Tango von Terrormopf (Das Rosa Cama in Buenos Aires) ================================================================================ Kapitel 15: Der letzte Tanz --------------------------- Nun, nach langer, langer Zeit habe ich mein geplantes Ende total über den Haufen geworfen und dieses hier verfasst. Ich wollte mich entschuldigen, dass es doch so eine kitschige Aschenputtelgeschichte geworden ist; es war keine Absicht. Dennoch viel Spaß =) Langsam drang das fade Licht des Morgengrauens durch das kleine Fenster ein. Ließ die hohen Mauern dunkle Schatten werfen. Der muffige, faulige Geruch durchzog den ganzen Raum und hatte sich in den Mauern, dem Boden und allem festgesetzt. Kein Auge hatte sie in dieser Nacht zugetan. In diesem Kerker war es feucht und kalt und in einer Ecke tropfte es beständig. Ihre an die Wand geketteten Arme waren taub und als sie noch nicht taub gewesen waren, hatten sie geschmerzt. So hatte sie die Taubheit schon fast begrüßt und sie als angenehm empfunden. Auch ihre Beine fühlten sich nicht gut an; sie waren eingeschlafen und kribbelten unangenehm, aber sie hatte nicht den Elan etwas dagegen zu tun. Ihr Blick ging starr durch die Gitterstäbe und Wände des Kerkers. Sie dachte nur an ihn: Julio. Sein Gesicht schwebte vor ihrem geistigen Auge. Aber nun zierte kein sanftes Lächeln sein Gesicht; er blickte ihr entgegen, in den Augen die unendliche Enttäuschung, die er sicherlich verspürt hatte, als sie alles zunichte gemacht hatte. Käme sie doch wenigstens an Emilies Rosenkranz! Die Tränen auf ihren Wangen waren inzwischen versiegt und getrocknet; unangenehm spannte das Salz auf ihrer Haut. Die Wachen, die noch in der Nacht mit einem schmutzigen Grinsen auf den Lippen zu ihr gekommen waren, waren ihr egal, sie war es ja ohnehin gewöhnt, wie diese es so treffend formuliert hatten. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht etwas und stellte mit schmerzverzerrtem Gesicht fest, dass ihr doch mehr wehtat als nur Arme und Beine. Letztere zog sie nun dicht an den Körper, in der Hoffnung dadurch wieder etwas Wärme zu spüren. Doch vergebens. Die Kälte hatte sich tief in ihren Knochen festgesetzt. Allerdings bemerkte sie nun wie schmutzig das einst puderblaue Kleid geworden war. Was für eine Schande! Huren waren also tatsächlich immer dreckig, ganz gleich, was sie trugen. Und wenn man es ihnen auf den ersten Blick auch nicht ansah, so musste man also nur einige Zeit warten. Sie musste melancholisch über diese Tatsache lachen, doch auch das wurde gestraft durch den Husten, der sie Augenblicke später schüttelte. Die Schellen an ihren Händen hatten ihre Haut aufgescheuert und nach dieser Bewegung begannen ihre Handgelenke wieder zu schmerzen. Wenn doch wenigstens die Kälte nicht wäre! Ramón schritt ratlos in Julios Schlafgemach auf und ab, sein Bruder lag im Bett. Er konnte es nicht fassen. Und für Julio war es schon zu allgegenwärtig. Am Ende der nächsten Woche würde sie hängen. Sie, seine geliebte Carmen. Sie, die als Einzige je sein Herz besessen hatte. Und was konnte er tun? Nichts! Nicht einmal sterben konnte er mit ihr. Nein, eher würde ihn sein Vater splitterfasernackt in einen leeren Raum sperren lassen. Das war die Strafe dafür, dass er mit einer Hure die Liebe gefunden hatte. Über Ramóns Vorschläge konnte er noch nicht einmal mehr müde lächeln. Er redete stets davon das Gefängnis zu stürmen, um sie zu befreien, doch war das sowohl dumm – eine seine Spinnereien eben – als auch unmöglich. Das Gefängnis wurde gut bewacht und zu zweit… Ha, schon in Gedanken sah er sich und seinen Bruder fallen. Ihm selbst hätte es nichts ausgemacht, aber sein Bruder hatte nichts damit zu tun; er sollte nicht für Julios Fehler büßen. Ach! Fehler nannte er es nun schon selbst! Es war zum Verzweifeln. Er wünschte sich allein zu sein, wollte in seiner Melancholie, seiner bodenlosen Traurigkeit versinken. Aber er traute sich nicht den wild gestikulierenden und pausenlos sprechenden Ramón hinauszuwerfen; er fürchtete sich vor dem vorwurfsvollen Blick. So seufzte er lediglich und drehte sich auf die andere Seite. „Julio!“ Erst als Ramón das dritte Mal seinen Namen rief, rührte er sich und brummte: „Was ist?“ „Ich habe dich nun schon vier Mal gefragt, was du essen möchtest.“ Er schien genervt – von Julios scheinbarer Gleichgültigkeit. „Und ich sage dir nun schon mindesten das vierte Mal, dass ich nichts essen mag.“ Sein Bruder konnte ja nicht wissen, dass er am liebsten geheult hätte wie ein kleiner Junge, der sich das Knie aufgeschürft hatte und auf die tröstende Hand der Mutter wartete. Er spürte den anklagenden Blick im Nacken und vernahm wieder Ramóns vorwurfsvolle Stimme: „Aber du musst etwas essen! Auf was hast du Appetit? Ich rufe den Sklaven und lasse es holen…“ „Zum Teufel, Ramón! Ich kann jetzt nichts essen! Wie könnte ich auch nur an so etwas Triviales wie Essen denken, wenn sie doch im Gefängnis sitzt und nur auf ihre Hinrichtung wartet.“ Er war wütend und aufbrausend geworden und hatte sich aufgesetzt. Im ersten Moment schien Ramón erstaunt, doch dann klarte seine Miene auf. Er kam eine Schritt auf Julio zu und begann erneut inbrünstig: „Ja! Und genau deswegen musst du etwas essen, damit wir sie befreien…“ „So hör doch auf, Ramón! Ich kann es nicht mehr hören. Was können wir denn ausrichten? Und weswegen überhaupt ‚wir’? Hier geht es nicht um uns beide; es geht nur um mich und um Carmen und Vater und die Gesellschaft! In dieser Angelegenheit gibt es kein ‚Wir’, denn wann hättest du dich denn schon jemals um die Gesellschaft geschert? Dein Ruf ist ruiniert seit deinem vierzehnten Lebensjahr. Du weißt doch gar nicht um was es hier geht!“ Mit offenem Mund starrte Ramón ihn an. Es war einer dieser seltenen Momente in denen er wahrhaftig sprachlos war. Und schon in der Sekunde in der Julio das letzte Wort von den Lippen geglitten war, bereute er seine Sätze. Wäre er doch bloß still geblieben! Die Bestürzung in Ramóns Blick versetzte Julio einen erneuten Stich in seinem Herzen. Und als Ramón sich, wortlos und mit unergründlichem Blick, umdrehte, da wurde ihm schlecht. Es war ihm, als wären dies die letzten Worte gewesen, die er jemals mit seinem Bruder wechseln würde. Hastig schlug er die Decke beiseite und beugte sich über den Rand des Bettes. Am liebsten wäre er tot. Nicht die Qual des Strebens über sich ergehen lassen; einfach nur in den angenehm nüchternen Zustand des Todes gleiten. Das war sein einziger Gedanke; die Flucht. Er wollte nichts als davonlaufen vor all dieser Last, die drohte sein Rückgrat zu zersplittern. Ramón war nicht gegangen und nun war Julio unendlich dankbar für dieses stumme Geleit. Es war nicht wie früher bei den Kutschfahrten während denen Julio sich regelmäßig übergeben hatte müssen und Ramón nicht Besseres in den Sinn gekommen war, als ihn auszulachen. Nun stand er angenehm schweigend bei ihm, die Hände in den Hosentaschen. Er sah zu seinem Bruder auf und