen. Der Jüngere verließ den Raum und lehnte sich seufzend gegen die Flurwand. Er war froh, dass sein Bruder es so gut aufgenommen hatte und, dass er ihm das Schlimmste verschwiegen hatte. Immer noch von Schuldgefühlen geplagt ging er in sein Zimmer und betrank sich ein kleines bisschen, um überhaupt schlafen zu können. In dieser Nacht träumte er von dem Unfall und davon, was danach passiert war. //Warum fuhren sie plötzlich so schnell? Hatte Jessica das Gas mit der Bremse verwechselt, oder was? „Jessi, ... nicht so schnell... mach langsamer, bitte“, murmelte Chris unter großer Kraftanstrengung. „Wir kommen niemals zu Hause an, wenn wir weiter so schleichen. Lass mich nur machen“, meinte sie entspannt. Ihr Gesicht sprach eine andere Sprache. Wie verbissen starrte sie auf die Straße und ein Sturm der Gefühle schien in ihr zu toben. „Aber... das ist gefährlich... du bist doch gar nicht ans Fahren gewöhnt... bitte, nur ein bisschen langsamer“, murmelte er wieder. Sie flogen mit Vollgas durch einige Kurven. Nur die Schwerkraft und ein Wunder hielten sie auf dem Asphalt. Chris versuchte eine andere Taktik. „Jessi~... mir ist schlecht! Bitte, halt an“, jammerte er und klammerte sich demonstrativ am Armaturenbrett fest. „Keine Sorge, gleich ist es vorbei“, sagte sie in rätselhaftem Ton. Sie durchfuhren die letzte Kurve und Chris dachte immer noch angestrengt drüber nach, was sie grade gesagt hatte. Währenddessen trat Jessica das Gaspedal bis auf den Boden durch. Die Landschaft flog an ihnen vorbei. Sie drehte sich um und in ihrem Gesicht zeigte sich unglaubliche Traurigkeit. „Es tut mir leid, Chris“, sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. Er wollte grade fragen, was ihr leid täte, da schloss sie die Augen, riss mit aller Macht das Lenkrad herum und schlug die Hände vors Gesicht. Bevor sein vernebeltes Gehirn verarbeitet hatte, was gerade geschah trafen sie auch schon den ersten dünnen Baum, der keine Chance gegen das Auto hatte und, genauso wie einige weitere seiner Art, unter dem Aufprall nachgab. Unfähig gegen die Schwerkraft zu kämpfen rutschte Chris in den Fußraum und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Er spürte, wie das Auto abhob und kletterte geistesgegenwärtig wieder auf den Sitz. Da sah er den Baum kommen und fand sich im nächsten Moment, nach einem höllischen Schlag, nur einen halben Meter von dessen Stamm wieder. Was war das denn gewesen? Was sollte der ganze Scheiß? Voller Todesangst sah er nach links. Da lag Jessica mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Ihre blonden Haare verdeckten ihr Gesicht, überall war Blut; ihr Blut. „Jessi?... Jessi, hörst du mich?... Bitte, sei nicht tot!“, rief er panisch und rutschte zu ihr rüber. Sie atmete noch, aber ihr Puls war schwach. Ängstlich strich er die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und entdeckte das traurige Lächeln wieder. „Chris...“, flüsterte sie und ergriff mit letzter Kraft seine Hand. „Pst, nicht sprechen. Ich rufe einen Notarzt. Alles wird gut... Bitte, du darfst nicht sterben“, sagte er und plötzlich war sein Kopf wieder klar. Er musste Hilfe holen; es war noch nicht zu spät! Er versuchte ihre Hand wegzuschieben, schaffte es aber nicht. „Chris, hör mir zu...“, sagte sie mit ihrer letzten Lebenskraft, „Ich... ich wollte immer... nur dich. Weißt... weißt du noch als wir so betrunken waren... wir hatten Sex... Chris, ich... glaub ich bin... schwanger von dir... aber... wir können nicht... zusammen sein, während wir leben... du... du bist schwul, das wusste ich gar nicht... du würdest mich nie wollen... aber ich liebe dich doch...