Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 35: ------------ Noch nie, wenn wir in die Baker Street heimgekehrt waren, hatte sie einen verlassenen Eindruck gemacht. Holmes und ich hatten natürlich keine Zeit verschwendet und waren sofort zurückgekommen, aber keiner von uns konnte sich vorstellen, was geschehen war. Holmes, der in den vergangenen Tagen einen Großteil seiner früheren Stärke zurück gewonnen hatte, war einmal mehr zurück in die Verzweiflung gefallen oder so schien es mir zumindest. Während der Heimreise im Zug hatte er sehr wenig gesagt. Er saß da, eingehüllt in einen wollenen Mantel, Muff und Schal, obwohl das Wetter ziemlich warm war, und beobachtete das Vorbeiziehen der Landschaft. „Es kann sicherlich nicht so ernst sein“, sagte ich zu ihm in Bezug auf Mrs. Hudson. „Sie hatte immer schon die Energie einer Frau mit der Hälfte ihrer Jahre. Es darf nicht so ernst sein.“ Holmes sah mich scharf an. „Versuchst du mich zu überzeugen oder dich selbst?“ Ich antwortete nicht. Ich ließ ihn in seiner elenden Stimmung und versuchte positiv zu denken. Aber zurück zur Baker Street. Ich kann mich nicht erinnern, unsere kleine Wohnung in der Nummer 221B jemals so dunkel und verlassen gesehen zu haben. Der Abend war angebrochen, doch niemand hatte die Gaslaterne neben der Türklingel angezündet. Auf den Stufen hatte sich der Schmutz und Staub einer ganzen Woche angesammelt. Als Holmes uns mit seinem Haustorschlüssel Einlass verschaffte, fanden wir das gesamte Haus schwarz wie die Nacht. Ein plötzlicher Schwall von Kälte kroch mein Rückgrad entlang. Irgendetwas war gänzlich falsch. „Es ist niemand hier, Holmes“, sagte ich leise. „In der Tat. Und das schon seit mehreren Tagen, wenn nicht länger.“ Er schob die Hände in seine Hosentaschen und blickte mit einem Stirnrunzeln in die Küche, wo die Überreste eines Frühstücks und ein Spülbecken voll mit dreckigem Geschirr lagen, alles war mit einer schmierigen weißen Schicht bedeckt. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo mein Sohn war, wenn nicht in der Baker Street. Das Telegramm hatte uns nur aufgefordert sofort zurückzukommen, ohne weitere Informationen. Wenn Mrs. Hudson schwer krank und im Hospital war, wer kümmerte sich dann um ihn? War er sich selbst überlassen geblieben? Ich hatte für meine neue Wohnung weiterhin eine Haushälterin beschäftigt, aber ich hatte sie für den Monat beurlaubt, da es keinen Sinn machte, ein leeres Haus sauber zu halten. Hier war niemand, dort war niemand und wohin sonst konnte er gehen? Holmes grinste höhnisch, bevor ich ein Wort sagen konnte und setzte sich den Hut zurück auf den Kopf. „Nun, hier werden wir nichts erfahren. Es ist Sonntag und wir können annehmen, dass dein neuer Partner wissen wird, was geschehen ist. Hast du seine Adresse?“ „Adresse? Oh, ja…natürlich. Er wohnt in New Cavendish, glaube ich.“ Aber er eilte bereits die Stufen hinunter und winkte einer Kutsche. Ich schluckte schwer. Ich bin überzeugt, dass Linwood Askew überrascht war uns beide zu sehen, obwohl er es gut verbarg. Als Junggeselle öffnete er die Tür selbst. Er trug nur ein bequemes Hemd und war gerade erst dabei, sich das Jackett anzuziehen. Erst viel später hatte ich die Zeit darüber nachzudenken, warum ich mir so sicher war, dass ihn der Anblick von Holmes und mir auf seiner Türschwelle schockierte. Ich kam zu dem Schluss, er hatte gedacht, dass wir nie mehr nach London zurückkehren würden. Er bot mir seine Hand und schüttelte sie herzlich. Holmes nickte er lediglich kurz zu. Auch wenn ich mich damals wahrhaftig wenig um Höflichkeiten gekümmert hatte. „Es tut mir wirklich sehr leid, John“, sagte er, während er uns hereinbat. „Ich wünschte, ich hätte Sie früher kontaktieren könnten, aber es gab anscheinend einige Unklarheiten bezüglich Ihres genauen Aufenthaltsortes.“ Immer diskret—ja, so war ich. „Ja, nun, es ist so…Holmes, er war…ziemlich krank und musste genesen. Ich hatte Mrs. Hudson von unserem genauen Reiseziel informiert, aber vielleicht wäre es besser gewesen“— „Es ist gänzlich meine Schuld, Dr. Askew“, unterbrach Holmes meine ziellosen Worte. „Ich brauchte einen kurzen Urlaub aufgrund von Überarbeitung und wollte, aus augenscheinlichen Gründen, meine kurzzeitige gesundheitliche Schwäche nicht bekannt werden lassen.“ „Natürlich.“ Askews linke Augenbraue hob sich. „Ich bin mir sicher, dass Verschwiegenheit für einen Detektiv unerlässlich ist. Es ist nur eine Schande, dass Sie nicht rechtzeitig zurückkehren konnten.“ Ich fühlte, wie mir die Luft aus den Lungen gedrückt wurde. „Rechtzeitig? Wofür?” Er blinzelte, so als wäre es offensichtlich. Aber bevor er antworten konnte, gab Holmes sich die Ehre. „Mrs. Hudson ist gestorben.“ Seine Stimme war ungewöhnlich sanft. Er wendete den Blick ab und ging nicht weiter darauf ein, woher er das wusste. „Gestorben?“ Askew nickte. „Aber Sie sagten, sie war krank! Nur krank! Herr im Himmel!“ Wie konnte sie tot sein? So plötzlich? Der logische Teil meines Denkens kannte dutzende Wege und war als Arzt dazu in der Lage, die Symptome objektiv zu beschreiben. Ich hatte hunderte, wenn nicht tausende von Leichen gesehen—junge und alte, manche bis zur Unkenntlichkeit entstellt und andere so schön und makellos, wie sie es im Leben gewesen waren. Es war allerdings einige Zeit her gewesen, dass mich ein Tod so schwer getroffen hatte. „Es scheint Apoplexie[1] gewesen zu sein. Ihr Junge kam letzten Mittwoch in die Praxis gerannt und schrie, dass seine ‚Mrs. Hudson’ krank war, dass sie starb. Ich ging mit ihm in Ihre Wohnung“— „Meine alte Wohnung“, sagte ich unwillkürlich. Ich konnte beinahe fühlen, wie Holmes neben mir erstarrte. „Ja“, sagte Askew. „Natürlich. Nun, ich muss leider sagen, dass sie bereits verschieden war, als ich sie fand. Es muss sich um einen massiven thrombotischen Verschluss gehandelt haben, aber glücklicherweise bin ich mir sicher, dass es schnell ging. Eine Gnade, heutzutage.“ „Wie wahr“, knurrte Holmes. Askew räusperte sich. „Sie müssen mich wegen dem irreführenden Telegramm für einen absoluten Widerling halten. Ich dachte nur daran, Sie zurück zu bringen und hatte mir überlegt, dass es angemessener sein würde, Ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen. Es gab keinen Grund, Sie zu erschrecken, wenn es nichts gab, dass Sie tun konnten.“ „Wie wahr“, sagte Holmes ein weiteres Mal. Ich war zu nichts weiter fähig, als stumm den Kopf zu schütteln. Mein Sohn war in James Parks’ Haus untergebracht. Von allen verdammten Orten. Aber dann erinnerte ich mich, dass mir Parks in einer heiklen Situation geholfen hatte und ich in seiner Schuld stand. Er glaubt, dass du ein Sodomit bist. Ich kletterte hinter Holmes in eine Kutsche. Die Ironie brachte mich beinahe zum Lachen. Und wie ich einer war! „Gibt es etwas Amüsantes, Watson?“ Seine Stimme war flach. „Nein. Nichts. Selbstverständlich nicht.“ Askew war weit selbstbewusster gewesen, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Und ich konnte sein Verhalten Holmes gegenüber nicht fassen. Ich hatte Wochen gebraucht, bis er endlich mit den exzessiven Fragen über ihn aufhörte. Und nun hatte Askew die Gelegenheit gehabt, ihn persönlich kennen zu lernen und dann nichts. Keine Aufregung, keine Nervosität. Er hatte einen aufrichtigen Eindruck gemacht, aber… Verdächtig. Steckte da etwa wieder James Parks dahinter? „Josh.