Herr der Diebe II von Komorebi (Rückkehr der Jugend) ================================================================================ Kapitel 1: Die Rückkehr ----------------------- Kapitel 1: Die Rückkehr Es war kalt. Lausig kalt. Die Stadt des Mondes war komplett mit Schnee überdeckt, als wäre eine riesige Puderdose direkt über ihr explodiert, um die Erinnerungen des vergangenen Sommers auszulöschen und den Beginn des Winters einzuläuten. Dennoch drängten sich die Leute auf den Straßen, sie schubsten und schoben und liefen mit vollbepackten Einkaufstüten herum, die letzten Drückeberger im Weihnachtsstress. Ein junger Mann schob sich geschickt an ihnen vorbei, den Hut tief ins Gesicht gezogen, den Blick am Boden, als wolle er verhindern, dass jemand sein Gesicht sah. Ein halbes Jahr war es nun her, dass Victor sich letztendlich doch bereit erklärt hatte, den Namen des jungen Mannes auf dem Türschild unter seinen eigenen zu setzen und ihn damit offiziell zu seinem Assistenten machte. Vor einem Jahr war aus dem Jungen Scipio Massimo der Mann geworden, der er nun war, und dessen Namen in kleinen, goldenen Buchstaben auf Victors Türschild stand: Scipio Fortunato, der vom Glück Begünstigte. Scipio drängelte sich zwischen zwei dicken Frauen hindurch, welche ihm fürchterlich empört hinterher schimpften. „Scusi!“ murmelte er und zwängte sich in eine Gasse, um dem bunten Treiben auf dem Markusplatz zu entkommen. Erleichtert zog er sich den Hut vom Kopf und fuhr sich durch das schwarze Haar. Das Leben war nicht gerade einfach, wenn man seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, eigentlich erst vierzehn Jahre alt sein sollte und als vermisst galt. Doch Scipio wollte dieses Leben nie wieder gegen sein altes eintauschen. Durch den Ritt auf dem Karussell der barmherzigen Schwestern war er erwachsen geworden, unabhängig, frei. Und in Victors kleiner Wohnung fühlte er sich hundertmal wohler als in dem riesigen Haus seines Vaters, das einen Jungen wie ihn verschluckte und das so einsam war, dass man von Glück sagen konnte, wenn man seine eigenen Schritte durch die riesigen Säle hallen hörte. O nein, Scipio würde nie wieder dorthin zurückkehren. Nie, nie wieder. Als er zu frieren begann, steckte Scipio die Hände tief in die Manteltaschen und schlug seinen Kragen hoch, um gegen den eisigen Wind geschützt zu sein. Er folgte der kleinen Gasse weiter. Es machte ihm Spaß, einfach mal ziellos durch Venedig zu schlendern, nur um Zeit totzuschlagen. Genauso hatte er es auch früher immer gemacht, wenn er noch nicht nach Hause wollte. Früher, als er noch der Herr der Diebe gewesen war. Scipio musste lächeln. Er schob sich an ein paar Kisten vorbei, die beinahe die ganze Gasse blockierten, und wollte seinen Weg fortsetzen, als er hinter sich eine Stimme hörte: „Du bist das also!“ Er drehte sich um. Hinter den Kisten saß ein Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, mit blonden Haaren, ansonsten komplett in schwarz gekleidet. „Ich bin was?“ fragte Scipio. Das Mädchen lächelte und sagte nichts. Scipio zog gleichgültig die Schultern hoch und ging weiter. „Du siehst deinem Vater wirklich ähnlich.“ fuhr das Mädchen fort. Scipio zuckte zusammen und fuhr herum. „Was...“ „Mach dir nichts vor, Herr der Diebe. Du magst noch so erwachsen tun, du kannst nicht verstecken, dass du erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt bist.“ Als das Mädchen „Herr der Diebe“ sagte, fuhr Scipio ein weiteres Mal zusammen. „Wer bist du?“ fragte er. Seine Stimme klang schrill, fast ein bisschen hysterisch. Das Mädchen stand auf, kletterte die Kisten hinauf und hangelte sich aufs Dach. „Du hast lange genug den Erwachsenen gespielt, Scipio Massimo. Es wird Zeit, dass du einsiehst, wer du wirklich bist. Das Alter ist nichts, was man nach Belieben manipulieren kann. Jedes Jahr, das du übersprungen hast, ist ein verlorenes Jahr. Verlorene Kindheit. Verlorene Zeit. Gestohlene Zeit. Ich werde dafür sorgen, dass du dich an den Scipio erinnerst, den du zurückgelassen hast, den du vergessen hast. Ihre Fassade bröckelt, Signor Fortunato.“ Damit drehte sie sich um und stieg über die Dächer davon. „Warte!“ rief Scipio ihr hinterher, doch sie ging geradewegs weiter, ohne sich umzudrehen. Wer war dieses Mädchen? Woher kannte sie seine Geschichte? Und was meinte sie damit, seine Fassade bröckele? Scipio begann erneut zu frieren. Er verließ schnellen Schrittes die Gasse und versuchte, das Mädchen zu vergessen und sich keine Sorgen zu machen. Er war jetzt erwachsen. Er musste sich keine Sorgen mehr machen. Dennoch blickte er sich noch einmal unsicher um, bevor er sich den Hut wieder tief ins Gesicht zog, und seinen Weg Richtung Canal Grande fortsetzte. Scipio merkte, dass seine Schritte schwerer wurden. Als das Mädchen ihn Herr der Diebe genannt hatte, hatte er sich an etwas erinnert. Eine Zeit, die zwar voller Sorgen und Einsamkeit war, aber auch voller Glück. Die Erinnerung an diese Zeit tat weh. Manchmal, wenn er nachts in seinem Bett lag, dann dachte er daran, wie viel Spaß sie damals im alten STELLA gehabt hatten, und er wurde ein bisschen wehmütig. Riccio, Mosca, Wespe, Prosper und Bo. Und er selbst. Der Herr der Diebe. Beschützer der Waisenkinder. Alles war so perfekt gelaufen, bis Victor aufgetaucht war, der Bo an seine Tante ausliefern sollte. Er kam dahinter, dass Scipio keineswegs der war, für den er sich ausgegeben hatte. Als sein Vater auch noch herausfand, dass ein paar Straßenkinder in seinem alten Kino hausten, ging erst Recht alles kaputt. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Die fröhlichen Stunden im alten, spärlich beleuchteten Kinosaal, während sie Moscas Spaghetti aßen und Scipios „Beute“ betrachteten, Bos Kätzchen ihnen um die Füße schlichen und der alte blaue Sternenvorhang prächtig und schwer Geschichten von einer anderen Zeit erzählte, diese Stunden vermisste Scipio, selbst, wenn er danach immer wieder in sein großes, einsames Elternhaus zurückkehren musste. Scipio seufzte. Er fasste einen Entschluss und machte einen kleinen Schlenker, ging nicht zum Canal Grande, sondern bog in eine andere Straße ein: die Calle del Paradiso. Mit den Fingern fuhr er an der Mauer des STELLA entlang, Steine, die er schon lange nicht mehr betastet hatte. Er war seit er erwachsen war nicht mehr hier gewesen. Sein Vater würde bald mit dem Abriss beginnen, es würden sich also nicht mehr viele Gelegenheiten ergeben, sein altes Sternenversteck zu besuchen. Der Anblick des zugenagelten Nebeneingangs, an dem Riccio früher immer die Parolen abgefragt hatte, versetzte Scipio einen kleinen Stich ins Herz. Er sah sich einmal um, dann packte er eines der Bretter mit beiden Händen und zog mit einem Ruck daran, sodass das Holz mit einem lauten Knacken in zwei Teile zersplitterte. Scipio zog sich dabei ein paar Splitter zu, doch er entfernte auf diese Weise alle Bretter, die den Eingang verschlossen hielten. Seine Hände schmerzten, als er mit einem letzten, ruckartigen Stoß die Tür öffnete. Ein muffiger Geruch stieß ihm entgegen, als er sich durch den kleinen Gang zum Kinosaal schob. In der Tür blieb er stehen. Der blaue Sternenvorhang war heruntergerissen und achtlos auf den Boden geworfen worden, alles war verstaubt und dreckig, ein paar Mäuse huschten erschrocken davon, als sie jemanden durch die Tür kommen hörten. Der Anblick tat weh. Scipio ging langsam in den hinteren Teil des Kinos, wo seine Schützlinge geschlafen hatten. Hier lagen noch einige Dinge, die sie bei der Flucht nicht mitnehmen konnten: Matratzen, ein paar Zettel, ein angebrochener Farbeimer, etwas Vogelfutter, eine alte Wolldecke. An die Wand hatten Kinderhände kleine Kunstwerke gemalt, Sterne und Blumen und alles mögliche andere. Einen großen Stern hatte Scipio selbst gepinselt. Etwas ungelenk sah er aus und brachte ihn zum Lächeln. Er blickte sich weiter um und fand er an der Wand Victors Versprechen, den Hartliebs nichts zu verraten, hastig in dessen krakeliger Erwachsenenschrift hingeschmiert. Als Scipio den Sternenvorhang hochhob, ergriffen noch ein paar weitere Mäuse die Flucht. Der alte, schwere Stoff war von Motten und Mäusen zerfressen, er war staubig und ausgebleicht. Ärgerlich warf Scipio ihn wieder auf den Boden, als er das Loch entdeckte. Ein großes, viereckiges Loch. Hier hatte Victor für Bo ein Erinnerungsstück ausgeschnitten, welches jetzt über dessen Bett in Idas Haus hing. Scipio bemerkte seine Tränen erst, als sie sein Kinn erreichten. ‚Verdammt!’ dachte er und setzte sich auf den Boden, während er die Tränen hastig wegwischte. Er hätte nicht gedacht, dass die Erinnerung so wehtun würde. Doch sie tat es. Sie schmerzte mehr als die Splitter in seiner Hand und mehr als der eisige Wind draußen, der ihm ins Gesicht peitschte. Es war kaputt. Es würde nie mehr so sein wie früher. Der Herr der Diebe existierte nicht mehr und das STELLA war nur noch ein altes, baufälliges Kino. Man spürte nichts mehr von dem Leben, das hier einmal drin gesteckt hatte, obwohl es schon geschlossen gewesen war. Das Leben von fünf Waisenkindern, die hier ihre Tage und Nächte verbracht hatten, und von ihm, Scipio, dem sie vertraut hatten und der sie enttäuscht hatte. Er war so in Gedanken versunken, dass er die Schritte hinter sich nicht bemerkte. „Ich wusste, dass du kommst!“ sagte eine Mädchenstimme hinter ihm. Scipio fuhr herum. „Du schon wieder!“ „Im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen hast du nicht vergessen, wie es war ein Kind zu sein!“ „Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?“ schrie Scipio. „Erwachsene vergessen ihre Kindheit.“ Sagte das Mädchen traurig. „Ich will, dass du noch ein wenig Zeit hast, deine Erinnerungen aufzufrischen!“ „Wovon redest du? Warum verfolgst du mich?“ Scipios Stimme wurde schrill und hoch, wenn er sich aufregte, und für einen kurzen Augenblick kam ihm der schreckliche Abend nach dem Ausflug zur Isola Segreta in den Sinn, als er nach Hause kam, die Polizei war dort, und Wespe...der Abend, an dem das Sternenversteck aufgeflogen und Wespe im Waisenhaus gelandet war und Bo zu seiner Tante musste. Der Abend, an dem Scipio seinem Vater seine ganze Wut entgegengeschleudert und dieser ihn trotzdem weiter ignoriert hatte. An diesem Abend war Scipio genauso vor seiner Stimme erschrocken. „Genau davon!“ erwiderte das Mädchen. „Von dem Kind, das immer noch in dir steckt und das du nicht verbergen kannst!“ Das Mädchen fuhr plötzlich herum und rannte aus dem Saal. Scipio stand auf und stolperte ihr hinterher, doch er konnte sie trotz seiner langen Beine nicht einholen. Als er aus der Tür heraus war, war nichts mehr von ihr zu sehen. „Wer sind Sie?“ fragte eine ihm bekannte Stimme. Scipio lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er wandte sich ab und versuchte, seinem Vater nicht ins Gesicht zu sehen. „Das hier ist Privatbesitz!“ sagte Dottor Massimo. „Sie haben kein Recht, in diesem Gebäude herumzuschnüffeln. Wollten Sie vielleicht etwas stehlen? Hier gibt es nichts zu holen, also verschwinden Sie! Auf der Stelle!“ Scipio murmelte eine unverständliche Entschuldigung und machte sich davon. Wie sehr er diesen Tonfall bei seinem Vater hasste. Wie sehr er ihn hasste. Und wie viel Glück er hatte, dass sein Vater sich viel zu wenig für andere Menschen interessierte, als dass er sich das Gesicht des geheimnisvollen Einbrechers genauer ansehen würde. „Das Kino wird sowieso bald abgerissen!“ sagte der dottore zu seinem Begleiter, der ein wenig tatenlos in der Kälte herumgestanden hatte, noch bevor Scipio hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Mit immer noch klopfendem Herzen erreichte Scipio Victors Wohnung. Er sah sich immer wieder um, malte sich alle möglichen Dinge aus, die passieren würden, wenn sein Vater ihn erkannt hätte. Vor Aufregung bekam er kaum den Schlüssel ins Schloss. Flink wie ein Wiesel sprang er die steile Treppe hinauf und blieb wie immer kurz vor dem Türschild stehen. Scipio Fortunato. Er fuhr mit den Fingern über die kleinen, eingravierten Goldbuchstaben. Er hatte sich immer noch nicht ganz an seinen neuen Nachnamen gewöhnt. Scipio seufzte, schloss die Wohnungstür aus und warf seinen Mantel einfach über einen Stuhl, obwohl er wusste, dass Victor das überhaupt nicht mochte. Dann setzte er sich einen Kaffee auf. Er hockte sich vor die beiden Schildkröten, und als sie ihm gierig ihre kleinen, faltigen Köpfe entgegenstreckten, brachte er ihnen gnädig ein paar Salatblätter. Erschöpft ließ er sich mit seiner Tasse Kaffee in einen Sessel sinken und sah sich um. Das hier war sein Zuhause, und sonst nichts. In dieser Wohnung, die kleiner war als das Arbeitszimmer seines Vaters, in der es keine Bediensteten gab und keine fünfgängigen Mahlzeiten, sondern nur zwei kleine Schildkröten und billigen Kaffee, hier hatte Scipio sein Glück gefunden. Kapitel 2: Riccios Fang ----------------------- Kapitel 2: Riccios Fang „Bo!“ Der kleine, blonde Junge sah auf. „Du sollst keinen Schnee von der Straße essen!“ schimpfte Prosper, während er seinen kleinen Bruder am Arm packte und ihn auf die Füße zog. „Wer weiß, wie viele Leute da mit ihren schmutzigen Schuhen durchgelaufen sind!“ „Aber Riccio sagt, Dreck reinigt den Magen!“ protestierte Bo. „Und außerdem ist Schnee nicht schmutzig, sondern nur Wasser!“ Mit diesen Worten leckte er sich demonstrativ die Finger ab. Wespe kicherte und Prosper verdrehte die Augen. „Du sollst doch nicht immer alles glauben, was Riccio erzählt.“ Trotzig verschränkte Bo die Arme und lief voraus. Prosper seufzte. „Was brauchen wir noch?“ Wespe warf einen Blick auf den Einkaufszettel, den Ida ihnen geschrieben hatte. Sie runzelte die Stirn. „Hier steht wir sollen Sekt besorgen!“ „Was?“ fragte Prosper und nahm ihr den Zettel aus der Hand. „Tatsächlich! Wie stellt sie sich das denn vor?“ Er fuhr sich durch die Haare, die nach seinem zwangsläufigem Igelschnitt wieder lang gewachsen waren. „Wer würde schon drei Kindern Sekt verkaufen?“ „Du weißt doch, wie zerstreut Ida in letzter Zeit ist!“ warf Wespe ein. „Lucia ist im Urlaub und sie hat uns wahrscheinlich den gleichen Einkaufszettel geschrieben, den sie ihr auch mitgegeben hätte. Wir versuchen es einfach, okay?“ Prosper nickte, aber er fühlte sich nicht ganz wohl dabei, Alkohol zu kaufen. Riccio würde das mit Leichtigkeit machen. Riccio kaufte ja auch Zigaretten, auch wenn er das noch nicht durfte. „Sollen wir Riccio fragen, ob er uns hilft?“ fragte Wespe, als ob sie Prospers Gedanken gelesen hätte. „Es wird sowieso mal wieder Zeit für einen Besuch, findest du nicht?“ Castello, wo Riccio und Mosca ihr Versteck hatten, lag ziemlich im Osten Venedigs und war zu Fuß eine ganze Weile weg. Bo schien das jedoch nichts auszumachen, wie ein Eichhörnchen sprang er vor Prosper und Wespe her und fing die Schneeflocken mit der Zunge auf. Prosper kam es vor, als sei der Schnee hier viel schöner als irgendwo sonst auf der Welt. Dicke, weiße Flocken rieselten auf die Straßen und Plätze Venedigs nieder, und keine Autos, die ihn matschig fuhren oder ihn mit ihren Abgasen vergifteten. Er fing eine Flocke auf und sah zu, wie sie sich durch die Wärme seiner Hand auflöste. Als die drei Kinder in die Straße einbogen, in der Riccios und Moscas Haus stand, hörte es auf zu schneien. Enttäuscht holte Bo seine Zunge in seinen Mund zurück und schüttelte die Schneeflocken aus seinen blonden Haaren. Von weitem konnte man schon das alte, verlassene Lagerhaus sehen, das nun zwei Waisenkindern als Versteck diente. Zwei Kinder, die ihre Freiheit brauchten und die die Casa Spavento als Zuhause dankend abgelehnt hatten. Prosper klopfte zweimal heftig an die Holztür, doch niemand öffnete. Durch Rütteln bekam er sie ebenfalls nicht auf, Riccio und Mosca hatten ein kleines, rostiges Schloss angebracht. „Und jetzt?