“ Was hatte sie grade gesagt? Nein. Nein! Das konnte doch alles gar nicht... Sie zog ihn verzweifelt an sich. Mit einem letzten Anflug von Kraft hob sie ihren verletzten Kopf und drückte Chris einen Kuss auf die Lippen; einen Kuss, der nach Blut schmeckte und ihre ganze Verzweiflung ausdrückte. „Ich liebe dich... bis bald“, flüsterte sie wieder und schloss die Augen. „Nein, Jessica! Bleib hier! Ich werde dich immer lieben, ich versprech´s! Du darfst nur jetzt nicht sterben... Ich schwör´ dir, ich tu alles für dich, nur bleib am leben... Jessi...“ Ein Lächeln legte sich wieder auf ihr Gesicht und ihre Hand fiel kraftlos herunter. Sie war gegangen...// Chris erwachte von seinem eigenen Schluchzen und von dem unerträglichen Schmerz in seinem Herzen. Er wünschte, er wäre damals auch gestorben. Am besten, bevor sie ihm das alles gestanden hatte. Er hatte es schon vorher geahnt, aber es immer als Einbildung abgetan. Aber sie hatte in diesem Moment die Wahrheit gesagt. Nur schwanger war sie nicht gewesen, zum Glück. Trotzdem war es schlimm genug. Sie hatten wirklich zwei Monate vor dem Unfall miteinander geschlafen; sie hatte ihn verführt. Das hatte er auch immer für Einbildung gehalten, bis sie es sagte. Sie hatte ihn tatsächlich geliebt. Wenn er das doch bloß vorher gewusst hätte, dann hätte er ihren Tod verhindern können. Er hatte sie ja auch geliebt, aber eben nur als Freundin und nicht als Frau. Aber wenn er dadurch ihr Leben hätte retten können, wäre er mit ihr zusammengekommen, hätte so getan als wäre sie seine große Liebe, ja sie sogar geheiratet, wenn es ihr Wunsch gewesen wäre. Er hätte sie retten können, aber wie so oft in seinem verfluchten Leben, hatte er es nicht geschafft. Genauso wie Anfang des Jahres, als er versucht hatte, Kelly June zu retten. Genauso wie damals vor acht Jahren, als er versucht hatte, Johannes vor dem Drogentod zu retten. Und wie oft hatte er versucht, seinem Bruder zu helfen und hatte ihn dadurch nur wieder in Schwierigkeiten gebracht. Er glaubte, nein er wusste mittlerweile, dass er allein an diesem ganzen Unglück schuld war. Die Menschen in seiner Umgebung hatten immer nur Pech. Warum war Rico wohl krank? Warum war Alex dauernd traurig? Warum war Kelly wieder in einer ihrer Phasen, sobald er da war? Warum waren seine Eltern gestorben? Warum war Jessica aus Liebe zu ihm in den Tod gegangen? Es war seine Schuld. Er legte sich wie ein Fluch über seine Mitmenschen und zerstörte sie, einen nach dem anderen. Wenn er doch nie geboren wäre, wie viel Unglück hätte der Welt erspart bleiben können! Er wünschte, jemand würde ihn in diesem Moment schlagen und ihm sagen, was für ein furchtbarer Mensch er doch war, und dass er der Welt einen Gefallen täte, wenn er starb. Aber niemand kam und schlug ihn oder schrie ihn an. Er sah die Gesichter der Menschen vor sich, die er liebte. Wie glücklich sie alle waren ohne ihn. Er gehörte in dieses einsame, dunkle Hotelzimmer, fernab von der Welt und von Seelen, die er verletzen konnte. Was sein Vater und die ganzen anderen Kerle mit ihm gemacht hatten war die gerechte Strafe für sein Dasein. Aber hier war keiner, der ihn bestrafen konnte. Dann musste er das eben selbst in die Hand nehmen. Immer noch von Schluchzern geschüttelt stand er entschlossen auf. Verzweifelt und ziemlich orientierungslos durchkämmte er seine Taschen auf der Suche nach irgendetwas, womit er diese Strafe durchziehen konnte. Schließlich kramte er ganz tief in seinem