“ „Was ist mit ihm?“ „Er wird mich für immer hassen“, murmelte ich. „Herrgott.“ Holmes rutschte auf seinem Sitzplatz herum, schweigend, bis unmittelbar bevor wir vor einem modischen Haus in Kensington anhielten, das ich nur zu oft mit meiner verstorbenen Frau besucht hatte. Er streckt plötzlich den Arm aus, drückte meine unverletzte Schulter und sagte: „Rede keinen Unsinn.“ Mrs. Parks, mit der ich an einem Zeitpunkt in der Vergangenheit vertraut genug gewesen war, um sie ‚Sarah’ zu nennen, öffnete die Tür selbst. Ich hatte sie damals seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, aber als sie meine Hand schüttelte, waren da immer noch das aufrichtige Lächeln und die Herzlichkeit. „Es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Haushälterin zugestoßen ist, Gentlemen. Mir ist bewusst, dass sie für Sie beide eine gute Freundin gewesen ist.“ Ich dachte an all die Kränkungen, die Mrs. Hudson über die Jahre erdulden musste. In der Form von Holmes’ gehaltlosen Beschwerden darüber, dass sie im Weg war, dass er sie dafür anschrie, dass sie seine ‚organisierte’ Unordnung aufgeräumt hatte und nach heißem Wasser verlangte. Sie hatte sich immer damit abgefunden. Ihre Hände hatten gezittert, als sie mir damals erzählt hatte, dass Holmes im Sterben lag[2]. Aber es war natürlich nicht wahr gewesen und ich wusste, dass sie es ihm niemals vollkommen vergeben hatte. Und doch erlaubte sie ihm zu bleiben. Und was noch wichtiger ist, er war tatsächlich geblieben. „Ja“, sagte ich. „Sie war in der Tat…gut zu uns.“ Holmes antwortete nicht. Er trat lediglich leicht von einem Fuß auf den anderen, die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt. Ich sah weg. „Ich kann Ihnen nicht genug danken, Sar…Mrs. Parks, dafür, dass Sie sich um Josh gekümmert haben. Und ich sollte auch James meinen Dank aussprechen. Ist er…ist er zuhause?“ „Nein, ich fürchte nicht.“ Gott sei Dank. „Josh ist ein entzückender Junge. Still. Wohlerzogen. Jungs können solche Rabauken sein.“ Sie lächelte. Holmes schnaubte. Dann tauchten drei kleine Köpfe auf—oder besser gesagt, zuerst nur zwei. Ein Junge und seine Schwester, Parks’ Kinder. James hatte mir bei beiden Geburten assistiert und doch konnte ich mich kaum an ihre Namen und ihr Alter erinnern. „Jimmie. Fannie.“ Mrs. Parks ging zu ihnen und nahm sie an die Hand. „Vergesst eure Manieren nicht. Ihr müsst Dr. Watson und Mr. Holmes Hallo sagen.“ Sie murmelten beide etwas Unverständliches in Richtung des Teppichbodens und rannten dann fort, während sie miteinander flüsterten. Beide sahen ihrem Vater sehr ähnlich. Ich hatte es vergessen. Das dritte Kind zeigte sich. Mein Kind. Er sah gebadet und wohlgenährt aus; seine Kleidung wirkte gewaschen. Er war nicht gewachsen und er war auch nicht mehr gealtert als wenige Wochen. Und doch schien etwas an ihm anders zu sein. Seine Haut war blass; das Gesicht eingefallen, völlig ausdruckslos. „Na, da bist du ja.“ Mrs. Parks strahlte. „Schau mal wer zu dir nach Hause gekommen ist.“ Josh sah sie an und dann mich. Eine kurze Sekunde lang leuchteten seine Augen, bevor sie wieder trübe wurden. Er rannte geradewegs auf Holmes zu und stieß einen Schrei aus: „Onkel!“ Und dieser hatte keine andere Wahl, als den Jungen in seine Arme zu heben, wenn er nicht niedergetrampelt werden wollte. Ich tätschelte linkisch seinen Rücken und murmelte „aber, aber“ oder eine andere unsinnige väterliche Beschwichtigung. Dankenswerterweise blieb mir weitere Verlegenheit erspart, denn er wehrte sich nicht dagegen. Er klammerte sich allerdings so fest an Holmes’ Nacken fest, wie er es mit seinen kleinen Händen nur konnte, das Gesicht an der Schulter des Mannes vergraben. Jeder würde ihn für den Sohn von Sherlock Holmes gehalten haben. Wer zum Henker war schließlich John Watson? Was spielte er im Große und Ganzen schon für eine Rolle? Ich bedankte mich noch einmal bei Mrs. Parks und bat sie, auch ihrem Ehemann meine Dankbarkeit auszusprechen, ganz egal wie dankbar ich dafür war, dass ich ihm nicht begegnen musste. Ich nahm die kleine Tasche meines Sohnes, während Holmes meinen Sohn nahm, der sich immer noch an ihn klammerte wie ein Ertrinkender an ein vorbeifahrendes Boot. Ich hielt mit meinem Stock eine Kutsche an und als das Gefährt gemächlich auf uns zu rollte, setzte ich dazu an, Baker Street als unser Ziel anzugeben. Der tatsächliche Stand der Dinge machte sich mir sehr schnell bemerkbar. Du lebst nicht mehr in der Baker Street, du alter Esel. Ich schloss meinen Mund. Holmes und ich sahen einander an, ich selbst voller Verwirrung er mit einer seltsamen Geduld, die der Kutscher offensichtlich nicht besaß. „Nun, wo soll’s jetzt hingehen, Gentlemen? Hab’ nicht den ganzen Tag Zeit.“ „Möglicherweise“, sagte Holmes mit merkwürdig ruhiger Stimme. „Möglicherweise, Doktor, wärst du so gut und bleibst ein paar Tage bei mir in der Baker Street.“ Ich zögerte, als sich mir zwei sehr feuchte blaue Augen flehend zuwandten. „Ich denke nicht, dass das wirklich angebracht wäre. Josh und ich sollten wahrscheinlich in die Wimpole Street zurückkehren. Nach Hause, meine ich.“ Mein Sohn stieß einen Schrei aus, der das arme Pferd halb zu Tode erschreckte. „Nein! Nein! Ich geh’ nicht mit dir! Ich geh’ mit Onkel!“ Ich war so schockiert, dass ich zurück taumelte. Ich hätte es niemals gewagt, so mit meinem eigenen Vater zu sprechen. Das hätte eine höllische Tracht Prügel bedeutet. Aber bevor ich ihn zurechtweisen konnte, hatte Holmes seine ernsteste Miene aufgesetzt. „Sei still, Junge“, sagte er streng. „Es gibt keinen Grund, zu kreischen wie eine Banshee. So, jetzt bleib hier bei der Kutsche und rühr dich nicht!“ Zu meinem Erstaunen gehorchte er noch in dem Moment, da er auf die eigenen Füße gestellt wurde, stand still und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. „Watson, auf ein Wort, wenn ich bitten darf.“ Er packte mich grob am Arm und führte mich ein paar Schritte weg, sodass er nicht mithören konnte. Trotzdem sprach er mir direkt ins Ohr mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Zischen. „Jetzt ist nicht die Zeit für irgendwelche fehlgeleiteten Wahnvorstellungen“— „Fehlgeleitete Wahnvorstellungen!“ „Mrs. Hudson ist tot.“ Sein Griff wurde fester. „Momentan sind wir die einzigen Menschen, die etwas für sie tun können. Sie liegt immer noch in der Leichenhallen, während wir hier sprechen.“ „Das—nun—ja, das ist wohl so.“ Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. „Briefe und Telegramme müssen aufgegeben werden, jemand muss mit einem Bestattungsunternehmen sprechen, alles muss arrangiert werden, ganz zu schweigen davon, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, was John Sherlock ertragen musste.“ „Was?“ Ich blickte über die Schulter zu seiner kleinen Gestalt. „Wie meinst du das?“ „Um Himmels Willen! Sie ist zweifellos vor seinen Augen gestorben. Und wir waren nicht da. Er hatte niemanden.