Christmas Eve von KaChan ================================================================================ Kapitel 5: ----------- 5 „Aichi? Alles in Ordnung?“ Schon wieder höre ich Kiras Stimme. Ich antworte nicht. Aus Angst, dass meine Stimme versagt. Aus Angst, sie könnte meine Verzweiflung hören. Aus Angst, ich könnte ihr alles erzählen. Mein Schweigen scheint sie zu verunsichern. Ich spüre, dass sich ihre Hand aus die Türe legt. Ihre leicht erschütterte Stimme klingt in meinen Ohren: „Was ist denn los? Irgendetwas ist doch mit dir... Bitte, sag mir, was los ist, ich mache mir richtig Sorgen um dich.“ Ihre Stimme tut mir gut. In letzter Zeit will ich sie immer öfter hören. Das macht mich ganz krank. Ihre Worte habe ich schon wieder fast vergessen. Nur ihre Stimme hallt in meinen Gedanken wider. Komisch, und schon ist der ganze Schmerz, alles, was gerade noch so verletzend auf mich wirkte, verschwunden. „Geh weg, ich will niemanden sehen“, murmel ich ihre mich schwacher Stimme entgegen. „Aber du siehst mich doch gar nicht.“ Da hat sie recht. Ich kann sie nicht sehen. Aber ich will sie sehen. Ich bin doch total krank. Wieso will ich sie denn immer sehen? Wieso schmerzt mein Herz denn so, wenn ich sie mal nicht sehe? Ich versteh die Welt nicht mehr. Erneut dringen ihre Worte durch die Tür. „Aichi ..... bitte ..... lass mich rein .....“ Ich bin zu schwach, um ihr zu wiedersprechen. Schließlich krabbel ich von der Tür weg. Und spüre, wie sich die Tür öffnet. Und ich höre Schritte. Leise Schritte. Zart Schritte. Die Schritte meiner Schwester. Ich spüre ihre Hand. Wie sie sich auf meine Schulter legt. Sofort brennt meine Haut an der Stelle, an der sie mich berührt. Wieso bin ich nur so schwach? Wieso kann ich ihr nicht verheimlichen, dass ich schwach bin? Ich bin doch ihr großer Bruder! Darf ich auch schwach sein? Verzeiht sie es mir, wenn ich auch mal schwach bin? Was, wenn sie über meine Tränen lacht? Würde sie das tun? Würde Kira mich auslachen? Ich habe Angst davor. Zitternd drehe ich mich um. Innerlich muss ich lachen. Wie erbärmlich ich aussehen muss. Total verheult. Wie ein kleines Kind. Nein, wie peinlich. Ob sie über mich lachen wird? Bestimmt. Wenn sie mich so sieht, garantiert. Ich habe Angst, dass ihre süße Stimme dann mit Gehässigkeiten gefüllt ist. Sie über mich lacht. Sie sich über mich lustig macht. Genau, davor habe ich Angst. Aber ich kann meine Tränen auch nicht zurückhalten. Wenigsten sie sollte ich doch bremsen können, um nicht ganz so mickrig dazustehen. Aber ich schaffe es nicht. Ich bin wirklich zu schwach. Zu schwach, das bisschen Wasser zu stoppen. Zu schwach, um nicht vor Kira zu weinen. Zu schwach, um schwach zu sein. „Bitte, sieh mich nicht an.“ Meine Stimme erklingt von ganz weit weg. Sie klingt so ..... verzweifelt. Bin ich verzweifelt? Ich kann es nicht genau sagen. Ich spüre nämlich gar nichts ... Aber Kira wendet sich nicht ab. Kira sieht mich immer noch an. Direkt in die Augen. Aber auch ich kann mich nicht wegdrehen. Wiedereinmal bin ich zu schwach. Es passiert etwas. Das Mädchen vor mir bewegt sich. Ich weiß nicht genau, was sie macht. Aber dann spüre ich ein erneutes Brennen auf meiner Haut. In meinem Gesicht. Auf meiner Wange. Ich spüre ihre Hand auf meiner feuchten Haut. Kira will mich trösten. Mitfühlend lächelt sie mich an. Mit ihrem unverwechselbaren Lächeln. Mit dieser Unschuld. Mit dieser Liebe. Die Tränen rinnen über ihre Hand. „Was ist los?