Geldbeutel, bis er einen stechenden Schmerz im Zeigefinger spürte. Tatsächlich steckte die silberne Rasierklinge, die er gesucht hatte, in seinem Finger und als er sie rauszog tropfte das Blut schon. Erleichtert ließ er sich auf dem Boden nieder. Moment, verdammt, das war Teppichboden. Das konnte ganz hässliche Flecken geben. Ungeduldig sprang er wieder auf und lief ins Bad, wo er sich schwungvoll auf die kalten Fliesen setzte und erstmal den Finger in den Mund steckte, weil der mittlerweile übelst tropfte. Der Geschmack seines eigenen Blutes legte sich über die Fähigkeit zu denken und seine Bewegungen zu kontrollieren. Er verfiel für einige Minuten einem mörderischen Blutrausch und als er wieder zu sich kam, merkte er erst, wie schlimm es wohl gewesen sein musste. Neben dem angenehmen, erlösenden Schmerz in seinem linken Arm spürte er ein Schwindelgefühl, das er leider zu gut kannte. Nach einem weiteren Moment traute er sich endlich, die Schnitte anzusehen. Aber vor lauter Blut konnte er nichts erkennen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Nein, er wollte noch nicht sterben. Er wollte diese Welt doch zusammen mit Rico verlassen und nicht vor ihm! Er wollte ihn doch nicht zurücklassen! Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht einmal anständig ritzen konnte er sich! Rico machte sich so langsam echt Sorgen. Er wusste zwar, dass Chris ein Langschläfer war, aber das hier konnte nun wirklich nicht normal sein. Zusammen mit dem todmüden Alex, der ihm alles erzählt hatte, machte er sich auf den Weg, seinen Freund zu wecken. Zu ihrer Überraschung fanden sie die Tür offen. Das Zimmer sah chaotisch aus, selbst für Chris´ Verhältnisse (und das sagte viel). Sie erreichten die Tür zum Bad, die nur angelehnt war und standen einen Moment lang unentschlossen davor, bis Rico endlich reinging. Er schrie erschrocken auf, als er den schlafenden Chris inmitten einer roten Blutlache auf dem Boden entdeckte. „Chris!... Oh nein!... Alex, Hilfe!“, rief er in Panik und kniete sich zu der kleinen blassen Gestalt, um ihn aufzuwecken. Der Gerufene kam in das Zimmer gestürmt und blieb wie angewurzelt stehen, als er seinen Bruder so sah. Chris regte sich endlich und fuhr schläfrig mit der rechten Hand durch sein Gesicht. „Was...? Was soll´n der Krach? Kann man denn hier nie mal ausschlafen?“, grummelte er und öffnete die Augen. Einen Moment lang wunderte er sich, warum es so kalt war und warum ihn alle so besorgt-fassungslos anstarrten, dann erinnerte er sich schlagartig. „Oh, shit!... Das ist nicht das, wonach es aussieht“, sagte er hellwach und riss seinen linken Arm hoch, damit die anderen Beiden nicht mehr mit dessen Anblick gestraft waren. „Chris, was...? Warum...?“, murmelte Rico, dem die passenden Worte fehlten und ließ sich ihm gegenüber auf dem Boden nieder, damit er ihm in die Augen sehen konnte. „Erklär ich dir später“, meinte der Jüngere und machte Anstalten sich zu erheben, was nicht so ganz klappte. Rico stand wieder auf und half ihm mit besorgtem Blick auf die Beine. Alex, der die ganze Zeit nur regungslos dagestanden hatte, sprach nun endlich wieder mit ihnen. „Es ist wegen Jessi“, sagte er und bekam als Antwort ein schwaches Kopfnicken von seinem Bruder, der Mühe hatte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Rico brachte ihn zum Bett und kramte gleichzeitig seinen Zimmerschlüssel aus der Hosentasche, den er Alex in die Hand drückte und ihm sagte, er sollte das Verbandszeug holen gehen. „Warte, das ist doch nicht nötig“, protestierte Chris schwach