“ Ich schluckte, war nicht länger fähig, ihn anzusehen. Ich erinnerte mich. Erinnerte mich, dass Phillipa Holmes vor den Augen ihres Bruders gestorben war. Und nun war meinem Kind etwas Ähnliches geschehen. „Verdammt“, murmelte ich und rieb mir die Augen. „Ja, ja, natürlich hast du recht. Wie gewöhnlich. Wir kommen mit dir zurück in die Baker Street. Zumindest bis—bis—zum Begräbnis.“ In den nächsten ein, zwei Tagen gab es keine Zeit zu ruhen oder gar sich mit Sorgen oder „Wahnvorstellungen“ zu beschäftigen. Der Junge weigerte sich nach seinem Wutausbruch, zu sprechen, selbst mit Holmes. Ich wusste nicht ansatzweise, was ich tun sollte, mein Kopf drehte sich bereits von dem plötzlichen Schock. Zu allererst einmal war ich zu der unwürdigen Erkenntnis gezwungen, wie wenig ich in Wirklichkeit über Martha Hudson wusste. Sechzehn Jahre lang hatte sie uns bekocht, für uns gewaschen, ja sich geradezu um uns gekümmert und ich musste mich erst wie verrückt durch sorgfältig aufbewahrte Papiere und Briefe wühlen, um die Namen ihrer Freunde und Verwandten zu finden. Natürlich war Holmes, der sich an jedwede Fakten erinnert, denen er jemals ausgesetzt war, eine größere Hilfe und nannte sofort den Namen Judith Turner. Sie hatte für eine kurze Zeit die Wohnung ihrer Schwester übernommen, als Mrs. Hudson gegangen war, um sich um ihren sterbenden Sohn zu kümmern. Sie lebte in Surrey und wir gaben sofort ein an sie adressiertes Telegramm auf. „Ich hoffe sicherlich, dass sie wissen wird, wenn wir sonst noch kontaktieren sollten“, sagte ich zu Holmes spät in der nächsten Nacht, als wir im Wohnzimmer saßen, wie wir es schon tausende Male zuvor getan hatten. „Zu meiner Demütigung muss ich zugeben, dass ich nicht einmal weiß, welche ihrer Kinder noch leben.“ Er schnaubte und hielt eine abgenutzte Bibel hoch. „Du vergisst das Offensichtliche. Laut dem, was hier steht, verweilen von ihren vier Söhnen nur Andrew, benannt nach seinem Vater und der älteste Sohn, und Robert Hudson, der dritte Sohn, noch in dieser Welt. Der zweite Junge, Seamus, starb ’88—daran erinnerst du dich doch sicher? Und der jüngste Sohn hieß Ian. Sein Todesdatum ist hier angegeben als Juni ’77, als er gerade mal zwanzig Jahre alt war.“ Holmes hielt einen Moment inne und es schien, als ob er mich beobachtete, ohne mich direkt anzusehen. „Sicherlich wird dieser Andrew Hudson in der Lage sein, seine Tochter zu kontaktieren. Julia“, sagte er. „Ich fand seine Adresse bei den Papieren unserer Haushälterin.“ „Julia?“, rief ich und setzte mich etwas gerader hin. „Ja. Ich fürchte, ich konnte keine Adresse der jungen Vagabundin finden.“ Er erhob sich langsam und schritt hinüber zum Sodaspender. „Es ist wahrscheinlich, dass sie immer noch das Königreich mit einer Schauspielertruppe bereist.“ Später erkannte ich natürlich, dass er sie nur erwähnt hatte, um meine Reaktion darauf zu prüfen und ich war sicher, dass er sich keine große Mühe gegeben hatte, sie aufzuspüren. In jenem Moment allerdings war ich vollkommen überrascht—zum Teil, weil ich die reizende Miss Hudson beinahe vergessen hatte. Und zum Teil wegen der Schuld, die natürlich zusammen mit der Erinnerung an sie zurückkam. Ich würde es nicht leugnen, zumindest nicht jetzt, dass ich mich wegen meinem Verlangen nach ihr Holmes gegenüber grässlich benommen hatte. „Ich…ich hatte Julia ganz vergessen, Miss Hudson meine ich“, sagte ich und ließ mir von Holmes einen zweiten Whiskey reichen. „Hast du das?“ „Nun ja, vergessen vielleicht nicht. Ich meinte bloß, dass ich nicht an sie gedacht hatte. Sie wird natürlich am Boden zerstört sein, ohne Zweifel.“ „Ohne Zweifel wird sie eine ausreichend starke Schulter vorfinden, an der sie sich ausweinen und Trost suchen kann.“ Er setzte sich schwungvoll in seinen Armsessel und verschüttete einen Teil seines Getränks, was er mit einem leisen französischen Fluch quittierte. „Ja, das wird sie sicherlich.“ Ich ignorierte absichtlich den vorwurfsvollen Tonfall. Danach schwiegen wir beide für mehrere Stunden. Worte schienen nicht nötig und vielleicht hatte die Ungeheuerlichkeit der letzten achtundvierzig Stunden uns schließlich niedergedrückt. Keiner von uns drei hatte mehr gegessen als etwas hartes Brot oder überreifes Obst. Auch hatte keiner von uns dreien von der Zukunft gesprochen, wie anders es sein würde, jetzt wo Mrs. Hudson fort war. Jegliche Entscheidungen, jegliche neuen Pläne oder Veränderungen, über die ich nachgedacht haben mochte, sei es nun bewusst oder anderweitig, waren verstümmelt worden, verstreut wie Staub in einer steifen Brise. Von den vielen Gedanken, die an mir nagten, konnte ich nur einen einzigen in Worte fassen: Julia. Früh am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, kam Mrs. Judith Turner an und übernahm das Kommando. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht, dünn und ledrig, und begann zu meiner Erleichterung sofort damit, die Küche wieder in Gang zu bringen. Der köstliche Geruch von frischem Porridge, Bratkartoffeln und Schinken war genug, um mir die Dame sympathisch zu machen, denn ich war am Verhungern. Wir waren uns natürlich schon einmal begegnet, vor vielen Jahren, als sie, wie Holmes gesagt hatte, Mrs. Hudson kurzzeitig vertreten hatte, weil diese nach Hause zurück gekehrt war, um sich um einen ihrer Söhne zu kümmern, der schließlich der Schwindsucht erlag. Sie lächelte freundlich, als sie das Frühstückstablett vor mich hinstellte und ich ihr sowohl meinen Dank als auch mein Beileid aussprach. „Martha ist heimgekehrt, heim zu ihrem Andrew und den Kleinen. Ich bin sicher, dass sie von uns keine Tränen gewollt hätte, Sir.“ Ich war mir sicher, dass sie recht hatte, auch wenn ich bemerkte, dass sie sich mit der Schürze an die Augen fuhr, als sie mich mit einem einsamen Mahl alleine ließ. Sowohl Holmes als auch Josh schliefen noch. Und das taten sie auch noch, als ich fertig war. Da ich keinen der beiden wecken wollte, zog ich mich leise an und wollte nach meiner Wohnung sehen, die nun beinahe einen Monat lang gänzlich verlassen war. Da ich dort alles vorfand, wie es sein sollte und ich Askew meiden wollte, entschied ich mich, nicht nach meiner Praxis zu sehen. Ich war immer noch nicht bereit dazu, ihm gegenüber zu treten. Julia. Ihr Gesicht, das während der letzten sechs Monate seit unserem ersten und einzigen Treffen in meinem Unterbewusstsein geschlummert hatte, kehrte langsam zurück. Als ich gemächlich zurück Richtung Baker Street spazierte, erlaubte ich mir, mich zu erinnern: die schöne Haut und das rotbraune Haar. Liebliche blaue Augen. Blaue Augen hatten mich schon immer ihren Bann gezogen. Ihre ungezwungene Art und ihre reizende Anmut. Sicherlich hatte jeder sehen können, wie gut wir miteinander ausgekommen waren. Und doch… Was zur Hölle tat ich da eigentlich? Sie war praktisch gesehen immer noch ein Kind, konnte nicht älter als einundzwanzig gewesen sein und ich war, nun…wirklich alt genug, um es sowohl besser zu wissen, als auch ihr Vater zu sein. Und außerdem, was zum Teufel brachte mich überhaupt auf den Gedanken, dass sie als Schauspielerin keinen Erfolg gehabt hatte? Sie würde sicherlich nicht lange in London bleiben und in ein paar Tagen würde sie wieder fort sein und ich würde sie wahrscheinlich nur sehr selten sehen, wenn überhaupt. Und dann natürlich war da noch Holmes… Ganz zu schweigen von Josh, der vielleicht nie wieder mit mir sprechen