“ fragte Wespe. „Wolltet ihr zu uns?“ fragte eine ihnen bekannte Stimme. Als sie sich umdrehten, entdeckten sie Mosca, der mit seinem Boot den Kanal entlanggefahren kam. Er strahlte schadenfroh übers ganze Gesicht. „Allerdings!“ erwiderte Prosper. Geschickt sprang Mosca aus seinem Boot zurrte es an einem Pfeiler fest. Dann hievte er ein Netz heraus, das voll mit Fischen war. „Da staunt ihr, was?“ Mit großen Augen bestaunte Bo die vielen kleinen Fische, die im Netz vor sich hin zappelten. Wespe verzog das Gesicht. Sie mochte Fische nicht besonders, vor allem nicht, wenn sie noch lebten. Mosca stellte das Netz neben der Tür ab und zog einen kleinen Eisenschlüssel aus der Hosentasche. Das Schloss sprang nur sehr wiederwillig auf. „Ich hab Riccio gesagt, wir sollten ein anderes Schloss nehmen!“ seufzte er. „Das hier ist so rostig, dass ich jedes Mal Angst habe, ich würde den Schlüssel nicht mehr herausbekommen! Aber davon will Riccio ja nichts hören, wo er dieses Schloss doch extra von einem alten Fahrradschuppen geklaut hat!“ Er stieß die Tür auf, nahm das Netz und bat die anderen drei herein. „Naja, ihr kennt unser Versteck ja! Das Schloss ist neu, aber sonst hat sich nicht viel verändert. Es ist immer noch groß, es ist immer noch fast möbellos und es ist immer noch dreckig!“ Er lachte. Prosper sah sich um, als er sich an Mosca vorbeischob. Er hatte Recht gehabt. Hier hatte sich, seit sie das letzte Mal zu Besuch gewesen waren, nichts verändert. Hinten in der Ecke lagen zwei alte Matratzen mit Schlafsäcken, wobei der eine fast vor Stofftieren überquoll. Überall lagen Angelzubehör und zerfledderte Comics zerstreut, Moscas Bootsfarbe hatte den Boden an einigen Stellen rot gesprenkelt, und rechts an der Wand standen ein billiger Holztisch und zwei Hocker, ein kleiner Gaskocher, eine Pfanne und ein Topf. „Wo ist Riccio?“ fragte Bo und sprang um Mosca herum. „Der ist noch irgendwo draußen!“ antwortete Mosca. „Und hoffentlich zur Abwechslung mal nicht in Schwierigkeiten!“ Wespe seufzte. „Scipio lässt euch doch immer Geld hier. Und du verdienst auch was beim Lagunenfischen. Warum klaut Riccio nur trotzdem immer weiter?“ „Ach, na ja, du kennst ihn doch!“ antwortete Mosca, während er ein paar Fische zum Abendessen heraussuchte. „Es ist sein Hobby!“ Er holte noch einen letzten, besonders schönen Fisch für Bo heraus und schnürte das Netz wieder zu. „Er müsste aber bald kommen. Wollt ihr zum Essen bleiben?“ Riccio stand auf dem Markusplatz und starrte in den Himmel, als gäbe es nichts Interessanteres. Wie ein harmloser kleiner Junge wirken, das war einfach. Er bestaunte die geflügelten Löwen hoch oben auf den Säulen, während er in Wirklichkeit nach einem passenden Opfer suchte. Riccio hatte das Stehlen einfach nicht aufgeben können. Als Scipio noch der Herr der Diebe gewesen war, hatte er sogar Angst gehabt, er könnte es verlernen. Doch es lief genauso wie früher, als Mosca, Wespe und er noch in einem alten Keller gehaust hatten und Scipio sich noch nicht um sie gekümmert hatte. Unauffällig schweiften seine Augen weiter über den Platz, bis sie an jemandem haften blieben. Ein kleiner, beleibter Mann mit Halbglatze und trüben Augen watschelte dort entlang, die Augen auf den Boden gerichtet, mit müdem Blick, als hätte er gerade etwas sehr Anstrengendes hinter sich. Ein wenig weiter vorne erklärte ein großer Mann einer japanischen Reisegruppe die Besonderheiten des Markusplatzes. Die Gruppe lief direkt auf den kleinen Mann zu. Riccio bewegte sich langsam hinter dem Mann her, immer noch in den Himmel starrend, als achte er nicht richtig auf seinen Weg. Als der Mann der Reisegruppe ausweichen musste, rempelte Riccio ihn an. „Pass doch auf!“ schimpfte dieser, doch Riccio hatte sich schon zwischen die Japaner gedrängelt und war nicht mehr zu sehen. Er ließ sich ein Stück von der Gruppe mittragen, dann verschwand er in einer Gasse. Als er hörte, wie der Mann den Verlust seiner Brieftasche bemerkte und herumschrie, begann Riccio zu laufen. Er hörte das Pflaster unter seinen Schuhen hallen, schlug ein paar Kurven ein und schlängelte sich durch die engen Gassen. Plötzlich packte ihn etwas an der Schulter. „Hab ich dich, du kleiner, dreckiger Dieb!“ keuchte der Mann. Riccio wurde panisch. Wie war der Mann mit seinen kurzen Beinen hinter ihm hergekommen? „Da staunst du, was?“ fragte der Mann, immer noch außer Atem. „Tja, mein Lieber, ich kenne diese Stadt genauso gut wie du, vielleicht sogar besser!“ Riccio versuchte sich loszureißen, doch der Mann ließ nicht locker. „Venedig wird immer krimineller!“ brummte er. „Eben noch, als ich mit Dottor Massimo das STELLA besichtigen will, erwischen wir doch glatt einen Einbrecher, und kaum bin ich auf dem Heimweg, klaut mir so ein kleiner Igelkopf meine Brieftasche!“ Riccio schluckte. Ein Einbrecher im STELLA? Und was wollte der Mann dort mit Scipios Vater? Mit einem Ruck riss er sich los und lief so schnell er konnte. Alles, was ihm durch den Kopf ging war: Weg! Lass dich nicht noch mal erwischen! Riccio hielt auf dem ganze Nachhauseweg kein einziges Mal an. Prosper und die anderen wollten gerade mit dem Essen anfangen, als es wie wild an ihre Tür hämmerte. Mosca sprang mit ein paar Sätzen nach vorne und öffnete sie, woraufhin Riccio völlig außer Atem hereinstolperte. „Verriegle die Tür!“ keuchte er. Als Mosca von innen das Schloss angebracht hatte, war Riccio schon zum staubigen, kleinen Fenster gerannt und sah nervös hinaus. „Ich glaube, ich habe ihn abgehängt!“ „Wen? Hat dich wieder jemand erwischt?“ fragte Mosca, während er für Riccio noch einen Fisch in die Pfanne warf. „Das kannst du laut sagen!“ schnaufte Riccio und klaute Bo etwas von seinem Teller, woraufhin dieser ihn in die Seite boxte. „Und er hat was von einem Einbruch im STELLA erzählt und dass er mit Scipios Vater da gewesen sei!“ Wespe verschluckte sich vor Schreck an ihrem Fisch und bekam einen Hustanfall. Prosper klopfte ihr auf den Rücken. „Wer war das?“ In diesem Moment huschte ein Lächeln über Riccios Gesicht und entblößte seine schiefen Zähne. Er kramte in seiner Jackentasche herum und warf Prosper stolz eine Brieftasche vor die Nase. Mosca nahm diese und suchte darin herum. „Und?“ fragte Wespe ungeduldig. „Ein bisschen Geld...“ murmelte Mosca. „Und das hier!“ Er warf den anderen einen Personalausweis und eine Visitenkarte auf den Tisch. Alle beugten sich ein wenig weiter vor. „Der Mann heißt Giuseppe Armendola und besitzt ein Abrissunternehmen!“ sagte Wespe und runzelte die Stirn, während sie sich den Personalausweis genauer ansah. „Er ist in Rom geboren!“ „Ist doch egal!“ erwiderte Riccio ungeduldig. „Schau dir lieber die Visitenkarte an. Die ist von Scipios Vater! Könnt ihr euch vielleicht einen Zusammenhang vorstellen?“ Prosper schlug sich gegen die Stirn. „Das ist der Mann, der das STELLA abreißen will!“ Mosca nickte abwesend. Bo hatte von seinem Teller aufgeschaut. Ihm standen Tränen in den Augen. „Jetzt ist es also endgültig soweit!“ flüsterte Wespe fast unhörbar. Auf einmal war die Stimmung in dem alten Lagerhaus beträchtlich gesunken. Als Bo anfing zu schluchzen, konnte auch sie ein paar Tränen nicht unterdrücken. Mosca kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und Riccio verwandelte seine Trauer wieder einmal in Agressionen. „Verdammt noch mal!