und wollte aufstehen. „Doch, das ist wohl nötig. Entspann dich, lass mich nur machen“, entgegnete sein Freund und besorgte einen nassen Lappen, um das Blut wegzuwaschen. Er verarztete ihn fachmännisch und zehn Minuten später fühlte Chris sich wieder als sei nichts passiert. Natürlich nur solange er in waagerechter Lage blieb. „Bitte, schock´ mich nie wieder so. Ich dachte du wärst tot“, meinte Rico und setzte sich zu ihm auf das Bett. „Keine Sorge. Unkraut vergeht nicht“, entgegnete der Jüngere und schaffte es fast, zu lächeln. „Chris... sag doch so was nicht“, sagte sein Freund halbwegs vorwurfsvoll. Er wusste selbst, dass das nur eine Redensart war, aber die Betonung, die der Junge auf das erste Wort gelegt hatte, war Besorgnis erregend. „Ich bin vielleicht blöd...“, murmelte Alex, der auf der Bettkante saß und melancholisch auf den Teppich starrte, nach einer kurzen Stille, „Letzte Nacht hab ich gemerkt, dass es dir nicht gut geht. Trotzdem bin ich ins Bett gegangen und hab dich allein gelassen. Es ist meine Schuld; ich hab versagt“ Chris wurde noch blasser (soweit möglich), richtete sich mit panischem Gesichtsausdruck auf und umarmte seinen Bruder umständlich von der Seite. „Bitte nicht... Mach dir keine Vorwürfe wegen mir... Ich bitte dich, Alex... ich hab kein Recht dazu, dich traurig zu machen“, sagte er leise und ängstlich. Keiner sprach mehr ein Wort. Sie kamen sich alle Drei ziemlich komisch vor und wussten nicht, was sie tun sollten. Ein unerwartetes Geräusch ließ sie hochschrecken. Irgendwo klingelte ein Handy. Alex befreite sich von der Umklammerung seines Bruders und stand auf, um das Telefon aus seiner Hosentasche zu ziehen. Während er telefonierte sank Chris wieder kraftlos auf das Kissen zurück, begleitet von Rico´s unsicheren und besorgten Blicken. Der sah aus als wollte er irgendwas ganz wichtiges sagen. Schließlich drehte Alex sich wieder zu ihnen um. „Das war der Auto-Dingsbums-Typ. Ich bin gleich wieder da“, verkündete er und verschwand ungewöhnlich hastig aus dem Zimmer. „Sich selbst zu hassen ist eine ziemlich schlechte Angewohnheit, weißt du das eigentlich?“, fragte Rico, als sie allein waren. „Lass mich in Ruhe“, entgegnete der Angesprochene schwach und drehte sich von ihm weg. Rico wusste dieses Verhalten zu deuten. Es stand schlimm um seine Psyche, richtig schlimm. Hätte der Junge die Kraft dazu gehabt, wäre er sicher weggelaufen und hätte sich irgendwo verbarrikadiert. „Das werde ich nicht tun. Ich bleib´ solange hier sitzen, bis du wieder du selbst bist. Und in der Zwischenzeit wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mir vielleicht erzählen könntest, was hier eigentlich los ist“, sagte der Sitzende entschlossen. „Nein“, flüsterte Chris bloß, mindestens genauso entschlossen. „Du Sturkopf. Aber, wenn du es so willst. Dann musst du dir eben anhören, was ich zu sagen hab“, fuhr Rico fort, der genau wusste, wie er mit einem Chris in diesem Zustand umgehen musste, „Ich kann mir vorstellen, was du durchmachst. Aber, lass dir eins gesagt sein: Es ist nicht deine Schuld. Du siehst mal wieder nur die schlechten Dinge und meinst du wärst verantwortlich für das Leid der ganzen Welt, aber das bist du nicht. Hast du eine Ahnung, wie wir leiden würden, wenn du nicht da wärst? Du kannst allein schon mit deinem Dasein so viel Gutes bewirken, aber das weißt du gar nicht. Du willst es nicht sehen. Warum? Weil du zu dem Schluss gekommen bist, nichts wert zu sein und weil du verdammt stur bist. Und egal wie viel Liebe wir dir geben, du wirst dich