würde. Ich rief nach ihnen beiden, als ich zuhause ankam, aber ich bekam keine Antwort. Die Tür zum Wohnzimmer stand leicht offen und gerade, als ich sie ganz aufmachen wollte, hörte ich Stimmen. Ich blieb stocksteif stehen und hörte zu. „Ich würde mir wirklich wünschen, du würdest mit mir reden“, sagte Holmes gerade. Ich schob mich ein wenig näher zur Tür, sodass ich sie sehen konnte. Josh saß in meinem Sessel, die Arme um seine angezogenen Knie geschlungen, das Kinn darauf abgestützt. Sein Gesicht war hinter einem Arm versteckt. Er murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Sie trugen beide noch ihre Pyjamas. Holmes saß gegenüber, wie er es oft mit mir tat, in seinem eigenen abgenutzten Korbsessel. Erstaunlicherweise rauchte er nicht, ein sicheres Zeichen, dass er sich Sorgen machte. Sein Gesichtsausdruck sah eindeutig danach aus. Oder etwa nicht? Vielleicht war es bloße Neugier. Die Brauen waren zusammen gezogen, die blassen Augen ein wenig verengt, während sie den Jungen eingehend studierten. Die Lippen waren verzogen, arrogant wie immer, genau wie das verdammte sture Kinn. Aber die Stimme. Die Stimme war ruhig. Sogar sanft. „Josh, mein lieber Junge, zwischen uns hat es doch niemals Geheimnisse gegeben. Oder? Ich will doch nichts, als dir zu helfen.“ Meine Hand rutschte ein Stück vom Türstock ab. Vor drei Jahren hätte nicht niemals geglaubt, dass Sherlock Holmes überhaupt dazu in der Lage war, so zu sprechen, so… liebevoll. Der Junge hob den Kopf. Seine Wangen und Augen waren gerötet und seine Nase tropfte ein wenig. „Keine Geheimnisse, Onkel.“ Holmes reichte ihm ein Taschentuch. „Dann erzähl’ es mir. Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, was Geständnisse für die Seele tun können.“ Keine Geständnisse, Holmes. Ich fühlte, wie meine Augen sich schlossen. Josh hatte sich die Nase geputzt und seinen Kopf gegen die Stuhllehnen gelegt, die nassen Augen zur Decke gerichtet. Ich habe niemals einen solchen Blick an einem Kind gesehen. „Wir waren in der Küche“, begann er, die Stimme immer noch heiser vom Weinen. „Sie machte gerade einen Kuchen. Einen Zitronenkuchen. Und es roch so gut. Aber Mrs. Hudson rieb sich die ganze Zeit den Kopf. Sie sagte, dass sie sich nicht gut fühlte und dass sie hofft, du und Papa kommt bald nach Hause, damit sie sich eine Woche ins Bett legen kann“— Holmes’ Arm zuckte näher zu seiner Brust. „Sie hat damit nicht gemeint, dass du eine Last warst.“ Seine Unterbrechung war so vollkommen herrisch und plötzlich, dass ich wusste, dass er in Wahrheit das Gegenteil dachte. Schuld begann meinen Magen zu fluten. Joshs Stimme hob sich um eine Oktave. „Sie fiel auf den Boden…und sie schrie. Sie griff sich an den Kopf und dann hat sie aufgehört zu schreiben, aber sich immer noch bewegt. Da war Blut auf ihrem Gesicht und ihrem Ohr. Blut und ich…ich hab mir die Augen zugehalten und die Ohren. Ich hab sie nicht sehen wollen. Ich hab mir gewünscht, dass sie aufhört. Dass sie wieder aufsteht und den Kuchen fertig macht.“ Fast eine Minute lang schwieg Holmes und blinzelte nur. „Was dann?“ „Nun…es wurde dunkel. Niemand ist gekommen. Mrs. Hudson ist nicht aufgestanden und ich war furchtbar hungrig. Und ich konnte meine Beine nicht bewegen. Meine Beine waren ganz steif, weil ich mich nicht bewegt hatte. Ich hab’ versucht aufzustehen, weil ich aufs Klo musste. Aber meine Beine haben zu lange gebraucht. Ich…hatte ein Missgeschick.“ Seine Ohren und Wangen brannten rot, aber er sprach weiter: „Ich hab’ mir andere Sachen angezogen und bin rausgegangen. Ich wusste, dass Papas Freund, Dr. Askew, kommen würde, wenn ich ihn finden konnte. Ich wollte, dass er Papa holt, damit der Mrs. Hudson wieder gesund machen kann. Ich hab’ ihn gefunden, als er gerade die Praxis verriegelt hat und bat ihn, nach Mrs. Hudson zu sehen. Er meinte, ich wäre doch Watsons Sohn, oder? Ich sagte ja, das bin ich und dass Mrs. Hudson krank war. Ich sagte, dass überall Blut war und dass ich zu lange gewartet hatte… Ich wusste, dass ich früher hätte kommen sollen, aber das hab ich ihm nicht gesagt, weil ich dachte, er würde mich vielleicht schlagen. Er fragte mich, ob Papa schon zurück war und ich sagte nein. Er kam mit und wir sind zurückgegangen…sie war immer noch da und er fragte, wie lange sie schon tot war…“ Er hielt inne um zu schlucken und seine Wörter verrannen ineinander und er wirkte sehr kindlich. „Er war sehr böse mit mir und schrie. Er sagte, ich soll in mein Zimmer gehen und dort bleiben, bis er herausgefunden hat, was mit mir gesehen soll. Ich hab geglaubt, dass man mich einsperren würde, weil ich Mrs. Hudson umgebracht hatte“— „Du hast sie doch nicht umgebracht! Großer Gott, auf keinen Fall!“ Holmes schüttelte den Kopf und packte den Jungen bei den Schultern. Seine Augen waren erfüllt von wildem, bebenden Gefühl. „Ein seltsamer Zug scheint das zu sein, der da vom Vater auf den Sohn übergegangen ist und der beide dazu bringt, sich für Todesfälle verantwortlich zu machen, die sie genauso wenig hätten verhindern können, wie sie die Sonne vom Scheinen abhalten könnten!“ Er seufzte tief, nahm den Jungen und setzte ihn auf seinen Schoß, den einen langen Arm beschützend um ihn geschlungen. „Und dagegen ich selbst, der ich geradezu der Katalysator eines vorzeitigen Todes war und doch habe ich Jahre damit verbracht, vom genauen Gegenteil überzeugt zu sein.“ Ich weigerte mich, diese Worte in irgendeiner Weise auf mich wirken zu lassen. „Und wie würde James Parks in diese Angelegenheit verwickelt? Ah, du brauchst nichts zu sagen! Er war sicherlich der Polizeiarzt, der damit beauftragt wurde, die Leiche wegzubringen und nach der Todesursache zu untersuchen. Wie lang hat dieser verkommene Askew dich allein gelassen?“ Josh zuckte mit den Achseln. „Es kam mir sehr lang vor. Ich war so unglaublich hungrig, aber ich hab mich nicht getraut ihn um ein Abendessen zu bitten, damit er nicht noch wütender wird. Also bin ich schlafen gegangen. Manchmal hab ich von unten Männer schreien gehört. Auch Möbel haben sie verrückt, glaub ich. Ich hab mich gefragt, ob mich vielleicht niemals jemand holen kommen würde. Nie mehr.“ Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Tritt in den Magen verpasst. „Als ich aufgewacht bin, war Mrs. Parks da. Ich hab mich nicht an sie erinnert, aber sie hat gesagt, wer sie ist und dann hab ich mich erinnert. Ich war bei ihr zuhause. Sie war sehr nett und hat mir Suppe und Brot und Milch gegeben. Alle haben mir viele Fragen gestellt, wo du und Papa wart, aber ich wusste es nicht. Also haben sie mich zu Fannie und Jimmie und ihrem Kindermädchen geschickt, aber die waren ganz komisch. Ich mochte sie nicht.“ „Und warum mochtest du die Parkskinder nicht?“ Holmes Frage spiegelte die meine wider. „Sie konnten nicht lesen. Und sie haben mich gehaut. Und einander. Manchmal auch das Kindermädchen. Einmal hat Fannie ein Buch nach mir geworfen.“ Holmes hob eine Augenbraue. „Was hast du getan?“ „Ich hab gesagt, dass kein Mann sie je heiraten würde, weil sie so gemein ist.“ „Ha! Wie wahr!“ „Onkel?“ „Ja?“ „Bist du und Papa nur wegen Mrs. Hudson zurückgekommen?“ Ich glaubte, ich sah, wie Holmes’ Augen sich verengten. Vielleicht lag ich falsch. „Was willst du wirklich fragen, Junge?