“ brüllte er und trat gegen die Wand. „Was glauben die eigentlich, wer die sind? Das war unser Zuhause! Die haben sich doch nie einen Dreck darum geschert, und jetzt machen sie das einfach so platt!“ Er schlug gegen die Wand, bis ihm die Hände wehtaten, dann ließ er sich auf seine Matratze sinken. Bo weinte immer noch. Prosper versuchte ihn zu trösten, doch das war schwierig, wenn die Trauer einem selbst auch das Herz zerschnitt. Wespe wischte ihre Tränen weg, doch es kamen immer wieder neue nach. Mosca löste sich erst aus seiner Erstarrung, als er merkte, dass Riccios Fisch in der Pfanne anfing zu stinken. Hastig schabte er den misslungenen Rest heraus. Nein, Scipio war ganz sicher nicht der Einzige, der die Zeiten im alten STELLA-Kino niemals vergessen würde. Kapitel 3: Der kleine Scipio ---------------------------- Kapitel 3: Der kleine Scipio Es war draußen schon dunkel, als Victor nach Hause kam. Erschöpft stellte er seine Tasche neben die Tür und hängte seinen Mantel an den Haken. Er sah, dass Scipio im Sessel eingeschlafen war. Die Tasse war ihm aus der Hand gerollt und der Restkaffee sickerte fröhlich in den Teppich. Victor stieß einen leisen Fluch aus und hob sie auf. Dann rüttelte er Scipio wach. „Was?“ brummte dieser verschlafen. „Mach den Kaffee weg.“ erwiderte Victor und gähnte. „Ich leg mich hin. Ab morgen übernimmst du am besten meinen Fall. Ich bin anscheinend wirklich nicht mehr der Jüngste!“ Mit diesen Worten schlurfte er zu seiner Couch und zog sie aus. „Das sage ich ja!“ grummelte Scipio. Er betrachtete kurz den Kaffeefleck auf dem Boden, dann seufzte er und ging zu seiner Matratze. Der Fleck würde morgen schließlich immer noch da sein. Als Scipio am nächsten Tag die Augen aufschlug, war es draußen noch dunkel. Er hatte etwas Seltsames geträumt und fühlte sich schwindelig. Er hatte geträumt, er säße wieder auf dem Seepferd des Karussells, und es hatte sich immer schneller und schneller gedreht. Scipios Hände fühlten sich steif an, so sehr hatte er sich im Traum an das den hölzernen Rücken des Seepferdes gekrallt. Er gähnte und ging zum Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Vielleicht würde es ihm hinterher besser gehen. Victor schnarchte noch immer friedlich in seinem Bett. Scipio war zu sehr in Gedanken versunken, als dass er die neue Änderung in seinem Leben hätte mitbekommen können. Er spritzte sich eine Ladung Wasser ins Gesicht sich im Spiegel. Das Gesicht eines kleinen Jungen blickte ihn an. Scipio rieb sich panisch die Augen und sah noch einmal hin. Sein eigenes Gesicht, kaum älter als vierzehn, mit schulterlangen, pechschwarzen Haaren und vor Schreck aufgerissenen Augen starrte ihm entgegen. „Nein...“ flüsterte er. „Nein, nein, nein...“ Er sah an sich hinunter. Sein Schlafanzug, der eigentlich dreiviertellang sein sollte, hing ihm komplett über die Füße, sodass er beim Laufen auf den Saum trat. Die Ärmel schlabberten ziellos herum und bedeckten seine Kinderhände. Kein einziger Bartstoppel spross in seinem Gesicht. „NEIN!“ Scipio schrie so laut und kräftig, dass Victor fast aus dem Bett fiel und erschrocken ins Badezimmer gestolpert kam. „Was zum...?“ Als er Scipio sah, blieb ihm der Mund offen stehen. „Was zum...“ wiederholte er. „Was...was...“ Er konnte die Panik in Scipios Gesicht sehen. Seine gesamte Sicherheit, alles was er je sein wollte, erwachsen und unabhängig, war mit einem Schlag wieder zerstört worden. Vor ihm stand der Junge von vor einem Jahr, aber er glich nicht dem selbstsicheren Herrn der Diebe, sondern viel eher dem kleinen Herrn Massimo, der zögerlich das Arbeitszimmer seines Vaters betreten und diesem besorgt von seiner Katze erzählt hatte. „Was zum Teufel ist passiert?“ fragte Scipio. „Wie kann das sein?“ Er wandte sich vom Spiegel ab, als ob es ihn wieder erwachsen machen würde, wenn er sein Kinderspiegelbild nicht mehr sah. „Ich weiß es doch nicht.“ antwortete Victor geknickt und fühlte sich ein wenig hilflos, so verloren sah Scipio in seinem viel zu langen Pyjama aus. „Die Geschichten über das Karussell... es muss eine Haken gegeben haben!“ sagte er schließlich. „Vielleicht weiß Ida was darüber. Wir sollten gleich wenn es hell ist...“ „Nein!“ unterbrach Scipio ihn. „Ich will es jetzt sofort wissen! Ich will wissen, warum ich wieder ein Kind bin!“ Victor schaute auf die Uhr. „Es ist vier Uhr morgens, Scipio. Du kannst jetzt niemanden besuchen.“ Scipio biss sich auf die Lippen. „Tagsüber kann ich erst Recht nicht hin.“ murmelte er. „Schon vergessen? Ich gelte als vermisst. Wenn mich jemand auf der Straße erkennt, dann bringen sie mich zurück zu meinem Vater!“ Verzweifelt stützte er das Gesicht in seinen Händen. Er hatte sich so gefreut, nie wieder dorthin zurück zu müssen. Und jetzt würde alles zerplatzen, nur weil er aussah, wie er aussah. „Als Kind kann ich doch kein richtiges Leben mehr führen! Ich müsste mich entweder andauernd verstecken, oder einfach aufgeben... aber das werde ich nicht, ganz sicher! Ich werde nicht freiwillig zu meinen Eltern zurückgehen! Da müssen die mich schon an meinen Haaren mitschleifen, soviel steht fest!“ Da war er wieder, der dickköpfige, arrogante Scipio. Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus dem Badezimmer, schlüpfte in eine Jeans und ein T-Shirt, die ihm viel zu groß waren und war schon auf dem Weg zur Tür, als Victor ihn zurückrief: „Spinnst du? Du kannst nicht barfuß und im T-Shirt auf die Straße, bei der Kälte!“ Also stieg Scipio noch in seinen Mantel, der ihm fast auf dem Boden schleifte. Schon als Erwachsener war er ihm bis an die Kniekehlen gegangen. Er zog Victors Schuhe an, die waren zwar immer noch zu groß, aber auf jeden Fall kleiner als seine eigenen. „Jetzt zufrieden?“ zischte er Victor zu. Wie eine Vogelscheuche sah er aus mit seinen schlabberigen Sachen. Victor konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, woraufhin ihm Scipio einen eisigen Blick zuwarf. „Nun, du kannst nicht garantieren, dass dich niemand sieht, weißt du. Manche Leute gehen um diese Zeit schon zur Arbeit!“ warf Victor ein. „Es ist noch dunkel draußen!“ erwiderte Scipio trotzig. „Wird schon schief gehen!“ Aber Victor schüttelte den Kopf. Er ging zu seiner alten Holztruhe, die im hinteren Teil des Wohnzimmers stand, und hob ächzend den schweren Deckel hoch. „Ich hab was für dich aufbewahrt!“ schnaufte er. „Eigentlich als Andenken, aber ich glaube, du brauchst sie jetzt wieder!“ Scipio runzelte die Stirn und sah Victor zu, wie er in der alten, muffigen Truhe herumwühlte. „Aha!“ machte Victor plötzlich und zog stolz ein längliches, schwarzes Ding heraus. „Meine Maske!“ rief Scipio erstaunt und nahm sie Victor aus der Hand. Eine schwarze Vogelmaske, wie sie die Ärzte in Venedig früher getragen hatten. Scipio hatte sie benutzt, wenn er der Herr der Diebe gewesen war. Andächtig hielt er sie in den Händen und schwelgte einen Moment lang in Erinnerungen. Dann entfernte er hastig mit dem Ärmel den Staub, band die Haare zu einem Zopf zusammen und schnürte sich das gruselige Ding um. „Tja, Herr der Diebe!“ sagte Victor. „Willkommen zurück!