immer für wertlos halten und damit fortfahren, deine Existenz zu verfluchen, weil du gar nicht anders leben kannst. Du weißt nicht wie das geht, du hast es nie gelernt. Das ist schade, weil du doch so ein tolles Leben haben könntest... Ich würde ja sagen, du brauchst Hilfe, aber in diesem Punkt ist leider bei dir alles verloren. Denk mal drüber nach und wenn du zu einem Ergebnis gekommen bist, lass es mich wissen“ Er hatte das alles von Herzen gemeint und es gab noch viel mehr, was er Chris eigentlich ins Gesicht sagen wollte. Er sah selbst aus dieser Position die Tränen in den blauen Augen glitzern und wollte ihn am liebsten in den Arm nehmen und trösten, aber er wusste es besser. In einer Situation wie dieser musste man warten, bis derjenige von selbst zu einem kam. Und das dauerte bei Chris grundsätzlich nie lange. „Du hast Unrecht“, murmelte er nach einigen Minuten und setzte sich auf, „Ich bin wertlos. Nicht nur das; ich bin sogar eine Kreatur der Hölle, ein Dämon, der jedem Unglück bringt, der sich zu nah an ihn wagt. Ist dir mal die hohe Sterbe- und Depressionsrate in meinem Bekanntenkreis aufgefallen? Nein? Ich kann dir sogar einige Beispiele sagen... Meine Mutter zum Beispiel, oder Jessica, oder mein Freund Johannes, der drogenabhängig wurde, während er mit mir zusammen war. Genau wie du, übrigens. Und seitdem mein Bruder mit mir zusammen ist, ist er dauernd traurig und deprimiert. Oder Kelly, die direkt wieder ganz unten ist, wenn ich da bin. Und du. Du bist mein schlimmstes Opfer. Mein Fluch kam ganz langsam über dich, aber so grausam. Ich habe dich getötet, Rico. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, als ob ich dir etwas ganz furchtbares antun würde. Ich hätte mich besser von dir ferngehalten, anstatt mich wie ein selbstsüchtiger Idiot an dich ranzumachen. Meine Liebe tötet. Ich wusste es und trotzdem hab ich es drauf angelegt, weil ich dich liebe. Ja, weil ich dich liebe. Ich habe meine eigenen wertlosen Gefühle über dein Leben gestellt, obwohl es eigentlich absehbar war, dass du dabei sterben würdest. Weil, umso mehr ich jemand liebe, umso schlimmer ist sein Schicksal. Und dich liebe ich über alles, deshalb musst du jetzt sterben. Und mein Bruder wird der Nächste sein. Deswegen will ich dich um einen Gefallen bitten. Beende es, hier und jetzt. Töte mich, denn ich selber kann es nicht. Sobald meine verfluchte Seele diese Welt verlassen hat, wirst du dich besser fühlen. Du kannst dich selbst retten und noch einige andere unschuldige Seelen, die unter meinem schwarzen Einfluss leiden oder vielleicht in Zukunft leiden werden...“ Chris ergriff Rico´s starke Hände und legte sie an seine Kehle. „Komm schon, tu es“, flüsterte er. Er wusste, dass der Ältere imstande war, jemand nur mit einem kleinen Handgriff das Genick zu brechen und innerhalb einer Sekunde seine Lebenslichter auszupusten. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen bewegte sich eine Hand zu seiner Wange und wischte die Tränen ab. „Das meinst du doch nicht ernst. Du... was hast du genommen?!