“, flüstert ihre Stimme. „Was macht dich so fertig? ... Was bedrückt dich so?“ Ich liebe dich! Das macht mich krank! Das macht mich wahnsinnig! Die Worte formen sich auf meinen Lippen. Es ist, als würde man einen Stummfilm sehen. Der Hauptdarsteller spricht. Aber man hört nichts. Der Ton ist abgestellt. Einfach so. Ich bin stumm. Kann ihr doch nicht den wahren Grund meines Schmerzes sagen. Das würde mir das Herz zerreißen. Wenn sie sich dann von mir abwendet. Einfach geht. ‚Du bist ja pervers, dass du deine Schwester liebst’, würde sie sagen. Da bin ich mir sicher. Und genau davor habe ich Angst. Dass sie einfach geht. Davor habe ich riesigen Schiss. „Hey, du sagst ja gar nichts ... was hast du denn?“ Ausweichend drehe ich mein Gesicht zur Seite. „Es ist nichts. Glaub mir.“ „Das tue ich nicht! Dich bedrückt etwas!“ Die Härte der Worte trifft mich ziemlich stark. Solch eine Lautstärke bin ich von Kiras zarter Stimme nicht gewohnt. Aber diese Stimme ist es, die mich wieder aus meinem Selbstmitleid reißt. „Ich kann es dir nicht sagen, ok? Bitte ... quäle mich nicht mehr so. Ich kann es einfach nicht. Versteh das doch!“ So verzweifelt war ich noch nie. Ich will es dir ja sagen, aber dafür hasst du mich dann! Und das kann ich nicht verantworten. Wie könnte ich denn damit leben, dass mich meine kleine Schwester hassen würde? Ich würde eingehen. Das schwöre ich. Bei meinem Leben. Ein verzweifeltes Lächeln schleicht sich über das Gesicht meines Gegenübers. „Aber ... ich bin doch deine Schwester ....“ „Eben.“ Das war das traurigste, was ich jemand gesagt hab. Wie kann mir ein einziges „eben“ nur so wehtun? Wie geht so etwas? Das ist doch nur ein einfaches Wort. Unbedeutend, unnütz. Und doch so verletzend. Genau dieses Wort nimmt mir die letzte Kraft. Ich kann mich nicht wehren. Dieses letzte Wort laugt mich komplett aus. Als würde man einem Luftballon die Luft auslassen. Für Kinder ist das ein Leichtes. Hat aber schon jemals jemand an den Luftballon gedacht? Wie er sich wohl fühlt? Was er denkt? ‚So, die Luft ist raus. Jetzt braucht dich sowieso keiner mehr. Man spielt nicht mehr mit dir. Du bist nur noch nutzlos. Nimmt nur noch Platz weg. Und morgen landest du im Müll.’ Ja, so muss sich ein Luftballon fühlen. So fühle ich mich jetzt. Wie der nutzlose Luftballon. Wie dem nutzlosen Luftballon nahm man mir die Kraft. Wie der nutzlose Luftballon sacke ich in mich zusammen. Mein Kopf landet auf ihrer Schulter. Ich spüre es nicht. Ich will nichts mehr spüren. Wieso sollte ich auch? Dieses „eben“ hat doch alles gesagt. Alles, was ich fühle. Alles, was ich will. Alles, was ich nie bekommen werde. Ich kann jetzt genauso gut umfallen und nie wieder aufwachen. Eben. Das wäre das leichteste. Aber zunächst überkommt mich ein übernatürlicher Hitzeschwall. Kiras Stimme schallt von ganz weit weg zu mir herüber. „Aichi“, ruft sie. „Aichi!“ Immer wieder höre ich das. Immer wieder. Bis ich gar nichts mehr höre. Bis alles schwarz wird. Bis ich wirklich sterbe ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)