“ Scipio warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und lief zur Tür. Als er über den Saum seiner Jeans stolperte, stieß er einen leisen Fluch aus und krempelte sich die Hose hoch. Dann sprang er in wenigen Sätzen die steile Treppe hinunter und lief in Victors Schuhen, aus denen er fast herausrutschte, nach draußen. Draußen schlug ihm die eisige Kälte entgegen. Nebelschwaden hingen in der Luft und schlängelten sich wie feine, dunstige Gespenster über die Kanäle und Gassen Venedigs. Der Mond hing rund und voll am Himmel, vereinzelt brannten Laternen, das Wasser war ruhig. Scipio verkroch sich tiefer in seinen langen Mantel, hauchte einmal in die Luft und ging langsam zur Feuerleiter, sich immer wieder umblickend. Es schien niemand außer ihm so dumm zu sein, sich um vier Uhr morgens bei diesen Temperaturen aus dem Haus zu wagen. Die metallene Feuerleiter war so kalt, dass Scipio seine Hand erst einmal vor Schreck wieder zurückzog. Wären seine Hände auch nur ein wenig nass gewesen, wären sie mit Sicherheit sofort festgefroren. Er kletterte die Leiter hinauf und zog sich dann auf Victors Dach. Auf den Dächern konnte man sich leichter bewegen, man wurde nicht sofort gesehen und verlor in den kleinen Gassen nicht so schnell den Überblick. Scipio kannte den Weg zu Idas Haus zwar auswendig, doch er fühlte sich in seinem Kinderkörper plötzlich unsicherer als je zuvor, und wollte nur noch schnell und ungesehen ankommen. Der Frost auf den Dächern machte die Sache nicht ganz ungefährlich. Als Scipio nach zehn Minuten schon fünf Mal fast abgerutscht wäre, beschloss er schließlich, sich doch auf dem Boden fortzubewegen, so unbehaglich er sich dabei auch fühlte. Immer wieder blickte er sich um, doch es war niemand da. Die Casa Spavento lag groß und fast verlassen da, als Scipio ankam. In keinem der Fenster brannte Licht und die Mauer war nun, da er wieder ein Kind war, ein beinahe unüberwindbares Hindernis. Es war fast wie an dem Abend, an dem er alleine hier eingebrochen war, um an den Flügel zu kommen. In der Hektik hatte er diesmal allerdings vergessen, ein Seil mitzunehmen. Scipio tastete sich an der dunklen Mauer entlang, bis er einige herausstehende Ziegel entdeckte, an denen er zur Not heraufklettern könnte, jedoch nicht in Victors Schuhen. Er dachte gerade daran, sie auszuziehen, als er hinter sich eine Stimme hörte. „Dürfte ich erfahren, was du hier um diese Zeit machst?“ Scipio zuckte zusammen und drehte sich nicht um. Die Maske war möglicherweise nicht genug Schutz. Er kannte diese Stimme nicht. „Ich...“ stammelte er. „Sie verstehen das falsch! Signora Spavento kennt mich und...“ „Soso!“ sagte die fremde Stimme. Sie war hoch und schnarrend, doch es war eindeutig ein Mann. „Ich entwickle mich langsam wirklich zum Verbrecherjäger.“ seufzte er. Scipio drehte sich langsam um, die Neugierde war nun zu groß. Es war der Mann, der mit seinem Vater beim STELLA gestanden hatte. „Ich bin kein Verbrecher!“ protestierte Scipio. Er wusste nicht, wer der Mann war, doch anscheinend stand er geschäftlich in Verbindung mit seinem Vater, und das STELLA hing auch mit drin, also war er ein Feind. „Ich bin mehrmals in der Woche hier. Ich bin mit den Kindern befreundet, die hier wohnen!“ Der Mann lachte kurz auf. „Signora Spavento hat keine Kinder!“ „Jetzt schon. Sie hat drei Waisenkinder bei sich aufgenommen!“ Der Mann runzelte die Stirn. „Du kannst wirklich gut lügen, kleiner Dieb. Ich glaube, ich nehme dich mal mit zum Polizeirevier, damit die deine Eltern über die nächtlichen Ausflüge ihres Sohnes benachrichtigen können!“ Scipio riss vor Schreck die Augen auf. Alles, nur das nicht! Er versuchte sich zu befreien, doch der Mann hatte seinen Arm gepackt und hielt ihn fest. Seinen Plan, unbemerkt in das Haus zu kommen, warf er in seiner Panik über den Haufen und hämmerte mit seiner freien Hand immer wieder an Idas Tor. „Hey, was wird das denn?“ rief der Mann überrascht. Im Haus gingen Lichter an. Giuseppe Armendola hatte einiges erwartet, aber nicht, dass ein kleiner Einbrecher freiwillig die Hausherrin weckte. Im Garten waren Schritte zu hören, dann öffnete jemand das Tor, und Ida stand vor ihnen, im Morgenmantel und mit ihrem alten Gewehr in den Händen. „Bitte nicht schießen, Signora!“ rief ein kleiner, dicker Mann, den Ida nicht kannte. Dann fiel ihr Blick auf Scipio und sie ließ vor Schreck das Gewehr fallen. „Was ist denn hier los?“ Ihre Stimme klang so erstickt, als hätte sie einen Geist gesehen. „Es tut mir furchtbar Leid!“ piepste der kleine Mann. „Ich habe diesen Jungen hier vor Ihrem Haus aufgegriffen, er wollte gerade einen Weg suchen, über die Mauer zu steigen und...“ Idas Blick haftete immer noch an Scipio. „Es...es ist alle in Ordnung, Signor!“ sagte sie zu Giuseppe Armendola. „Ich kenne diesen Jungen!“ Glaube ich jedenfalls, fügte sie in Gedanken hinzu. „Oh...nun...dann entschuldigen Sie bitte!“ Der Mann trat einen Schritt zurück, nickte Ida zu, warf noch einen verwirrten Blick auf Scipio und ging weiter. Ein Junge, der nachts in ein Haus einbrechen will, obwohl er mit den Kindern der Hausherrin befreundet ist...und diese verliert vor Schreck ihr Gewehr, als sie ihn sieht. Dann stammelt sie etwas, von wegen sie kenne den Jungen und schickt mich weg. Und die ganze Zeit starrt sie ihn an, als wäre er jemand, der soeben von den Toten auferstanden ist. Giuseppe konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf diese nächtlichen Ereignisse machen. Dass seine Schlaflosigkeit und seine Vorliebe für nächtliche Spaziergänge ihm einen solchen Zwischenfall bescheren würden, daran hätte er nicht gedacht, als er vor einer halben Stunde die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Kapitel 4: Ratlosigkeit ----------------------- Kapitel 4: Ratlosigkeit Ida starrte Scipio immer noch an. Zögernd griff sie nach seiner Vogelnase und zog ihm die Maske vom Gesicht. „Mein Gott, du bist es wirklich!“ entfuhr es ihr. Sie stützte sich an die Hausmauer, als hätte sie Angst, sonst in Ohnmacht zu fallen. Im Nachbarhaus ging ein Licht an. Das schien Ida aus ihrer Erstarrung zu lösen. „Los, komm rein. Oder willst du, dass hier bald ganz Venedig vor meinem Haus steht?“ Sie machte eine hastige Handbewegung und Scipio schob sich an ihr vorbei in den Garten. Ida blickte sich einmal um, dann hob sie ihr Gewehr auf und schloss leise das Tor ab. Drinnen erwartete Scipio schon ein kleines Empfangskomitee. Prosper, Wespe, Mosca und Riccio saßen im Schlafanzug an Idas Esstisch. Prosper hatte den schlafenden Bo auf dem Schoß. „Dachtest du etwa, du hättest nur mich geweckt?“ fragte Ida und goss sich einen Kaffee ein. Die Kinder starrten Scipio ebenso an, wie Ida es getan hatte. „Was ist denn mit dir passiert?“ platzte Riccio als Erster heraus. „Das wüsste ich auch gerne!“ erwiderte Scipio ein wenig ärgerlich und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen, während alle Blicke ihm folgten. „Guckt mich nicht so an!“ „Wer will einen Kaffee?“ fragte Ida. Als keiner sich meldete, goss sie einfach jedem eine Tasse ein. „Ich fürchte, ihr werdet ihn brauchen!“ Sie warf einen Blick zur Uhr. Es war beinahe fünf. Scipio spielte mit seiner Maske herum. „Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest mir das alles erklären!“ sagte Scipio leise. „Du kennst viel mehr Geschichten über das Karussell als ich!“ „Ich weiß nicht mehr darüber als du!“ erwiderte Ida, während sie einen Schluck Kaffee nahm. Scipio spielte mit seiner Maske. Die anderen saßen immer noch wortlos am Tisch und sahen ihn an. Bo rieb sich die Augen. Er gähnte und sah sich verschlafen um. „Was ist denn los?“ fragte er, als er Scipio sah. „Hey, Scip!“ rief er. „Warum bist du denn wieder ein Kind?“ „Das weiß keiner!“ sagte Prosper und wollte ihn festhalten, doch Bo rutschte von seinem Schoß und lief zu Scipio. „Bist du noch mal Karussell gefahren, Scip?“ Seine Augen leuchteten. Die Geschichten über das alte Karussell hatten ihn sofort fasziniert, als er sie das erste Mal gehört hatte. Aber Scipio schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß nicht, was passiert ist!“ „Weiß Victor schon davon?“ fragte Wespe. Scipio nickte. „So viele Gäste heute!