“, fragte Rico mit zittriger Stimme. „Ich meine es ernst. Ich würde einfach mit dir Schluss machen, wenn das denn reichen würde, aber wenn du gerettet werden sollst, muss ich sterben“ Verdammt, er meinte es wirklich ernst. „Was... was redest du da überhaupt? Du bist nicht Chris, du bist sein wahnsinniger Zwilling! Du bist komplett loco. Komm wieder zu dir! Was wären wir denn ohne dich? Was wäre ich ohne dich? Wer auch immer dir diesen Scheiß mit dem Fluch und dem Teufel eingeredet hat, der hatte es auf deine Seele abgesehen, merkst du das denn nicht? Es war kein Fluch, der dein Leben kaputtgemacht hat. Es war das Schicksal, der verdammte hijoputa! Und es war auch kein Fluch, der dich kaputtgemacht hat. Es war dein Glaube daran. Du bist die ganzen Jahre nur gefallen und ich glaube jetzt bist du endgültig auf dem Boden angekommen. Und jetzt ist der Zeitpunkt, wieder aufzustehen, mein Kleiner. Wenn du willst kann ich dir helfen. Weil ich dich nämlich liebe und nicht, weil irgendein tödlicher Fluch mich zu dir hinzieht. Comprende?“ Mit großen, tränenerfüllten Augen starrte Chris ihn an und nickte stumm. „Dann is´ ja gut... Komm her“, sagte Rico und umarmte ihn erleichtert, „Hat verdammt gut getan, dich mal anzuschreien“ Sein Freund antwortete nicht. Er war unfähig zu sprechen und konnte nur ein lautes Schluchzen entgegnen und sich verzweifelt an den Größeren klammern, der beruhigend seinen Rücken streichelte. Chris fühlte sich als ob Rico ihn aus einem Abgrund gezogen hätte. Wie damals, als er ihm seine Lebensgeschichte dargelegt hatte. Er war also nicht verflucht und konnte sein Leben weiterführen? War er tatsächlich durch das Schicksal immer an depressionsanfällige Menschen geraten? Das könnte sogar gut sein. Als er sich wieder halbwegs gefangen hatte konnte er Rico endlich wieder ansehen und sogar etwas lächeln, als er den immer noch besorgten Gesichtsausdruck entdeckte. Die lodernde Wut war aus seinen schönen Augen gewichen und der sanfte, verständnisvolle Mann war wieder da. Der war Chris auch lieber, obwohl dieser Temperamentsausbruch eben seine Liebe fast noch gesteigert hatte. „So wütend hab ich dich ja noch nie erlebt“, brachte er schließlich hervor. „Hab ich dir Angst gemacht?“, fragte Rico und spielte mit einer Haarsträhne seines Freundes. „Ein bisschen. Aber du hattest ja Recht. Mich musste mal wieder jemand auf den Boden zurückholen. Danke, mein Schatz“, antwortete dieser lächelnd und gab ihm einen kleinen Kuss. Rico musste lachen, was ihm einen fragenden Blick einbrachte. „Da bist du ja wieder. Mein kleiner Chris. Nicht mehr dein loco Zwilling“, sagte er immer noch lachend. „Hm. Das war halt meine andere Seite. War das auch deine andere Seite eben?“, fragte der Kleine. Einen seiner Gedanken musste er nämlich noch unbedingt loswerden. „Oh, nein. Das ist nur so ein Teil, der nie rauskommt. Dass mich jemand so wütend macht, dass ich anfange Spanisch zu reden ist aber nicht wirklich selten“ Da, genau dadrauf wollte er hinaus. „Es hört sich übrigens verdammt sexy an, wenn du Spanisch redest. Und, falls es dir entfallen ist, das machst du nicht nur, wenn du wütend bist...“, sagte Chris mit einem frechen Grinsen. Rico antwortete mit dem gleichen Grinsen: „Ja~, das weiß ich“ Daraufhin beugte er sich etwas vor und fing an, Chris alle möglichen Anzüglichkeiten und Sauereien auf Spanisch ins Ohr zu flüstern. Chris seinerseits beugte sich zu seinem Ohr und wisperte: „Bring mir das bei!“ Rico konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und wäre fast vom Bett gefallen. Genau in diesem Moment kehrte Alex zurück. Chris sprang auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. „Es tut mir leid. Alles!“, sagte er zu seinem perplexen Bruder. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte dieser. „Rico hat mir ordentlich die Leviten gelesen... und versucht mir Spanisch beizubringen“, kam die gut gelaunte Antwort, die Rico wieder dazu veranlasste sich laut lachend auf das Bett zu werfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)