sah dessen Blick auf sich ruhen, aber er fühlte sich nicht beobachtet, nicht angestarrt, es war eine Art Beistand und nun bedurfte es keiner Worte mehr, nun reichte Ramóns Anwesenheit, dass sein Magen sich beruhigte und er sich wieder zurücklehnen und zudecken konnte. „Ich rufe einen Diener“, sagte Ramón ruhig und ließ seinen Worten Taten folgen. Der Sklave verrichtete wortlos seine Aufgabe und verließ dann wieder, das Haupt demütig und tief geneigt, den Raum. „Ich danke dir Ramón“, flüsterte Julio, nicht im Stande etwas anderes herauszubringen. Ramón dagegen stand lässig gegen einen Bettpfosten gelehnt, lächelte und nickte. Seit zwei Tagen war sie nun in einem anderen Verließ. Ihre Hände waren nicht mehr angekettet und in der kleinen Zelle mit den hohen Mauern und der doppelt verriegelten Eisentür konnte sie sich frei bewegen. Sie hatte sogar eine alte, muffige Decke, die sie sich um die Schultern schlingen konnte. Die hatte zwar den einen oder anderen Flicken, aber es war doch besser als in dem Loch in dem sie zuvor gewesen war. Und sie kam endlich an den Rosenkranz ran. Besuchen kam sie niemand und sie hatte keinen Kontakt zu anderen Menschen, nicht einmal zu den Wachen; die schoben ihr Essen nur ein Mal täglich durch einen dafür vorgesehenen Schlitz, der sonst ebenfalls verriegelt war. Oh, Hoffnung hatte sie keine. Woher hätte sie die auch nehmen können? Es hieß zwar, dass man nur in verzweifelten Momenten Hoffnung haben konnte, aber diese Situation war wohl zu verzweifelt und sie hatte endlich begonnen rational zu sehen. Kein Ritter in strahlender Rüstung auf seinem Schimmel würde kommen und sie retten wie die holden Jungfern in den Märchen. Sie war schließlich weder hold, noch eine Jungfer. Also konnte sie eine solche Art der Rettung vergessen und wer sonst hätte sie retten können? Julio ganz sicher nicht und sie machte ihm keinen Vorwurf. Sie wusste, dass er sie über die Maßen liebte und das zu wissen genügte ihr, um dem Tod ruhig gegenüber zu stehen. Und vielleicht würde sie ihn bei ihrer Hinrichtung sehen, ein letztes Mal würde sie ihm in die Augen sehen können, sich von ihm verabschieden. Oh, welch eine wunderbare Vorstellung das doch war! Sie hatte wirklich keine Angst mehr, sie war vollkommen im Einklang mit sich selbst und mit dem Herrn, ihr konnte nichts geschehen. „Julio mein Liebster, du bist ganz blass!“ Er konnte diese Stimme nicht ertragen, war auf den Balkon geflüchtet, als er das Rascheln ihres Kleides vor seiner Tür vernommen hatte, doch Esperanza war ihm gefolgt und hatte nun eine Hand an seine Wange gelegt, musterte ihn besorgt. „Lass mich in Frieden.“ Ja, er wollte abweisend wirken. Er wollte ihr nicht noch mehr falsche Hoffnungen machen. „Julio, so sieh den Tatsachen doch ins Auge: Diese Hure ist in vier Tagen tot. Eine Zukunft mit ihr hättest du ohnehin nie gehabt, also lass dich doch endlich auf mich ein, ich liebe dich wirklich und mich musst du nicht mit anderen Männern teilen, mich kannst du jedermann stolz präsentieren. Ich werde alles tun was du verlangst. Aber bitte sei nicht so abweisend.“ Sie hatte seine Hand erfasst und sah ihm in die Augen, doch er konnte dem flehenden Blick nicht standhalten, sondern sah weg. Über die Dächer der Stadt aufs Meer, hinter dem die blutrote Sonne versank. „So sprich doch mit mir!