“ murmelte Ida und goss sich eine zweite Tasse ein. „Ein ganzes Jahr läuft alles ruhig, und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse wieder. Erst kommen Prosper und Wespe mit Riccio und Mosca zurück, vollkommen aufgelöst wegen irgendeinem Abrissleiter, und mitten in der Nacht klopft mich Scipio aus dem Schlaf, der wieder auf seine Originalgröße zurückgeschrumpft ist und von einem kleinen, dicken Mann für einen Einbrecher gehalten wurde. Wo wir gerade dabei sind, warum wolltest du dich eigentlich reinschleichen?“ Scipio zuckte mit den Schultern und wechselte schnell das Thema: „Von was für einem Abrissleiter redet ihr?“ „Wir wollten heute Mosca und Riccio besuchen“ begann Bo. „Riccio hat versucht, so einen Mann zu bestehlen, und der hat ihn erwischt und ihm erzählt, dass er das STELLA abreißen will!“ „Naja, so direkt hat er es nicht gesagt!“ warf Prosper ein. „Er hat ihm nur erzählt, dass er einen Einbrecher am STELLA getroffen hat, als er mit deinem Vater da war, Scip. Dass er derjenige ist, der das Kino abreißen wird, wissen wir erst aus seinem Personalausweis und der Visitenkarte von Dottor Massimo!“ „Ich weiß!“ sagte Scipio nur und wärmte seine kalten Hände an der Kaffeetasse, ohne etwas daraus zu trinken. „Ich bin ihm auch begegnet. Ich war der angebliche Einbrecher!“ „Du warst beim STELLA?“ fuhr Wespe ihn an. „Du weißt doch, dass es dort nicht mehr sicher ist!“ „Hat dein Vater dich erkannt?“ fragte Bo und nahm einen von den Keksen, die Ida ihm hinhielt. Scipio schüttelte den Kopf. „Dieser Mann war auch derjenige, der mich eben an Idas Haus erwischt hat!“ „Der ist ja überall!“ sagte Mosca beunruhigt. „Deswegen sind wir auch hergekommen. Riccio war sich nicht sicher, ob er ihn auf dem Weg zum Versteck wirklich abgehängt hatte. Wir haben schließlich immer noch seine Brieftasche!“ „Wirklich?“ fragte Scipio erstaunt. „Wie heißt er?“ „Giuseppe Armendola!“ sagte Bo mit vollem Mund und spuckte dabei ein paar Kekskrümel in Prospers Kaffeetasse. Dieser reichte Scipio den Personalausweis. „Das ist er!“ Scipio nickte. „Ganz eindeutig. Das ist der Kerl!“ „Ich frage dich noch einmal!“ sagte Wespe ungeduldig. „Warum warst du beim STELLA?“ Scipio spielte mit dem Ausweis herum. „Da war so ein... wartet!“ Er schlug sich gegen die Stirn. „Das Mädchen! Ich bin einem Mädchen begegnet, das meinen wirklichen Namen kann und das wusste, dass ich auf dem Karussell geritten bin!“ „Was?“ fragte Riccio, der bisher ruhig auf seinem Stuhl gesessen hatte. „Woher sollte sie das wissen?“ „Ich weiß es nicht.“ sagte Scipio. „Aber sie wusste es. Sie hat gesagt, sie fände es traurig, dass Erwachsene ihre Kindheit vergessen, und sie wollte dafür sorgen, dass ich meine verlorenen Jahre aufholen kann. Ich hab sie später noch einmal im Kino wieder getroffen. Sie hat gesagt, sie wüsste, dass ich dorthin kommen würde!“ „So ein Schwachsinn!“ rief Riccio. „Sie kann es nicht gewusst haben! Du hast das geträumt!“ Die Vorstellung, dass jemand ihr Geheimnis kannte und ihnen vielleicht die ganze Zeit hinterherspioniert hatte, versetzte ihn in Panik. „Willst du sagen, ich lüge?“ fuhr Scipio ihn an. „Es wäre ja nicht das erste Mal!“ schrie Riccio zurück. „Verdammt!“ rief Wespe. „Ich dachte das hätten wir hinter uns. Ihr hört jetzt sofort auf, euch wie Kinder zu benehmen. Das macht das Ganze auch nicht besser!“ „Tja, dieses Mädchen scheint jedenfalls mehr über die ganze Sache zu wissen als wir!“ murmelte Prosper. „Wo hast du sie getroffen, Scip?“ „Keine Ahnung“ sagte Scipio. „Sie saß hinter ein paar Kisten in irgendeiner Gasse, in der Nähe vom Palazzo Ducale. Ich bezweifle, dass sie dort oft ist!“ Ida seufzte und zündete sich eine Zigarette an. Riccio beobachtete sie dabei und starrte gierig die Kippe an, doch Ida warf ihm einen alles sagenden Blick zu. „Das ist der Grund, warum ich nicht hier wohnen will!“ brummte Riccio und kratzte mit seinen Fingernägeln auf der Tischdecke herum. „Jetzt sei doch mal still, Riccio!“ zischte Scipio ihm zu. „Ich muss nachdenken!“ Riccio schnitt ihm eine Grimasse und ließ Idas Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche verschwinden, als diese kurz aus dem Fenster sah. Bo gähnte. „Du gehst besser wieder ins Bett“ sagte Prosper zu ihm, doch Bo krabbelte ihm nur wieder auf den Schoß, kuschelte sich an ihn und schloss die Augen. „Ich will nicht ins Bett!“ murmelte er. „So kommen wir nicht weiter!“ beschloss Ida, nachdem alle eine Weile geschwiegen hatten. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. „Wir legen uns jetzt alle noch mal eine Runde aufs Ohr. Zwei, drei Stunden. Ich werde Victor anrufen, er wird sicherlich noch wach sein.“ Mit diesen Worten drückte sie ihre Zigarette aus und ging zur Küchentür, wo sie sich noch einmal umdrehte. „Legt dem Herrn der Diebe eine Matratze hin!“ Oben im Kinderzimmer war schon ein großes Bettenlager aufgebaut. Für Mosca und Riccio war ebenfalls eine Matratze hingelegt worden. Prosper legte den schlafenden Bo vorsichtig in sein Bett, dann half er Wespe, die Matratze für Scipio hereinzuholen. Erschöpft ließen sich alle in ihre Betten fallen, doch schlafen konnte niemand. Das Karussell selbst war schon Wunder genug gewesen. Dass es nun auch noch wieder rückgängig gemacht werden konnte, ohne dass man darauf fuhr, das war für alle unbegreiflich. Am allermeisten für Scipio. Er lag auf seiner Matratze uns starrte die Decke an. Als Riccio anfing, im Schlaf zu murmeln und Mosca schnarchte, lag Scipio immer noch wach. Und auch als Prosper und Wespe schließlich vor Müdigkeit die Augen zufielen, konnte der ehemalige Herr der Diebe noch immer nicht einschlafen. Prosper schlief gerade mal eine Viertelstunde, als Scipio etwas einfiel. Er stand von seinem Bett auf und weckte ihn. „Hey, Prop!“ flüsterte er. „Mir ist da noch was eingefallen!“ Prosper rieb sich die Augen. „O Mann, ich war so froh, endlich eingeschlafen zu sein. Konntest du damit nicht bis zum Frühstück warten?“ Aber Scipio schüttelte entschieden den Kopf. „Letzte Nacht, als ich wieder zum Kind geworden bin...“ begann er und wartete auf Prospers interessiertes Gesicht, doch es blieb aus. „Naja, jedenfalls habe ich in dieser Nacht, wahrscheinlich während meiner...Rückentwicklung geträumt, dass ich wieder auf dem Karussell reiten würde. Wäre es nicht eine Möglichkeit, dass man nur von dem Karussell träumen muss, um sein Alter zu verändern?“ Prosper sah einen Hoffnungsschimmer in Scipios Gesicht. „Hast du geträumt, dass du rückwärts gefahren bist?“ fragte er. Scipio dachte nach. Die Hoffnung wich wieder aus seinem Gesicht. „Nein. Ich habe geträumt, vorwärts zu fahren. Und ich saß auf dem Seepferd. Der Löwe ist ja eigentlich derjenige, der einen wieder jünger macht. Ginge es nach meinem Traum, wäre ich jetzt mein eigener Großvater.“ „Tut mir Leid, Scip!“ sagte Prosper. „Es wäre eine Möglichkeit gewesen!“ „Irgendwas hat es sicher damit zu tun!“ murmelte Scipio, als er sich wieder hinlegte. Zum Frühstück tauchte Victor auf, der zwar eigentlich an einem Fall dran war, doch der auf keinen Fall irgendwelche Neuigkeiten verpassen wollte. Er brachte frische Brötchen und Zeitung mit. „Na, sieh mal einer an!“ sagte er. „So voll war Idas Haus ja schon lange nicht mehr!“ Die zusätzlichen paar Stunden Schlaf hatten allen gut getan. Nur Scipio, der in Idas Haus sowieso kein Auge zubekommen hatte, und Prosper, der nach Scipios Weckattacke auch nicht wieder einschlafen konnte, hingen ziemlich zermürbt auf ihren Stühlen. Sie tranken sogar etwas von Idas Kaffee, obwohl sie ihn immer viel zu stark machte. „Eigentlich wollte ich euch etwas aus der Zeitung vorlesen!“ warf Victor in die Runde. „Aber eure Stimmung scheint ohnehin nicht besonders gut zu sein, oder?“ Neugierig hob Scipio den Kopf. „Worum geht es denn?“ „Nun“ begann Victor. „In der Zeitung steht etwas über euer STELLA!