“ Er zögerte, seine Kehle zog sich um den letzten Schluchzer zusammen. „Nun ich hab gedacht…vielleicht würdet ihr nie mehr wieder kommen. Vielleicht würdet ihr mich für immer verlassen.“ „Eine recht extreme Reaktion.“ Holmes’ Stimme war streng, dann sanfter. „Und doch kann es dir kaum vorgeworfen werden. Aber du glaubst doch nicht wirklich, dein Vater würde dich verlassen?“ Er zuckte mit den Schultern, zuckte bloß mit den Schultern, so als wäre die Frage, ob er das Gefühl hatte verlassen worden zu sein oder nicht, nicht wichtiger als welche Eiscremesorte er haben wollte. „Ich glaub’ nicht“, sagte er schließlich. „Das würde ich niemals. Josh.“ Ich konnte nicht länger heimlicher Zuhörer bleiben. Als ich ins Zimmer trat, wandte er mir sein nasses Gesicht zu. Sein Mund öffnete sich leicht. Ich fühlte mich, als wären meine Füße am Boden festgenagelt. Keiner von uns bewegte sich. „Josh“—meine Stimme wurde langsam heiser—„Bitte.“ Er stand auf, machte einen Schritt auf mich zu. Aber eine Hand blieb auf Holmes’ Knie. Ich konnte es kaum ertragen, vor meinem eigenen Kind zu weinen—solche Schwäche zu zeigen, aber am Ende versagte ich und brach völlig zusammen. „Es tut mir Leid, Sohn. So unglaublich Leid.“ Plötzlich war er in meinen Armen. Ich hatte ihn nicht kommen gesehen. Er klammerte sich an meinem Hals fest, wie er es am Tag davor bei dem seines Paten getan hatte, so als wollte er mich erdrücken. Es war mir egal. Als ich schließlich aufgehört hatte, wie ein Narr zu schluchzen, sah ich, dass Holmes neben seinem Sessel stand. Zum ersten Mal seit Tagen lächelt er. Vielleicht sogar zum ersten Mal seit Wochen. Am Tag vor dem Begräbnis, brach ich von der Baker Street auf, um Julia Hudson von ihrem Zug an der Victoria Station abzuholen. Als ich ihn fragte, ob er mich begleiten wollte, starrte Holmes mich nur finster an. Josh dagegen bettelte darum, mitkommen zu dürfen und ich konnte es ihm nicht abschlagen. Es war das erste Mal seit langem, dass er meine Gesellschaft der seines Paten vorgezogen hatte. Mittlerweile war es beinahe April und das Wetter hatte sich zum Besseren gewendet und so gingen wir zu Fuß. Der Junge trottete neben mir her, schweigend, die Hände in seine Taschen gesteckt. Er starrte ständig zum Himmel. „Wonach suchst du? Vögel?“ Er schüttelte den Kopf. „Glaubst du, Mrs. Hudson ist im Himmel? Bei Mama und meiner kleinen Schwester?“ „Natürlich tue ich das.“ Seine Augen verengten sich und er hatte große Ähnlichkeit mit jemandem, den ich nur zu gut kannte. „Aber woher weißt du, dass es den Himmel wirklich gibt? Vielleicht ist das nur Einbildung.“ „Das glaube ich nicht.“ „Du kannst das nicht sicher wissen.“ „Nun, ich würde sagen, das ist wahr. Aber was ich sehr wohl weiß, ist dass sowohl deine Mutter als auch Martha Hudson wundervolle Frauen wahren, Damen von höchstem Kaliber und wenn es einen Himmel gibt, woran ich glaube, dann sind sie beide mit Sicherheit jetzt dort.“ Er sah nicht überzeugt aus, selbst als er nickte. „Darf man fragen, warum du plötzlich an der Existenz des Himmels zweifelst?“ Ich runzelte die Stirn. „Hat Holmes dir das eingeredet?“ „Oh nein. Onkel hat gesagt, dass es ihn gibt.“ Ich war geschockt. „Wirklich?“ „Er hat gesagt, dass es eine sehr kleine Zahl von Leuten gibt, die zu gut für diese Welt sind, die einfach an einen anderen Ort gehören…ich glaube, er hat es Paradies genannt. Ewig währendes Paradies. Diese Welt ist zu schändlich, als dass ihre Seelen hier verweilen könnten. Also muss es so etwas wie den Himmel geben…ich weiß nicht. Er hat ganz viele Sachen gesagt.“ Verblüfft konnte ich nichts anderes tun, als zu nicken. Ich hätte niemals gedacht, dass Sherlock Holmes etwas Derartiges glauben könnte. Auf seine Art und Weise machte es natürlich Sinn. Er würde daran glauben müssen, dass seine Schwester an einem solchen Ort war. Seine Schuldgefühle bezüglich ihres Todes (von deren Unrechtmäßigkeit ich fest überzeugt war), zwangen ihn dazu, sie an einem Ort zu sehen, der besser war als das, was sie auf der Erde gehabt hatte. Es war genau so, wie es mir mit Mary ging. Wie unheimlich ähnlich wir beide uns manchmal waren. Josh brachte das Thema nicht noch einmal auf und wir hatten eine angenehme Unterhaltung über Themen, wie sie für Vater und Sohn angemessen waren: Ausflüge zum Angeln, Bücher (im Moment war er begeistert von den Arthussagen), Fußball (worüber er so gut wie nichts wusste) und Tiere (worüber er eine ganze Menge wusste). Als wir am Bahnhof ankamen, erfüllte der Geruch von Kohle unsere Nasen und stach in unsere Augen. Ich war plötzlich voller merkwürdiger Unsicherheiten. Etwa sechs Monate waren vergangen, seit ich sie gesehen hatte und ich machte mir Sorgen darüber, was ich sagen oder tun sollte. Wir hatten einander kaum mehr als einen Tag gekannt. Ich fragte mich, warum ich so ein dummer Esel war. ‚Sie ist doch nicht einmal hier, um dich zu besuchen, du alter Narr. Sie hat ihre Großmutter verloren. Das war es, was ich mir selbst einredete, aber ich glaubte meine eigenen Worte nicht. Meine Hände waren völlig verschwitzt. Sie war die Erste, die aus dem Zug ausstieg und erkannte mich sofort. Sie war zwar für die Trauerzeit angemessen gekleidet, aber sie hatte eine entschiedene Fröhlichkeit an sich, die ihr Gesichtsausdruck nicht verstecken konnte. Ich sah darin nichts Verwerfliches. Sie konnte nichts dafür, dass sie ein von Natur aus lebensfroher Mensch war. Ihre Wangen und Augen glänzten und sie legte ihre Hand in meine, bevor ich auch nur Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. „Wie freundlich von Ihnen, dass Sie mich abholen, John! Sie müssen so erschüttert sein wegen Großmama“—sie hielt inne und hielt sich die Hand vor den Mund. „Das sind wir alle, meine liebe Miss Hudson.“ Ich drückte ihre Hand und griff nach ihrem Reisekoffer. „Und ich wünschte wirklich, dass es angenehmere Umstände wären, die dafür sorgen, dass Sie die Baker Street wiederum mit ihrer Anwesenheit beehren.“ „Julia“, erinnerte sich mich. „Ah, John! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es bedeutet, wieder unter Freunden zu sein. So viele Monate lang bin ich nur unter Fremden gewesen…aber natürlich sollte diese Geschichte lieber ein andermal erzählt werden. Kleiner Josh, mein Liebling, es ist wirklich wundervoll dich wiederzusehen. Wie geht es dir?“ Er trat von Fuß zu Fuß, vermutlich peinlich berührt weil sie ihn „kleiner Josh“ genannt hatte. In seiner männlichsten Stimme antwortete er: „Es geht mir sehr gut, Ma’am. Und Ihnen?“ Sie lachte fröhlich. „So ein vollkommener kleiner Gentleman! Wie der Vater, so der Sohn, heißt es. Aber du musst mich auch „Julia“ nennen. Ich fühle mich noch kaum alt genug für solche Förmlichkeiten wie ‚Ma’am’. Und wir sind doch Freunde, oder Josh?“ „Ich glaub’ schon.“ Er war einen neugierigen Blick auf ihren Arm, der sich bei mir eingehakt hatte, bevor er mir in die Augen sah. Augenblicklich hatte er Miss Hudson um ihren kleineren Koffer erleichtert und hoppelte vor uns her. Ich fragte mich, was dieser Blick zu bedeuten hatte. „Du musst ihn entschuldigen“, sagte ich, als wir langsam hinaus in den Sonnenschein traten. „In letzter Zeit sticht ihn der Hafer ein wenig. Und er hatte eine harte Zeit, seit Mrs. Hudson von uns gegangen ist.