“, schluchzte sie. Sie war auf die Knie gesunken und klammerte sich an seiner Hand fest, schmiegte ihre Wange an diese. Er spürte Tränen seine Haut benetzen, doch er war nicht bereit auf ihre Verzweiflung einzugehen, sie ging schließlich auch nicht auf seine eigene ein. „Nun sei doch nicht so kaltschnäuzig deinem armen Liebchen gegenüber, mein bester Julio. Es rührt einem ja wahrlich das Herz, wie sie da im Schmutz vor dir kauert und um deine Liebe fleht.“ „Sei still, Ramón“, murmelte er und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Bruder, der unbemerkt in die Szene geschlichen war und nun über dem Geländer lehnte und ebenfalls den Sonnenuntergang betrachtete. „Ich habe in meinem Herzen nur die Liebe für eine Frau und das ist Carmen.“ „Ich weiß, Julio, ich weiß. Aber dennoch behandelst du Esperanza nicht recht. Das arme Wesen kann nichts dafür sich in dich verliebt zu haben und kommt nun auch schlecht davon, nur weil du nicht nach den Regeln gespielt hast.“ Seine Stimme klang gleichgültig und nüchtern und Julio musste den Tadel erst einmal verdauen. Die Bedeutung der Worte drangen nur langsam zu ihm und als er sie endlich erkannte entriss er der daraufhin leicht wimmernden Esperanza seine Hand und machte wild gestikulierend einige Schritte auf Ramón zu, während er aufbrauste: „Was willst du damit sagen? Verdammt, Ramón! Wie oft hast du nicht nach den Regeln gespielt? Wie oft warst du bei den Huren? Du hast nicht das Recht mir einen Vorwurf zu machen!“ „Du missverstehst mich, Julio.“ Ramón sah auf seinen schnaufenden Bruder, der ihn zornig anfunkelte. „Ich spielte stets nach den Regeln.“ „Du hast nach den Regeln gespielt? Willst du mich… Ich glaub es nicht! Wie kannst du nur so arrogant…“ Ramón jedoch unterbrach ihn ruppig: „Lass mich ausreden! Du verstehst gar nichts! Wahrhaftig! Natürlich besuchte ich die Hurenhäuser und das öfter als du und ich verführte mit Sicherheit mehr Frauen als du es je tun wirst. Aber ich hielt mich an die Spielregeln. Ich verliebte mich nie und ließ es auch nie zu, dass sich eine Frau in mich verliebte und geschah es doch, so stieß ich ihr so schnell als möglich vor den Kopf. Aber du! Du hast dich in Carmen verliebt und sie in dich verliebt gemacht. Es konnte nicht gut gehen, die Beziehung war zum Scheitern verurteilt; und du hättest es rechtzeitig sehen müssen! Aber anstatt es zu beenden hast du das Feuer der Liebe in ihrer Brust nur weiter und weiter angefacht! Und nun kam es, wie es dir jedermann prophezeit hätte. Aber anstatt alles zu tun, so sinnlos es auch zu sein scheint, zu versuchen sie vor dem Tode zu bewahren, tust du nichts. Du sitzt hier, verletzt das arme Mädchen hier zu unseren Füßen und lässt Carmen im Stich. Sicher sitzt sie im Gefängnis, bangt und zittert und wartet auf ein Zeichen von dir, auf irgendetwas, das ihr Trost spendet, wenn sie schon den Galgen vor Augen hat. Und du tust nichts.“ Er endete mit der gleichen Stimmlage in der er begonnen hatte. Julio war sprachlos. Noch nie hatte er einen solch nüchternen Ernst in Ramóns Stimme vernommen und noch nie hatte Ramón so mit ihm gesprochen. Aber er hatte Recht und im ersten Moment waren Julios Sinne wie benebelt. Erst kurze Zeit später kehrten sie zurück und er konnte Esperanza hinter sich unterdrückt schluchzen hören. Hatte er sie wirklich so sehr verletzt? Sie sagte ihm, sie liebe ihn. Wenn sie ihn nur annäherungsweise so liebte, wie er Carmen, dann musste ihre Liebe wahrhaft groß sein. Langsam wandte er sich zu ihr um und sah sie an. Sie kauerte auf dem Stein, die Stirn im Dreck, nur die Hände noch vor dem Rest des Gesichts; ihr Körper