“ „Wir wissen eh, worum es geht!“ maulte Riccio und biss von seiner dick mit Marmelade bestrichenen Brötchenhälfte ab. „Das Stella wird bald abgerissen, von so einem Giuseppe Armendola!“ Victor sah ihn erstaunt an. „Soso, ihr seid wohl immer über alles zuerst informiert? Aber seht euch mal den letzten Absatz an!“ Er reichte Wespe die Zeitung. Diese nahm sie entgegen und fuhr mit den Augen schnell über den Artikel, bis sie an etwas haften blieben. Wespe runzelte die Stirn. „Lies vor!“ sagte Mosca. „Immer noch Interessenten für altes STELLA-Kino gesucht!“ begann Wespe. „Das Kino ist geräumig und gut erhalten und benötigt lediglich einige Renovierungsarbeiten. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an Dottor Massimo, Fondamenta Bollani 233!“ „Aber wenn er es gar nicht abreißen will, warum hat sich dieser Armendola das Gebäude dann schon angesehen?“ fragte Prosper. „Er will es schon abreißen!“ warf Scipio ein. „Aber günstiger käme es ihn natürlich, wenn er es verkaufen würde. Was glaubt ihr, wie viel Geld so ein Abriss kostet? Ihr habt keine Vorstellung davon, wie geizig er ist!“ Scipio schnaubte ärgerlich und starrte finster in seinen Kaffee. Die anderen saßen auf ihren Stühlen und wussten nicht, was sie sagen sollten. „Können wir das Kino denn nicht kaufen?“ fragte Bo in die Stille hinein. „Mit welchem Geld?“ antwortete Prosper und fuhr seinem Bruder über die blonden Locken. „Warum lässt dein Vater es denn nicht einfach leer stehen?“ fragte Mosca. „Das verstehst du nicht!“ erwiderte Scipio ein wenig gereizt. „Das hat was mit Image zu tun. Mein Vater ist ein wichtiger Mann, er kann es sich nicht leisten, ein altes Kino verfaulen zu lassen. Was sollen die Leute von ihm denken? Also macht er jetzt Alarm, denn wenn ihm niemand diese schwere Bürde abnimmt, dann muss er es für viel Geld abreißen lassen!“ „Wie viel von dem Falschgeld des Conte ist noch übrig?“ fragte Prosper. Wespe sah ihn erschrocken an. „Bist du verrückt? Wir können das STELLA nicht mit Falschgeld bezahlen!“ „So besonders viel ist eh nicht mehr da!“ sagte Riccio. Als Victor ihn schräg von der Seite ansah, wurde er rot. „Also, ich glaube das mit dem STELLA können wir vergessen!“ sagte Ida abschließend. „Keiner von uns hat auch nur annähernd genug Geld, um euer altes Kino zu kaufen.“ „Trotzdem gut zu wissen, dass vielleicht irgendjemand es kauft und neu eröffnet!“ sagte Riccio ärgerlich. “Dann können wir in die Vorstellungen gehen und sehen, wie irgendwelche fremden Leute ihre Cola auf den Fußboden verschütten, den wir geschrubbt haben, und ihr Popcorn unter die Sitze kleben, auf denen wir immer gesessen haben. Wenn wir Glück haben, dann legen sie sogar einen Fußabtreter an die Stelle, an der wir unsere Betten hatten!“ Mit diesen Worten stapfte er aus der Küche. Kapitel 5: Barbarossas Erbe --------------------------- Kapitel 5: Barbarossas Erbe „Wir finden schon raus, was mit dir passiert ist!“ sagte Prosper zu Scipio, als Wespe, Bo und er diesen zurück nach Hause brachten. Victor war noch bei Ida geblieben, er hockte oft stundenlang bei ihr herum und trank ihren Kaffee. Meistens, wenn Scipio an der Reihe war, die Fälle zu übernehmen. Doch heute würde Scipio kein Detektiv sein und niemand im Büro von Victor Getz würde die Aufträge annehmen. Er hatte sein Detektivbüro für einen Tag geschlossen. „Darum geht es im Moment nicht!“ antwortete Scipio und verkroch sich noch tiefer in seinem Mantel, als ein paar Leute auf sie zukamen. Sie schlenderten jedoch vorbei, ohne den seltsamen Jungen mit der Vogelmaske auch nur eines Blickes zu würdigen. „Ich denke, das STELLA ist im Moment wichtiger!“ Wespe seufzte. „Scip, wir würden das Kino alle gern zurückkaufen. Aber du musst doch einsehen, dass das unmöglich ist!“ Scipio rümpfte die Nase. „Wir haben noch überhaupt nichts probiert. Wir können noch nicht aufgeben.“ „Hast du etwa eine Idee, Scip?“ fragte Bo und sah ihn erwartungsvoll an. „Hast du?“ Scipio fuhr mit den Fingern über den Rücken seiner Vogelnase. „Noch nicht. Aber mir fällt schon was ein!“ „Klar, dir fällt ja immer was ein!“ erwiderte Wespe und verdrehte die Augen hinter Scipios Rücken. Mehr als die Tatsache, dass Scipio sich etwas einfallen lassen wollte, wunderte Prosper, dass dieser in seiner Situation überhaupt an das STELLA denken konnte und dieses sogar für wichtiger hielt als seine zurückerhaltene Kindheit. Vielleicht, dachte Prosper, vielleicht gab es ja tief in seinem Inneren einen Scipio, der sich freute, wieder ein Kind zu sein. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Bis Scipio plötzlich stehen blieb. „Was ist los?“ fragte Prosper. „Ich glaube, ich habe eine Idee!“ sagte Scipio. „Wann hat Paolo dem Rotbärtchen das letzte Mal seine Einnahmen überwiesen?“ Paolo war der neue Besitzer von Barbarossas Laden, ein schlaksiger, blonder Mann, der unglaublich eitel war. Seine Schuhe waren stets auf Hochglanz poliert, seine Hemden waren blütenweiß und seine Krawatte makellos gebunden. Keiner von ihnen mochte Paolo, und er mochte sie auch nicht. Er schien allgemein nur von Erwachsenen etwas zu halten. Wann immer Kinder an seinem Schaufenster stehen blieben und ihre Nasen an dem kalten Glas platt drückten, um die wunderschönen, glitzernden Dinge hinter der Scheibe zu bewundern, kam er aus dem Laden marschiert und verscheuchte sie. Ausgenommen natürlich, die Eltern der Kinder waren dabei. Dann schenkte er den Kleinen ein gequältes Lächeln und ein altes Karamellbonbon, während er ihren Eltern seine Kostbarkeiten zeigte. „Ist schon länger her!“ brummte Prosper. „Er überweist dem Fettsack sicherlich bald wieder etwas!“ „Dann ist also schon ein wenig zusammengekommen, stimmts?“ fragte Scipio weiter. Prosper nickte. Ein Grinsen machte sich auf Scipios Kindergesicht breit. „Was haltet ihr dann davon, unserem lieben Paolo heute Nacht einen kleinen Besuch abzustatten, der alten Zeiten wegen?“ „Du willst ihm die Einnahmen stehlen?“ rief Wespe und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als eine Reisegruppe sich neugierig zu ihnen umdrehte. „Ach, kommt schon. Der Fettsack hat genug Geld, und Paolo auch. Das wird sicher ein Kinderspiel!“ Da war es, das Leuchten in Scipios Augen. Nachts durch ein dunkles Haus schleichen, der Nervenkitzel, das Erfolgsgefühl nach einem gelungenen Raubzug. Noch einmal der Herr der Diebe sein, bevor er versuchte, wieder ein Erwachsener zu werden. Prosper konnte in diesem Moment in Scipio lesen wie in einem Buch. Er selbst hatte nie viel von Einbrüchen gehalten, ihm war so unwohl zumute gewesen, als er in Idas Haus eingebrochen war. Doch Scipios Lebenssinn hatte einmal darin bestanden, seinen eigenen Eltern wertvolle Dinge zu stehlen und seine Schützlinge glauben zu machen, er sei in Paläste und andere feine Häuser eingebrochen und niemals geschnappt worden. Prosper seufzte. „Also gut, meinetwegen. Was meinst du, Wespe?“ Wespe sah sich um. Dann nickte sie. „Abgemacht. Heute Nacht holen wir uns Barbarossas Geld!“ Scipio sah die beiden dankbar an. Er schien sich wirklich auf den Einbruch zu freuen, nachdem er ein Jahr lang Detektiv gespielt hatte. „Und ich komm auch mit!“ rief Bo. „Ja, Scip, ja?“ „Nein, tust du nicht!“ sagte Prosper ärgerlich. „Du bleibst bei Ida!“ „Wenn ihr mich nicht mitnehmt, dann schreie ich es so laut, dass alle wissen, dass ihr bei Paolo einbrechen wollt!“ erwiderte Bo und verschränkte die kurzen Arme vor der Brust. „Ach Bo, verdammt!“ sagte Prosper verzweifelt. „Komm schon, Prop!“ Scipio legte Bo die Hand auf die Schulter und grinste. „Wir nehmen ihn mit!“ Prosper warf Scipio einen vernichtenden Blick zu, doch er gab auf. Bo hatte schließlich nicht mehr und nicht weniger Erfahrung mit Einbrüchen als er selbst. „Komm schon, Bo!