“ „Jungs sind nun einmal Jungs.“ Ich bot an, uns eine Kutsche zu nehmen, aber Julia bestand darauf, dass sie sich nach der langen Zugfahrt die Beine vertreten wollte. Der Junge trottete voraus, wobei er immer wieder anhielt und wartete, bis wir ihn eingeholt hatten, nur um dann wieder vorauszueilen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er uns auf diese kindliche Art und Weise im Auge behalten wollte. Aber ich bezweifelte, dass Miss Hudson es bemerkte, also ließ ich es ihm durchgehen. „Es ist wirklich schön Sie zu sehen, John“, sagte sie nach einiger Zeit. „Trotz den traurigen Umständen. Es fühlt sich an als ob… ich wieder unter Freunden wäre.“ „Das sind Sie in der Tat. Und ich glaube, ihr Onkel Robert sollte noch heute Abend eintreffen. Sie freuen sich sicher schon darauf, ihn zu treffen.“ Sie lächelte. Und antwortete nicht. „Äh…“ Ich beeilte mich, das Thema zu wechseln. „Eine Schande, dass Ihr Vater Sie nicht begleiten konnte.“ Ihr Lächeln verblasste. Der Griff um meinen Arm wurde fester. „Oh, es tut mir Leid, meine Liebe. Habe ich etwas Falsches gesagt? Geht es ihrem Vater…nicht gut?“ Sie nickte langsam. „Schon seit Jahren nicht mehr. Der Fluch, der so viele anderweitig gesunde Männer dahinrafft.“ Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Alkohol, meine ich.“ Ich nickte und dachte an meine eigene Familie. „Das tut mir Leid. Ich habe auch meine Erfahrungen mit seiner üblen Macht. Nicht ich selbst, natürlich“, fügte ich schnell hinzu. „Aber sowohl mein Vater als auch mein Bruder.“ Es schien mir, dass sie erleichtert war, dass zu hören. Wir sprachen nicht mehr, bis wir in die Baker Street einbogen. „Wir haben scheinbar wirklich sehr viel gemeinsam, John.“ Robert Hudson und seine Frau Anne waren ausgesprochen umgänglich—zwar ein wenig reserviert, aber gewiss höflich und liebenswürdig, bedenkt man die Umstände. Er stammte aus der Arbeiterklasse—Vorarbeiter in einem Kalksteinbruch in Surrey, wo Martha Hudson den Großteil ihres Ehelebens verbracht hatte. Sie erklärten schon vor dem Abendessen, dass sie sich auf ihr Hotelzimmer zurückziehen wollten. Ich protestierte und schlug vor, dass sie mein Zimmer nehmen könnten, aber sie wollten nichts davon hören. Das bevorstehende Begräbnis überschattete uns alle. „Nun, sie sind mit Sicherheit ein liebevolles Ehepaar“, sagte ich, als sich die übrig gebliebene Gesellschaft von Holmes, Julia, Josh und mir an zu einem wundervollen Beef Wellington an den Tisch setzten. Julia stimmte mir bereitwillig zu. „Sie haben sich schon in ihrer Jugend verliebt. Tantchen war die Tochter der Campbells, gute Freunde der Familie. Sie und Robert waren unzertrennlich.” Sie leckte sich sorgsam ein wenig Soße von der Lippe. Holmes schnaubte. „Vielleicht sind sie sich nicht so vollkommen zugetan, wie es scheint.“ „Wie, Mr. Holmes?“ Sie schien schockiert. Josh kicherte, sah meinen Blick und schaufelte sich sofort Kartoffeln in den Mund. „Vergeben Sie mir, Miss Hudson. Ich meinte damit nur, dass der Eindruck oft täuscht.“ Er legte seine Gabel beiseite und mir war klar, dass wir uns auf eine lange Erklärung gefasst machen konnten. „Sehen Sie, ein Logiker, der auf Details bedacht ist, achtet auf die verschiedensten Dinge—wie nahe ein Paar beieinander sitzt, ob sie einander ansehen, wenn sie miteinander sprechen, oder nicht, ob sie einander tröstend am Arm oder an der Schulter berühren oder ob sie gar Trauer vortäuschen, um von ihrem Partner Mitgefühl zu erheischen.“ „Willst du damit sagen“— „Sei still, Watson. Außerdem, Miss Hudson, stellt sich einem die Frage, ob es eheliches Pflichtbewusstsein oder wirkliche Zuneigung ist, die einen Partner dazu bringt, dem anderen bedingungslos zu folgen, trotz der Gefahr oder der Angst vor dem Ungewissen. Wie faszinierend es doch wäre, zu sehen, wie ein Paar miteinander umgehen würde, wenn ein Schwur der Liebe, Ehre und des Gehorsams beiseite gelegt werden könnte. Das wäre eine wahrhaftig kontrollierte Umgebung, frei von externen Variablen. Wenn eine Person den eigenen Gewinn missachtet, gar öffentliche Blamage oder Verachtung riskierte, einfach weil diese Person jemanden liebt und ihm vertraut, bis zu dem Punkt, wo es gewiss ist, dass sie einander wehtun werden, dann könnten wir wahrhaftig sehen, wie sehr sich ein Paar liebt.“ Julia blinzelte mehrmals. „Sprechen Sie aus persönlicher Erfahrung, Mr. Holmes?“ „Es ist nur ein Theorem, Miss Hudson. Nur ein Theorem.“ Ich brachte nichts anderes heraus, als ein Seufzen, das zu einem Stöhnen wurde. Josh starrte mich böse an. Das Begräbnis war ruhig, würdevoll. Genauso wie Mrs. Hudson es gewollt hätte. Es fand im baufälligen kleinen Gebäude der St. Stephens in Marylebone statt, wo unsere Haushälterin beizeiten den Gottesdienst besucht hatte. „Sie war keine regelmäßige Kirchgängerin“, erzählte mir Julia gerade, als wir auf den Beginn der Messe warteten. Sie war den ganzen Tag lang nicht von meiner Seite gewichen. „Es war eher so, dass Großmama…oh, wie sagt man so etwas über eine Tote? ‚Ihren Glauben verloren’ ist wohl der höfliche Ausdruck? Das hatte sie zumindest teilweise.“ „Man kann es ihr kaum vorwerfen. Sie musste schließlich einen Ehemann und zwei Kinder zu Grabe tragen“— „Eigentlich drei.“ „Drei?“ Sie nickte mit ihrem bebenden kleinen Kinn. „Es gab eine Tochter in der Familie. Zwischen Papa und Onkel Seamus. Lilian hieß sie. Sie starb im Alter von drei Jahren an Influenza.“ „Wie tragisch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Die arme Frau.“ „Und es ist kein Wunder, dass sie Ihren kleinen Sohn so außerordentlich gern hatte. Blond und blauäugig genau wie ihre Lilian. Die Einzige in der Familie, die keine roten Haare hatten, wie sie mir einmal erzählt hat. Josh war für sie wirklich wie ein eigener Sohn, wissen Sie.“ „Ja, ich weiß.“ Ich sah zu dem Jungen hinüber, der sich eine Reihe von uns entfernt hingesetzt hatte. Im Moment stand er stoisch neben seinem Paten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er versuchte verzweifelt den kalten Gesichtsausdruck des Älteren zu kopieren. Er sah älter aus als seine fünfeinhalb Jahre. Vielleicht war es der schwarze Anzug. Die Augen, dachte ich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich damit meinte. Er sah auf und sagte leise etwas zu Holmes, der kurz nickte, bevor er sich in meine ungefähre Richtung umwandte. Ich vermied Augenkontakt. Ich wusste, dass er Begräbnisse verabscheute. Kirchen verabscheute, was das anging. Und mit großer Wahrscheinlichkeit verabscheute er auch, wie viel Zeit ich mit Julia verbrachte. Dass ich ihn vernachlässigte, vermute ich. Oder war es gar nicht so? Es sah dem Mann nicht ähnlich, nicht meine Nähe zu suchen, wenn er meine Gesellschaft wünschte, auch wenn er niemals direkt zugab, dass er mich brauchte. Seine Zurückhaltung während dieser letzten Tage mochte etwas anderes sein als Eifersucht. Trauer? Er hatte Martha Hudson wirklich gern gehabt; niemand würde das bestreiten. Vielleicht Betrübnis darüber, dass unser eigentümliches Arrangement nun, wo wir wieder in die Zivilisation zurückgekehrt waren, anhalten würde. Ich seufzte schwer. Er war ein viel zu komplexes Rätsel, als dass ich es lösen konnte. Julia tätschelte mir liebevoll die Hand. „Ich weiß, John. Es ist so schwer zu glauben, dass sie wirklich fort ist.