bebte. Vorsichte kniete er sich zu ihr hinunter und legte wie benommen eine Hand auf ihren Rücken. Wie Recht Ramón hatte! Er hatte nicht das Recht dieses Mädchen so sehr zu verletzen. Er half ihr auf, wischte ihr die Tränen von den Wangen, lächelte ihr zu und half ihr hinein, wo sie sich auf einem der Sessel niederließ. Er setzte sich ihr gegenüber und hielt ihre Hand, bis ihre Tränen endgültig versiegt waren. Sie sprachen kein Wort, aber Julio nahm sich vor, dass wenn er sie auch nicht lieben konnte, er ihr zu einem guten Kamerad wurde und seine Pflichten erfüllen würde. Und sie wusste anscheinend was er dachte, denn als er sich erhob, lächelte sie ihm schwach zu und sah ihm nach, wie er wieder nach draußen zu Ramón ging. „Oh, was hab ich Lust auf Wein und Rum und ein richtiges Saufgelage, mit zwanzig Weibern und Eine hübscher als die Andere! Ach, das wäre ein Genuss!“ Nun war Ramón also wieder ganz der Alte, lehnte gelassen an der Brüstung, lehnte den Kopf in den Nacken und schwelgte in seinen Gedanken. „Du bist ein solcher Querschläger“, lächelte Julio und Ramón grinste: „Solange ich Frauen und Alkohol haben kann, ist mir alle weitere egal!“ Ramón war also doch immer noch der einfach gestrickte Typ, denn Julio seit einundzwanzig Jahren kannte und er bedauerte, dass er ihn bald für lange Zeit nicht mehr sehen konnte. „Meinst du in Europa gibt es auch Weiber und Alkohol?“, seufzte der Blonde schließlich und Julio klopfte ihm gegen die Wange und lachte: „Aber gewiss doch, mein Lieber, mach dir darum nur keine Sorgen.“ Der Tag der Hinrichtung rückte unweigerlich näher. Carmen brachte nahezu den ganzen Tag mit Singen und Beten zu. Sie hatte nichts Anderes. Angst machte ihr der Tod nicht wirklich, aber ein mulmiges Gefühl hatte sie dennoch im Bauch, wenn sie daran dachte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen dabei Julio und Emilie alleine zurück zu lassen. Sie war gerade in einen der kirchlichen Gesänge vertieft, da öffnete sich die Tür und sie schrak auf, als sie hörte, wie die schwere Eisentür aufgeschoben wurde. Verwirrt sah sie zum Eingang und erkannte dort einen sehr jungen Mann, eher noch ein Junge, stehen. Er trug eine offizielle Uniform und sie erkannte wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte. Er sah sich noch einmal auf dem Gang um, dann lehnte er die Tür an, so dass es aussah, als sei sie wieder geschlossen. „Was wollen Sie?“, fragte Carmen etwas verwirrt. Der Junge räusperte sich jedoch lediglich und erklärte leise: „Ich habe einen Brief vom Prinzen Julio. Er bat mich persönlich ihn dir vorzutragen, da du nicht lesen kannst.“ „Ein Brief? Von Julio? Oh, schnell, schnell! Lies ihn mir vor! Ich kann es nicht erwarten zu hören, was er mir schreibt!“ Sie war auf ihn zugekommen und strahlte ihn förmlich an. „Nun“, er räusperte sich erneut und entfaltete ein Blatt Papier, das er in seiner Westentasche bewahrt hatte. „Ich lese dir einfach vor, was hier steht.“ Sie nickte begierig. „’Meine liebste Carmen.’