“ zischte Prosper, als er versuchte, seinen kleinen Bruder in ein enges, schwarzes Oberteil zu hereinzubekommen. „Sonst bleibst du hier!“ Bo strampelte und zappelte. „Nein, das ist unbequem! Ich will das nicht anziehen!“ Erschrocken presste Prosper ihm eine Hand auf den Mund. „Okay, okay, aber schrei nicht so, bitte. Sonst weckst du noch Ida auf!“ Ida war vor etwa einer Stunde ins Bett gegangen, in dem Glauben Prosper, Wespe und Bo schliefen schon. „Dann zieh halt deinen dunkelblauen Pulli an. Das geht auch!“ Bo nickte und schlüpfte hinein. „Deine Haare leuchten so.“ flüsterte Prosper und kaute aufgeregt auf seiner Unterlippe. „Hier“ sagte Wespe und zog Bo eine schwarze Mütze über die blonden Locken. Dann malte sie ihm das Gesicht ein wenig schwarz. Bo kicherte. „Das kitzelt!“ Wespe legte lächelnd einen Finger auf ihre Lippen, dann reichte sie Prosper die Farbe. Ihr eigenes Gesicht hatte sie ebenfalls schon geschwärzt, ihre dunklen Haare waren wie immer zu einem langen Zopf geflochten. Die Tür quietschte, als Prosper sie öffnete. Wenn alles so still war, dann hatte man das Gefühl, dass all die Geräusche, die man sonst jeden Tag hörte, doppelt so laut waren. Mit klopfendem Herzen lauschte Prosper hinaus in den dunklen Flur, doch Ida schien nicht aufgewacht zu sein. „Kommt!“ Auch die Treppe erschien ihnen lauter als sonst. Prosper wagte erst zu atmen, als er die Haustür hinter sich zugezogen hatte und die kühle Nachtluft ihnen entgegenschlug. Um halb drei wollten sie sich mit Scipio vor Barbarossas Laden treffen. Als sie ankamen, stand dieser schon draußen in der Kälte. „Da seid ihr ja endlich!“ flüsterte er ungeduldig. „Ich steh mir hier schon seit einer halben Stunde die Beine in den Bauch. Ich wäre fast allein reingegangen!“ „Fast!“ sagte Wespe. „Was können wir dafür, wenn du vor Aufregung viel zu früh kommst?“ Scipio warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Egal, lasst uns gehen!“ Er hatte wieder die gleichen schwarzen Lederhandschuhe an wie bei ihrem Einbruch in der Casa Spavento. „Mach die Tür auf, Scip!“ flüsterte Bo aufgeregt. Scipio lächelte und machte sich daran, das Schloss aufzubrechen. Bo sah ihm fasziniert dabei zu, während Prosper und Wespe Schmiere standen. „Ihr werdet sehen!“ sagte Scipio. „Bald gehört das STELLA ganz legal uns!“ „Was ist daran legal, etwas mit gestohlenem Geld zu kaufen?“ warf Prosper ein, doch niemand antwortete ihm. Früher hatten sie schließlich auch davon gelebt. „Achtung!“ flüsterte Wespe plötzlich. „Da kommt jemand!“ Scipio wirbelte herum und tat so, als würde er sich mit den anderen unterhalten. Eine Frau ging an ihnen vorbei, musterte sie einmal skeptisch und achtete dann wieder auf ihren Weg. Als ihre klackernden Schritte verstummt waren, wandte Scipio sich wieder seiner Arbeit zu. „Ich hab es gleich!“ sagte er. Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Mit einem leisen Klacken sprang das Schloss auf. Scipio öffnete die Tür. Im Laden roch es muffig, Paolo schien nicht viel von Durchlüftung zu halten. Die alten Holzdielen knarrten unter den Schritten der Kinder. Prosper blieb fast das Herz stehen, als er sah, dass Bo eine der kostbaren Figuren berühren wollte. Schnell hielt er seine Hand fest. „Wir dürfen keine Fingerabdrücke hinterlassen, Bo!“ flüsterte er. Scipio und Wespe standen inzwischen ein wenig ratlos vor Barbarossas Safe. „Hat jemand aufgepasst, als das Rotbärtchen für Renzo die Kombination eingegeben hat?“ fragte Scipio. Prosper nickte. „Ich glaube, ich weiß noch zwei der Zahlen. Ich hab mich umgedreht, als er mit seinen kleinen dicken Fingern die Kombination eingegeben hat!“ Scipio nickte. „Gut. Dann gib die beiden Zahlen ein, und die Dritte finden wir durch Ausprobieren heraus!“ Prosper machte sich an die Arbeit. Er wollte so schnell es ging wieder nach Hause. Nachdem er an dem dritten Rädchen eine Weile herumgespielt hatte, klickte der Safe. „Geschafft!“ flüsterte er glücklich und zog an der schweren Tür. „Was zum...?“ Der Safe war fast leer. Ein Hunderter flatterte heraus und landete auf dem Boden. „Das gibt es doch nicht!“ rief Scipio und drängte Wespe unsanft beiseite. „Verdammt! Dieses miese Schwein!“ Draußen waren Schritte zu hören. Die drei hielten den Atem an. „Da sind Polizisten!“ flüsterte Wespe. Ihre Stimme zitterte. „Vielleicht hat die Frau von eben die Polizei geholt!“ Die Schritte kamen immer näher. Scipio hockte sich hinter den Ladentisch. „Runter!“ zischte er. Die Tür flog auf. „Das Schloss wurde aufgebrochen!“ sagte einer der Polizisten. Ein Taschenlampenstrahl wanderte durch den Raum. Scipio wagte es nicht, zu atmen, doch er befürchtete, das Klopfen seines Herzens würde ihn verraten. Sie mussten es einfach hören. Es war so laut. Der eine Polizist fing an, auf den Safe zuzugehen. Er hatte einen Spitzbart. Wespe schossen vor Angst Tränen in die Augen. Prosper drückte ihre Hand, um sie zu beruhigen. Eine falsche Bewegung könnte sie verraten. „Hey, schau mal hier, der Safe!“ rief der Spitzbart seinem Kollegen zu. Dieser kam näher. Wespe und Scipio erkannten ihn. Es war der Mann mit dem Walrossbart, der Wespe ins Waisenhaus gebracht hatte. „Na, die scheinen ordentlich abgeräumt zu haben!“ sagte er, als er seinen Taschenlampenpegel in den leeren Safe wandern ließ. „Durchsuch mal den Raum!“ Die Kinder waren starr vor Angst. Sie rührten sich auch nicht als der Walrossbart seinen Strahl direkt auf sie richtete. „Hey, ich glaub ich hab unsere Einbrecher!“ rief er dem Spitzbart zu. Scipio stand auf und gab dem Mann einen Stoß vor die Brust. „Lauft!“ rief er. Langsam lösten sich auch die anderen aus ihrer Erstarrung, sie sprangen auf und rannten zur Tür, doch der Spitzbart versperrte ihnen den Weg. „Ganz ruhig!“ sagte er. „Ihr geht erst, wenn wir das sagen!“ Bo fing an zu Schluchzen. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter und trugen die schwarze Gesichtsfarbe in langen, nassen Spuren mit sich. Prosper nahm ihn in dem Arm. Wespe wandte ihr Gesicht ab. Wenn der Walrossbart sie erkannte, dann war alles vorbei. Scipio blickte starr vor sich hin. „Also“ begann der Spitzbart. „Ihr kommt jetzt erst mal mit aufs Revier. Und keine Zicken!“ Der Walrossbart schien etwas abgelenkt von Scipios Maske zu sein. „Nimm die Maske ab, Junge! Es ist zu spät!“ Scipio spürte, dass die Maske sowohl das Problem, als auch die Lösung war. Er packte sie an der Vogelnase und zog sie sich vom Gesicht. Der Walrossbart starrte ihn an. „Nun schau dir das an! Das ist Dottor Massimos Sohn!“ Der Spitzbart kam ungläubig näher. „Guten Tag, meine Herren!“ sagte Scipio, dann gab er den anderen unauffällig ein Zeichen. Als sie zu laufen begannen, setzte auch er sich in Bewegung und rannte zur Tür. Die Polizisten sprinteten hinterher. „Die holen uns ein!“ schrie Wespe. „Stehen bleiben, oder wir schießen!“ rief der Spitzbart hinter ihnen. Scipio lief plötzlich nach links und spaltete sich von den Anderen ab. Der Spitzbart verfolgte ihn, während der Walrossbart hinter den anderen herlief. Sie hörten einen Schuss. „Nein!“ rief Prosper und blieb stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Auch der Walrossbart hatte vor Schreck angehalten. „Lauf weiter!“ rief Wespe. Prosper fing wieder an zu rennen, er hörte die Schritte des Walrossbartes hinter sich, doch die Gedanken, dass Scipio getroffen wurde, rasten wie Blitze durch seinen Kopf. Wespe bog in eine so enge Gasse ein, dass der Walrossbart nicht hineinpasste und außen herum rennen musste. Durch diesen Vorsprung hatten sie ihn ein paar Gassen weiter abgehängt. Dennoch liefen sie alle drei ohne anzuhalten bis zu Idas Haus weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)