“ Ich nickte und schämte mich ein wenig für meine Gedanken. Heute geht es nicht um Sherlock Holmes. Ich konnte allerdings nicht anders, als ihn zu beobachten. Der Gemeindepfarrer war gerade dabei seine Dissertation zu beenden. Es ging um die vergängliche Natur von Leben und Tod, darum, dass das die Guten belohnt und die Sünder bestraft würden… nun, jeder von uns hat derartige Predigten sicherlich schon dutzende Male gehört. Ich gestehe, dass ich ihm kaum zuhörte. Robert Hudson, Holmes, ich selbst und drei andere Männer, die, wie ich später erfuhr, die Söhne von Judith Turner waren und darum die Neffen von Martha Hudson, wir erhoben uns, um unsere Plätze als Sargträger einzunehmen. Wir trugen unsere Haushälterin zu der Kutsche, die sie zu ihrer letzten Ruhestätte bringen würde. Holmes warf mir einen kurzen Blick zu, er sah so aus, als wollte er mir etwas sagen, aber der Anstand zwang ihn zum Schweigen. Seite an Seite marschierten wir nach draußen begleitet von den müden Akkorden einer uralten Orgel. In meiner Erinnerung war die Beisetzung selbst sehr schnell vorüber. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen, spürte die Belastung, der der Sarg meine diversen Wunden ausgesetzt hatte. Die arme Julia stand ganz neben sich. Sie schluchzte in ein Taschentuch, die andere Hand lag Trost suchend auf meiner, was ich ihr bereitwillig gewährte. Was sonst hätte ich tun sollen? Das arme Lämmchen war so allein auf der Welt. Ich schaffte es, nicht zu Holmes zu sehen, indem ich Julia meine ganze Aufmerksamkeit schenkte, doch gegen Ende, als der Sarg langsam ins Grab gelassen wurde, konnte ich nicht länger widerstehen. Seine Augen waren trocken, wenn auch gesenkt und voller Emotion. Der Junge dagegen war eine andere Geschichte. Stille Ströme von Tränen ergossen sich über seine runden Wangen. Aber wie ein kleiner Soldat machte er kein Spektakel daraus. Mir kam der Gedanke, dass ich es ihm vielleicht nicht hätte erlauben sollen mitzukommen. Ich hatte vergessen, wie jung er noch war. Vielleicht konnte das entschuldigen, erklären, warum ich ihn damals nicht getröstet habe. Vielleicht hatte ich geglaubt, dass er mich nicht wirklich brauchen würde, wo er doch schon mehrmals ohne mich zurecht gekommen war. Wie auch immer die Entschuldigung lauten mag, die ich mir selbst zugestand, einmal mehr war es Holmes, der den Tag rettete. Er legte eine Hand auf die Schulter meines Sohnes, murmelte etwas aus dem Mundwinkel. Josh wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und stellte sich näher zu seinem Onkel. Seine Hand verblieb mehrere Minuten lang auf der Schulter meines Sohnes, bis die letzte Schaufel Erde gefallen war und sie diese Welt endgültig verlassen hatte. Schweigend führte ich Julia weg vom Grab, genauso wie Holmes John Sherlock wegführte. Beide schluchzten sie furchtbar. Keiner von uns wagte zu sprechen. Am darauf folgenden Tag unternahm ich mit Miss Hudson einen Spaziergang im Regent’s Park. Josh darum bettelte, mitkommen zu dürfen, aber ich schob ihn auf Holmes ab, der einen merkwürdigen, elenden Eindruck auf mich machte, er wirkte, so als fürchtete er, allein gelassen zu werden. „Du könntest ihm die Zeit vertreiben, bis er einen Fall hat“, sagte ich dem Jungen. Er sah mich misstrauisch an. „Aber er hat doch schon Fälle. Schau.“ Und tatsächlich, mehr als ein Telegramm hing vom Klappmesser durchbohrt über dem Kamin. „Nun, ich vermute, dass ihn keiner davon interessiert. Das ist auch nicht wichtig. Es wird sicher einer kommen, dem er nicht widerstehen kann.“ Ich gab ihm einen Klaps auf den Hintern und scheuchte ihn weg, bevor er mir irgendetwas sagen konnte, was ich nicht wissen wollte. Nun da sich der März seinem Ende zuneigte, war das Wetter wärmer geworden der wohlbekannten Redewendung zum Trotz. Ich war froh, dass ich meine schweren, schwarzen Anzug aus Breitgewebe gegen einen aus leichteren Material eintauschen konnte und fühlte mich sehr wohl in der Öffentlichkeit mit der wunderschönen Julia Hudson am Arm. Es war eine Freiheit, die ich mit Sherlock Holmes niemals hatten haben können. Wir plauderten fröhlich und ungezwungen, vermieden die traurige Angelegenheit, der wir am Vortag ausgesetzt worden waren, und konzentrierten uns stattdessen auf unsere Vergangenheiten. „Ihr Vater hat Sie in Aviemore großgezogen?“, fragte ich, als wir den Outer Circle umkreisten. „Eine wundervolle Stadt. Ich war einmal dort, in meinen Collegetagen. Ich war auf der Durchreise nach Inverness.“ „Wir sind viel umgezogen, Pa und ich. Er war ruhelos. Ein Überbleibsel aus seinen Armeetagen. Suchte immer nach einem Neuanfang, nach einer weiteren Chance. Und immer ganz egal, wie viel versprechend die Umstände auch schienen, immer war es die Flasche, die alles ruinierte. Nach Mamas Tod war er nie wieder der Alte“, fuhr sie fort. „Und er, ein stolzer Mann des Militärs, hatte immer auf einen Sohn gehofft, den er zu einer erfolgreicheren Version von sich selbst formen konnte. Oh, ich will damit nicht sagen, dass er mich nicht liebt. Ich weiß, dass er es tut, auf seine Art. Er hat sich dafür entschieden, mich selbst aufzuziehen, anstatt mich zu Großmama oder anderen Verwandten zu schicken. Aber ich habe immer seine leichte Betrübnis darüber gespürt, dass ich kein Sohn geworden bin.“ Einen Moment lang herrschte Stille und ich fragte mich, ob sie, indem sie mir dies erzählte, mich mit ihrem Vater verglich. Mich vielleicht sogar als Vaterfigur sah. Unsinn. Das ist doch lächerlich. Musste es sein. „Wie glücklich Sie mit ihrem Sohn sein müssen“, fuhr sie fort. „Es muss den Verlust Ihrer Frau ein wenig erträglicher gemacht haben, dass Sie wussten, dass Sie bereits jemanden haben, der Ihren Namen weiter trägt.“ Ich hatte noch nie so über Marys Tod gedacht. „Nein…nun…ich wäre auch mit einer Tochter sehr glücklich gewesen.“ Ich räusperte mich. „Es ist so, dass meine Frau gerade ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, als sie starb.“ „Ist das so?“ Sie drückte meinen Arm fester. „Oh, John! Das tut mir so Leid.“ „Mir auch. Mary hatte… Probleme, was die Mutterschaft angeht. Joshs Geburt war furchtbar für sie und Mutter und Kind hatten es kaum überlebt. Ich hatte ihr gesagt, dass wir nicht“—ich brach ab. „Aber sie hat darauf bestanden. Sie wollte weitere Kinder.“ „Wie tapfer von ihr. So viel zu riskieren. Ich bin mir sicher, dass Sie sie sehr geliebt haben.“ „In der Tat.“ Wir gingen schweigend weiter, bis wir eine Bank in der Nähe von Primrose Hill erreichten, auf der wir uns eine Minute lang ausruhen wollten. Wundervoll Büsche voller rosafarbenen Rosen wuchsen überall rund um unseren Sitzplatz und ich konnte nicht anders, als meiner Begleitung eine zu pflücken. „Für mich waren Rosen schon immer die lieblichsten Blumen“, sagte ich, als ich sie ihr reichte. „Oh ja.“ Sie gab mir einen unschuldigen kleinen Kuss auf die Wange. „Aber Lilien bin ich auch ganz verfallen. Ganz besonders orientalische Lilien. Papa und ich haben zuhause welche angepflanzt. Und sehr erfolgreich, will ich hinzufügen.“ „Nun, das werde ich mir merken müssen.