I'm your personal stalker von mathilda ================================================================================ Kapitel 2: Just wanna have my brother back ------------------------------------------ Die goldene Flüssigkeit zog funkelnde Kreise im Glas, als ich es sachte in meinen Händen drehte. Die Mittagssonne schaute durch Küchefenster herein und spielte mit den bernsteinfarbenen Schlieren, die durch den hochschwappenden Kognak entstanden waren. Ich muss sagen, dass eben Gesehene hatte mich geschockt. In der Vergangenheit hatte es mein Bruder nicht leicht. Er hatte seine Probleme damit, die Balance zwischen Außen- und Innensicht zu finden. In dem Versuch die Erwartungen der Außenwelt vollständig zu erfüllen, überging Tai den eigenen Wunsch nach Privatheit und Familie. Vielleicht war das der Grund, warum er und Yamato Ishida irgendwann den Kontakt zu einander verloren hatten. Ich glaube Matt, als Musiker und Bühnenmensch, und der ewig offene, ewig optimistische Tai hatten sich gegenseitig in ihrer Sucht nach Aufmerksamkeit und öffentlicher Anerkennung hochgeschaukelt. Matts Bühnenshows wurden jedes Schulfest ausgefallener und exzentrischer, während Tai begonnen hatte jede Party, jedes Treffen mit Freunden und natürlich auch den Fußballplatz als Bühne zu nutzen. Irgendwann war wohl der Zenit erreicht und der Absturz rammte Tai mit ungebremster Wucht in den Boden. Offenbar ging dabei auch die Freundschaft zu Matt in die Brüche. Von einem Tag auf den anderen kam Matt nicht mehr zum Essen. Man fand Matts Wäsche nicht mehr auf dem Extrastapel im Wäschekorb und es flogen keine Kissen mehr entgegen, wenn man Samstagmorgens die Zimmertür meines Bruders öffnete. Stattdessen musste ich erst das eine oder andere Mal dagegen laufen ehe ich begriff, dass Tai sein eigenes Reich ab jenem Zeitpunkt hütete, als wäre es das Bernsteinzimmer und enthielte mindestens den Schatz der vierzig Räuber. Bis in die frühen Morgenstunden konnte man das Gebläse seines Rechners surren und die Tastatur unter dem hastigen Gehämmer seiner Finger klackern hören. Ab und zu vernahm man das leise Klingen der Thermoskanne mit extrastarkem Kaffee, wenn Tai sie auf dem Tisch abstellte. Dad sagte, es wäre eine Phase der Pubertät und das würde sich normalisieren. Mum fragte, wann die Phase denn vorbei sei und Tai wieder schlafen würde. Denn Tais tägliche Aktivität hatte sich nicht im Geringsten gewandelt. Er brauchte die gleichen Noten, wie zuvor nach Hause, verbrachte die Nachmittage mit seinen Freunden und mauserte sich sogar zum Kapitän der Fußballmannschaft unserer Schule. Ich fragte mich Ähnliches, doch mir ging es eher darum, dass ich ihn als Bruder vermisste. Oft sah ich ihn wochenlang nicht, da er erst spätabends heimkehrte und sich gleich in seinem Zimmer verbarrikadierte. Was war nur aus dem Tai geworden, der mein Bruder war, mit mir blödelte und mir bei den Hausaufgaben half?! Was ließ ihn sich derart abkapseln?! Der Geruch von gegorenen Früchten stieg mir in die Nase, als ich sie tiefer in den Trinkkelch versenkte. Um mich herum herrschte ein Mordschaos. Tai würde es bis zum Abend aufgeräumt haben, dafür würde ich schon sorgen, dachte ich und leerte das Glas mit einem Zug. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich Kognak eigentlich überhaupt nicht mochte, ich schüttelte mich und stellte das Glas angewidert in die Spüle. Das Klingen des Glases auf dem Aluminiumboden des Waschbeckens würde übertönt von lautem Getrappel. Ehe ich begreifen konnte, dass es Matt gewesen war, der barfüßig aus dem Zimmer meines Bruders floh, rastete Wohnungstür mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss ein, der die Zargen noch sekundenlang schnarren ließ. Einen Moment lang tat ich gar nichts, dachte nichts, starrte nur in den leeren Flur. Doch schließlich konnte ich mich dazu aufraffen, mich soweit zusammen zu reißen, dass ich in Tais Zimmer gehen konnte. Mein Bruder saß splitterfasernackt und die Knie an die Brust gezogen auf dem Fußboden, hatte den Kopf in Nacken gelegt und den Mund weitgeöffnet. Um ihn herum lagen Kleidung, Sportsachen, Schulunterlagen und Bonbonpapiere seine Hände krallten sich so fest in seine Unterschenkel, dass die Fingerknochen weiß hervor traten. Er schien mich gar nicht wahr zu nehmen. Selbst als ich ihn anschrie, er solle doch irgendetwas sagen, reagierte er nicht. Er machte mir Angst. Und das ist der Grund, warum ich heute auf dem Besuchsstuhl in Tais Zimmer sitze. Die Möbel der Klinik sind weiß lackiert und irgendwie hat die ganze Atmosphäre etwas sehr Kaltes an sich, das im krassen Gegensatz zu Tais „kreativen Chaos“ im heimischen Zimmer steht. Tai sitzt auf der Bettkante, seine Haare sind millimeterkurz geschoren und seine sonst so golden braune Haut wirkt seltsam graustichig. „Schau nicht so, mir geht’s gut. Das ich anders aussehe liegt nur an den Tabletten.“ Die Augen meines Bruders zwinkern mir aus geschwollenen Lidern entgegen. Er wirkt so ruhig, doch ich habe gesehen, wie seine Hände zitterten, als der Pfleger mit dem Medikamentenwagen hereingefahren kam und ihm seine Portion reichte. „Beruhigungspillen.“ hatte Tai erklärt und zwei weiße, runde Dinger geschluckt „Stoffwechselmedikament.“ zählte er weiter auf und schob sich eine rote, rautenförmige Pastille in den Mund „Antidepressivum.“ beendete er seine Erklärung und beförderte die letzte Tablette, sie war maigrün, in seinen Schlund. Nun sitzt er hier. Entspannt, fast schon phlegmatisch. Er wirkt auf mich wie ein gebrechlicher, träger Mann, nicht als wäre er gerade neunzehn Jahre alt geworden. „Ich mache, dir keine Vorwürfe, Schwesterchen!“ sagt er schleppender Stimme und fährt sich etwas unkoordiniert über den Stoppelkopf. „Ich hätte genauso reagiert, ich….bin einfach verrückt.“ Seine Stimme klingt ungewohnt resigniert. Der Klos in meinem Hals wird in meinem Hals wurde immer größer. Was hatten diese Leute aus meinem energiegeladenen, starken großen Bruder gemacht? „Ich hatte einfach Angst in diesem Moment, Tai! Ich…wollte doch nur, dass die vom Notdienst dich irgendwie wieder zu Bewusstsein kriegen.“ Ich weiß, dass er weiß, dass ich mir nur schwer die Tränen verkneifen kann. Seine Hand streichelt etwas hilflos meinen Oberarm. „Es war richtig so. Die vielen Bilder, dass ständige Beobachten, mein seltsames Verhalten…es ist kein Wunder, dass du Angst hattest, dass Yama nichts mehr mit mir zutun haben wollte.