“ Sein flüchtiger Blick zu ihr entging ihr keinesfalls, aber es störte sie nicht, sollte doch die ganze Welt erfahren, dass sie ihn liebte, es war ihr egal! „ ‚Ich vermisse dich! Oh, ich kann mein Verlangen nach dir gar nicht in Worte fassen. Meine geliebte Carmen, wärst du doch bei mir! Ich würde dich in meine Arme schließen und dich nie wieder loslassen! Es tut mir so unendlich leid, dass du nun nur durch mich all das erfahren musst. Wie sehr wünsche ich, du hättest mich niemals getroffen; wir hätten niemals miteinander getanzt. Nie hätte ich von dir verlangen dürfen was ich von dir verlangte und nie hätte ich zulassen dürfen, dass unsere Liebe keimte und Wurzeln schlug. Aber dennoch muss ich gestehen, dass ich niemals etwas so Starkes und Wunderbares gefühlt habe und ich bereue keine einzige Sekunde, die ich mit dir zubrachte! Ich liebe dich so sehr, dass es mich krank macht! Oh Carmen, ich muss einen Weg finden dich zu befreien. Ich kann nicht leben, wenn ich weiß, dass ich dich umbrachte. Ach Carmen. Könnte ich dich nur in meine Arme schließen, dich trösten, deine Tränen wegküssen und dich nie wieder loslassen! Doch leider kann ich das nicht, aber sei dir gewiss, dass ich dich befreien werde. Ängstige dich nicht! In Liebe, dein Julio.’“ Der Mann, der ihr den Brief vorgelesen hatte, schwieg nun und schien es nicht zu wagen ihr in die Augen zu sehen. Er war wirklich noch sehr jung, wusste nicht, was zu tun oder zu sagen war. Carmen hatte jedes Wort in sich aufgesaugt wie ein Schwamm und während der Junge ihr den Brief vorgelesen hatte, so sehr er auch gestottert und gestockt hatte, war es ihr vorgekommen, als spräche Julio zu ihr. Nur langsam fand sie in die Realität zurück und fand sich weinend wieder. „Wein doch nicht!“, ergriff nun die Wache wieder das Wort. „Er schreibt dir doch, dass er dich liebt und dich befreien will!“ Er schien kurz davor ihr über die Wange zu streicheln, doch als er sie nur schier berührte, zuckte er zurück. Sie allerdings warf sich ihm gegen die Brust und schluchzte: „Aber man wird ihn umbringen, wenn er versucht mich zu befreien! Er darf es nicht versuchen!“ Sein Körper verkrampfte sich, als sie ihm so nahe kam und als sie es wahrnahm, löste sie sich wieder von ihm, trocknete ihre Tränen, lächelte und sagte: „Verzeihen Sie mir, ich war nur für den Moment von meinen Gefühlen überwältigt.“ „Aber dann schreib ihm doch zurück! Ich bringe ihm den Brief, wirklich!“, drängte er sie, doch sie wandte das Angesicht von ihm ab und seufzte: „Nun, der Haken an der Sache ist, dass ich nicht schreiben kann.“ „Aber ich kann es! Diktier mir einen Brief! Er wird zwar nicht so fein säuberlich aussehen und sicher einige Rechtschreibfehler enthalten, aber schreiben kann ich doch!“ Sie drehte sich wieder zu ihm um und lächelte dankbar. „Du bist ein guter Junge.“ Es war als spräche sie mit einem Sohn, der sie auf den Markt begleitete, um ihren Korb zu tragen. Und seine Wangen glühten vor Stolz. „Mein geliebter Julio! Oh wie ich mich freute deinen Brief zu lesen. Es tat mir so unendlich gut von dir zu hören. Und glaube mir, ich liebe dich mindestens eben so sehr wie du mich. Dieses Gefühl ist so stark, dass es nicht in Worte zu fassen ist. Aber hüte dich davor eine Dummheit zu begehen. Stürze dich nicht ins Verderben indem du versuchst mich zu retten! Ich würde es nicht ertragen. Bleib zu Hause. Heirate Esperanza. Tue, was du getan hättest, hättest du mich nie gekannt; hättest du mich nie geliebt. Mein einziger Wunsch ist es, noch einmal in dein Gesicht zu sehen, bevor ich hänge. Also bitte komm zu meiner Hinrichtung. In ewiger Liebe, deine Carmen.“ „Oh Gott!“, stöhnte Julio und lehnte sich zurück in die Kissen. „Wie kann sie nur so selbstsüchtig sein? Wie kann sie nur von mir verlangen sie zu vergessen und ihren Tod mit anzusehen? Kann sie denn nicht verlangen, dass ich sie befreie?