“ Yama. Ich weiß nicht, wann er angefangen hat, Matt so zu nennen. Um ehrlich zu sein, weiß ich erst, seit Tai mehr oder minder freiwillig den Datenspeicher seines Rechners seinem behandelndem Psychiater zur Sichtung überlassen hatte, das ihn die zerbrochene Freundschaft zu Matt so eine hohe Bedeutung hatte. Fotos waren darauf. Hunderte, tausende von Fotos aus fast fünf Jahren der genauen Beobachtung. Alles war bildlich dokumentiert, ob es Matts neuer Ohrring oder die dritte Freundin innerhalb von wenigen Wochen. Tai hatte alles nach Datum, Tageszeit und Jahr geordnet und zusätzlich sorgte ein System was ich selber nicht ganz verstand dafür, dass er nach Thematik bestimmte Bilder gezielt suchen konnte. Wenn er also das Wort „Dusche“ eingab, so erschien ein Ordner mit circa hundert Bildern aus verschiedenen Jahren, die Matt unter der Dusche oder im Duschraum zeigten. Akribisch hatte Tai auch den genauen Hergang der Situation vermerkt, so dass es möglich war genau zu rekonstruieren, wie er zu den Bildern gekommen war. Ich hätte nie gedacht, dass mein chaotischer Bruder derart in der Lage war eine Ordnung aufzubauen und zu erhalten. Sowohl Mum als auch Dad waren höchst geschockt, als sie heimkamen und ich ihnen mitteilen musste, dass ihr Sohn in die geschlossene Anstalt eingeliefert wurde. Es hat gedauert, bis sie nicht mehr sauer auf mich waren, doch inzwischen hatten auch sie eingesehen, dass wir allein es nie geschafft hätte Tai aus seinem Loch zu holen. „Weißt du…“ reißt mich Tai aus meinem Grübeln und lächelt mich etwas verschwommen an. „Es fing alles eigentlich ganz harmlos an, Ich verstand einfach nicht warum jemand, der immer gerne mit mir zutun gehabt hatte, mich auf einmal keines Blickes mehr gewürdigt hat.“ Er steht auf und geht zum Fenster, um es auf Kipp zu stellen. Ganz öffnen kann er es nichts, des hat eine Sicherung, man befürchtet einer der Insassen könnten ein offenes Fenster zum Selbstmord nutzen. Auf einem Ast der Linde im Hof sitzt ein Vogel und trällert unbekümmert in den blauen Sommerhimmel. „Weil er nicht mit mir reden wollte, egal wie sehr ich mich bemühte, begann ich ihn zu beobachten.“ eine Stimme klingt seltsam teilnahmslos, als würde er davon erzählen, wie er sich ein Fischbrötchen kauft und nicht, wie seine Obsession, seine Krankheit, begonnen hatte. „Tja…irgendwann konnte ich nicht mehr aufhören. Er ist…wie meine Droge…ohne ihn, zittern mir die Hände, ich bekommen Schweißausbrüche…Entzugserscheinungen, Kari.“ Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll. Irgendwie wirkt dass alles so unwirklich, als würde ich träumen. Obwohl ich im Grunde schon seit meinem letzten Besuch bei Tai in der Klinik weiß, dass es ein Traum und kein Witz und kein schlechter Film ist. Es ist die Realität. „Du solltest gehen, die Besuchszeit ist um und der Typ von Zimmer Sechsundvierzig kriegt kurz Verschluss immer Schreikrämpfe, wenn seine Mutter gehen muss.“ Tais Körper strafft sich etwas, als er aufsteht. Er begleitet mich bis zu Tür seiner Abteilung legt mir einen Arm um die Schulter. Ein bisschen wirkt er wieder wie mein starker, großer Bruder. Ich lehne mich gegen seinen Seite, spüre wie klein ich bin neben ihm und gebe mich einen Moment der Illusion hin, es wäre wieder alles, wie es war. Doch dann sehe ich die große Panzerglastür und die beiden großen Männer in den blauen Uniformen, welche davor Wache halten und ich weiß, dass es nicht wahr ist. Sie lassen mich raus und ich meinen Bruder zurück. Er steht in seinen labbrigen Jogginganzug da und winkt, versucht zu lachen. Es ist unfair, dass er selbst jetzt noch versucht den strahlenden Sunnyboy zu spielen, wo ich doch nun weiß, dass es in ihm anders aussieht. Trotzdem lächle ich ebenfalls und winke, ehe ich schnell gehe. Ich will es uns nicht noch schwerer machen, als es ohnehin ist. Ich wollte, dass mein Bruder wieder so wurde, wie ich ihn kannte und liebte und nun ist er ganz weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)