“ Nun wandte er das Gesicht dem Jungen in der Uniform zu und fragte: „Bist du dir sicher, dass du alles genau so aufgeschrieben hast, wie sie es gesagt hat, Bursche?“ Der Junge nickte und schien etwas sagen zu wollen, doch schien er zu eingeschüchtert zu sein. So seufzte Julio: „Sprich nur. Erzähl mir, was dir auf der Seele liegt, Junge.“ „Ich will Euch bitten ihren Wunsch zu erfüllen. Dieser Brief entspricht ihrem letzten Willen und sie war sich vollkommen im Klaren darüber, was sie mir diktierte. Und sorgt Euch nicht, ihr werdet sie nicht entstellt vorfinden, ich werde ihr Wasser bringen, damit sie sich waschen kann und ihr Chemise ins Waschhaus bringen. Aber bitte kommt und gebt ihr die Kraft ihr Schicksal zu tragen. Sie ist so stark, aber darum bittet sie Euch, also lasst sie nicht im Stich.“ Sie im Stich lassen. Er verwendete die gleichen Worte wie Ramón. Julio kramte etwas Geld hervor, ging damit zu dem Jungen, dessen Wangen begannen zu glühen, drückte diesem die Münzen in die Hand und sagte: „Bezahle davon das Waschhaus und behalte den Rest, sieh es als Bezahlung für deine Dienste.“ Erst sah der Junge ihm starr in die Augen, als fürchtete er sich, dann sah er auf seine Hand, in der die Münzen lagen und seine Wangen wurden noch röter. „Aber das kann ich nicht…“ „Guten Abend“, ließ Julio vernehmen und wandte ihm den Rücken zu. „Guten Abend“, erwiderte er artig den Gruß und Julio hörte, wie er schnellen Schrittes davoneilte. „Was war denn das für ein Jungspund, Julio? Sag mir nicht, dass du nun auf Lustknaben umsteigst!“, vernahm er Ramóns schallende, leicht angetrunkene Stimme. „Er brachte mir die Antwort Carmens.“ Er hatte sich eine Zigarre angezündet und drehte sie unruhig zwischen seinen Fingern, starrte gedankenverloren in die Dunkelheit, die außerhalb seiner Fenster lag. „Und was schreibt sie?“ Seine Stimme klang ungeduldig und er setzte sich neben Julio, nahm diesem die Zigarre aus der Hand und nahm selbst einen Zug. Doch statt einer Antwort gab ihm Julio einfach nur den Zettel mit der unsauberen Handschrift des Jungen. Ramón überflog die Zeilen, legte den Zettel dann auf den Tisch, lehnte sich zurück und seufzte. „Das sieht dem Frauenzimmer ähnlich. Was wirst du tun?“ „Was sie von mir verlangt.“ „Aber…“ „Sei endlich still, Ramón! Wenn sie stirbt, hat sie es endlich hinter sich. Dann kann ihr nichts mehr geschehen! Nichts, verstehst du? Und nun hör endlich auf mich belehren zu wollen! Ich werde tun, was sie von mir verlangt!“ Er ballte die Hände zu Fäusten und starrte nun auf das Parkett zwischen seinen Füßen. Der Tag war gekommen und Julio saß mit seinen Eltern und Esperanza an seiner Seite auf der Ehrentribüne. Von hier aus hatten sie eine wunderbare Sicht auf den Galgen, um den sich der Pöbel in freudiger Erwartung der Hinrichtung versammelt hatte. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt, doch nur von fern hörte man Donnergrollen. Die schwüle Luft drückte auf Julios Gemüt und er vermisste eine Brise, die kühle Luft mit sich brachte. Doch die Luft stand regelrecht und schien zum Zerschneiden dick zu sein. Das Atmen fiel ihm schwer. Eine Anspannung lag über dem Platz. Die Erwartung des Gewitters, des Sturms, vor dem die Blätter an den Bäumen leicht zitterten. Ramón war nicht auf der Tribüne. Er hatte niemandem gesagt, was er vorhatte, nicht einmal seinem Bruder. Der überflog mit seinen Blicken immer wieder die Masse und schließlich sah er ihn. Von seinem Arm gestützt stand bei ihm die Hure, mit der Carmen oft zusammen gewesen war. Diese Französin, von der Ramón so zu schwärmen gepflegt hatte. Sie schien sich nicht selbst auf den Beinen halten zu können und ließ sich von Ramón halten. Ihre Gesichter wirkten kalkweiß und sahen unwirklich aus in der Masse: Sie wirkten wie Geister. Doch Julio kam nicht dazu weiter darüber nachzudenken, denn nun setzten Trommel und Fanfaren ein. Sie hörte die militärischen Klänge und vernahm, wie die Stimmen, die vom Platz gekommen waren, verstummten. Tief atmete sie durch und schloss die Augen. Sie war dem Jungen so unendlich dankbar dafür gewesen, dass er ihr Wasser zum Waschen gebracht hatte und ihr Chemise ins Waschhaus gebracht hatte. So fühlte sie sich wenigstens nicht ganz so schäbig. Und dass sie das elende puderblaue Kleid nicht mehr tragen musste, war ihr nur recht. Darin wollte sie nicht sterben. Der Junge hatte ihr versichert, dass Julio kommen würde und sie vertraute ihm blind. Es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Langsam wurde sie, an den Händen gefesselt, auf den Platz geführt und die Menge teilte sich vor ihr und den Wachen. Als sie den Blick vom Boden zum Galgen hob, überkam sie doch ein Schauer, besonders als sie den Schafsrichter mit der Maske über dem Haupt erkannte. Weiter, immer weiter gingen sie. Die schwüle, schwere Luft schien sie zu Boden drücken zu wollen, doch sie ging mit geneigtem Haupt weiter. Nun wurde sie die Treppen hinaufgeführt. Und als sie oben ankamen, musste sie sich neben den Schafsrichter, unter das Seil stellen. Der legte ihr die Schlaufe um den schlanken Hals und in dem Moment setzten die Trommel und die Fanfaren aus, damit ihre Anklage vorgetragen werden konnte. Endlich kam Wind auf und damit begann es zu regnen, nur leicht, aber die Tropfen kamen ungewöhnlich hart auf Julios Haut auf. Er war aufgestanden und sah auf seine Carmen. Sie stand da, den Blick gen Himmel, als würde sie beten. Und Julio war sich sicher, dass sie noch nie schöner ausgesehen hatte. In dem weißen Chemise wirkte sie wie ein Engel, ihr Haar wellte und kräuselte sich in dem Nieselregen und ihre Wangen und Lippen traten blutrot hervor wie der schwere Samt der alten Kleider. Und dann sah sie zu ihm. Sie erkannte ihn, der da auf der Tribüne stand, gebannt auf sie starrte, nicht wusste, was geschah. Und sie lächelte ihm zu. Und da erkannte er, dass sie ihr Schicksal angenommen hatte, dass sie sich von ihm verabschieden hatte wollen und dass sie ihn wirklich liebte; dass sie ihn so sehr liebte, dass sie ihm wünschte eine andere Frau zu lieben, sich nur wünschte, dass er glücklich war. Und in ihrem Lächeln lag die Erkenntnis. Die Erkenntnis, was ewige Liebe war. Dann fiel sie. Julio musste sich setzen. Er konnte kaum etwas sehen, alles verschwamm vor seinen Augen und er hörte nicht mehr, was um ihn herum geschah. Er sah sie noch immer lächelnd vor sich stehen. Dieses engelsgleiche Geschöpf, das so vollkommen unschuldig ausgesehen hatte. Und schließlich wandte er suchend den Blick zu Ramón. Er fand ihn und nun war die Freundin Carmens weinend in seinen Armen zusammengebrochen. Ramón stützte sie, küsste sie aufs Haupt und schien auf sie einzureden, sie beruhigen zu wollen und da sah er zu ihm auf und ihre Blicke trafen sich. Nun war es vorbei. Nun war alles vorbei. Und Carmen war tot. Ich danke euch allen für's Lesen! Wenn jemand eine ENS möchte, wenn es mit Ramón weitergeht, dann sagt mir bescheid. Ihr wart tolle Leser! LG, Terrormopf =) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)