“ An jenem Tag fühlte ich mich, als wäre ich selbst nicht älter als einundzwanzig. Ich redete mir selbst ein, dass es so war. Die folgende Szene, geschrieben von John S. (Josh) Watson, wurde dem ursprünglichen Text nachträglich hinzugefügt. Mycroft Holmes saß im Fremdenzimmer umgeben von einem ausladenden Teeservice. Tatsächlich betrat er seinen Klub um jene Tageszeit nur selten ohne irgendeine Art von Stärkung. Und der Diogenes Club bot einen besonders guten Tee an. Als eines der Gründungsmitgliedern hatte er darauf bestanden. Er wollte sich gerade ein besonders gut aussehendes Rosinentörtchen schmecken lassen, als sein Bruder das Zimmer betrat. So nonchalant eintrat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Doch Mycroft war nicht überrascht. Tatsächlich überraschte ihn nichts, was Sherlock tat. Ihn zu sehen, war etwas…irritierend war vielleicht das angemessene Wort. Was noch dadurch verstärk wurde, dass er irgendeine Art Kleinkind dabei hatte. Mycroft Holmes hatte nur wenig Erfahrung mit Kindern. Ihm waren sie am liebsten in Schulen, in Kinderwägen, überall, wo sie ihm nicht in die Quere kamen. Sein massives Gesicht studierte das hagere seines Bruders. Er ist krank gewesen. Das verdammte Kokain, wie ich vermute. Und das Kleinkind gehört zweifellos dem guten Doktor. Wenn wahre Liebe doch nur nicht mit dem Herzen statt dem Verstand sehen würde. Das hatte er irgendwann einmal irgendwo gelesen. Vermutlich bei Shakespeare. „Nun, Sherlock. Ich vermute, du bist also doch nicht tot. Ich hätte gedacht, dass du nur über deine Leiche nach Cornwall zurückkehren würdest. Doch hier bist du, immer noch lebendig.“ „Genau wie du, erstaunlicherweise.“ Er war offenbar nicht in Stimmung für schlechte Witze. Mycroft schnaubte. Es war nicht so, dass er seinen Bruder gerne leiden sah. Natürlich war es nicht so. Er hatte ihn schließlich zu der ganzen Sache ermutigt, obwohl er es eigentlich besser wusste und den Gesetzen des Landes, dem er so ergeben war, zum Trotz. Seinen Bruder leiden zu sehen, brachte ihm keine Freude. Aber er konnte nicht sagen, dass er es nicht erwartet hatte. Das hatte er. Und er wusste, dass auch Sherlock es vorhergesehen hatte. Das Gewicht der ganzen letzten Hoffnung[3]. „Tee?“, bot er an. „Und du solltest wirklich Platz nehmen. Was ist das?“ Er wedelte seine Hand in Richtung des Jungen. Der Bruder schenkte etwas Tee ein, gab eine großzügige Portion Zucker hinzu und reichte dies seinem Begleiter. „Mein Gewissen. Außerdem mein Patensohn. Watson junior.“ „Hmm.“ Mycroft studierte den Jungen, leicht amüsiert darüber, dass jemand einen Holmes zum Paten ihres einzigen Kindes machen sollte. Ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass er damals für tot gehalten worden war und so wohl kaum seine Patenpflicht hätte erfüllen können. Eine vielsagende Angelegenheit. Sherlock Holmes hatte mit Sicherheit erkannt wie vielsagend. Natürlich hatte er das. „Dann wirst du dich wohl einigermaßen dafür interessieren, würde ich meinen.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Törtchen zu. „Onkel sagt, dass du sein Bruder bist und dass du sogar klüger bist als er.“ „Oh, sprechen kann es also auch? Nun, kleiner Mann, wenn es das ist, was dein… Onkel sagt, dann muss es wohl so sein.“ Sherlock schnaubte. „Du benimmst dich wirklich wie ein dummer Esel.“ „Du warst es, der in mein Refugium eingedrungen ist.“ „Und dir ist doch sicher klar warum.“ „Ist das so?“ Er schob sich den letzten Rest Naschwerk in seinen breiten, krötenähnlichen Mund. „Natürlich.“ Weil die Liebe deines Lebens plötzlich entschieden hat, dass er der männlichen Berührung nun doch nicht den Vorzug gibt. Nur ‚die Liebe seines Lebens’—nein, das passt nicht. Nicht im Geringsten. Der einzige Mensch, dessen Anwesenheit er länger als ein paar Minuten ertragen kann? Mycroft grinste voller Zynismus. Die Wahrheit lag ohne Zweifel irgendwo dazwischen. „Nun, vielleicht sollten wir das Gewissen zu Rate ziehen. Sag mir, mein Junge, was denkst du darüber?“ Aber der Junge hatte Angst davor, seine Meinung zu sagen. Der Bruder seines Onkels war nicht freundlich, überhaupt nicht wie sein Pate. Er glaubte, er selbst könnte mit demselben Genuss verzehrt oder zerquetscht werden, mit dem jener gewaltige Mann das Törtchen zerstört hatte. „Nur zu, Josh.“ Das Gesicht seines Onkels blieb steinern, aber der Ton seiner Stimme war ermutigend. „Ich denke“, sagte der Junge, „dass Sie hier in der Nähe arbeiten. Näher als Ihr Zuhause. Das weiß ich, weil Sie in diesem Sessel hier schlafen. Und der Korb hat diese Abdrücke an Ihrem Hals gemacht. Wenn Sie näher bei Ihrer Arbeit wohnen würden, würden Sie dort ein Nickerchen machen. Nicht hier.“ Mycroft schnaubte. Sein Bruder grinste. „Und Sie haben keine Frau.“ „Warum? Weil du keinen Ring siehst?“ Josh schüttelt den Kopf. „Ihr Kragen ist hinten ganz zerdrückt. Das war der von meinem Papa auch immer und meine Mama hat das gerichtet. Wenn Sie eine Frau haben würden, würde die das auch für Sie machen.“ „Nicht sehr wissenschaftlich“, knurrte Mycroft. „Außerdem hat Ihr Vater sie lieber gemocht als Onkel.“ Die Brüder starrten ihn beide an. „Das lässt sich kaum bestreiten“, sagte Sherlock. Aber Mycroft winkte ab. „Er hat gewiss gesehen, dass ich die Taschenuhr unseres Vaters trage. Die Tatsache, dass ich älter bin und dadurch das Recht dazu habe, hat er nicht bedacht.“ „Aber Sie haben auch seinen Ring.“ Der Junge zeigte auf den Siegelring auf dem kleinsten Finger des Mannes. „Es ist ein alter Ring und auch wenn Sie alt sind, glaube ich, dass es der von Ihrem Vater war. Und Onkel hat gar nichts von ihm“ Mittlerweile lachte Sherlock. „Nun“, sagte Mycroft. „Dir hätte auch auffallen können, dass ich für die Regierung arbeite, übergewichtig bin und zu viel Bordeaux trinke oder diverse andere Deduktionen, die alle wesentlich nützlicher wären, als die offensichtlichen Tatsachen, dass ich faul und unverheiratet bin. Aber es ist zufrieden stellend für ein Kleinkind, würde ich sagen.“ „Ich bin fünf. Fast sechs“, sagte der Junge. „Ich bin kein Kleinkind.“ „Hier, nimm dir ein Törtchen.“ Er stieß den großen Silberteller in Richtung des Jungen. An seinen Bruder gewandt fügte er hinzu: „Du hast dir also einen kleinen Zeitvertreib gefunden. Wenn du nicht damit beschäftigt bist, zu schmachten und dich nach“— Sherlock brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Soll das heißen, dass es nichts weiß?“ „Gemäß den Wünschen seines Vaters.“ Mycroft rieb sich eines seiner Kinne, während er zusah, wie sich das Kind etwas Barm Brak[4]in den Mund schaufelte. Er kaute misstrauisch, aber seine Augen waren vollkommen aufmerksam. Er konnte beinahe sehen, wie seine Ohren sich anstrengten, damit er nicht ein einziges Wort von dem verpasste, was die Erwachsenen sagten. Es war ein Anblick, den der Mann nur zu gut kannte. Er musste an seinen jüngeren Bruder denken. „Ich denke, dass er bereits bescheid weiß.“ Sein Bruder nickte. „Sehr wahrscheinlich.“ „Hm! Was würde dein galanter Doktor wohl dazu sagen?“ „Papa wird Julia Hudson heiraten.“ John Sherlock sagte es so exakt, so selbstverständlich, dass sich Mycroft Holmes beinahe an seinem Tee verschluckte. Irgendwie schockierte ihn diese Aussage. Ein dummer Fehler—warum sonst das Elend, das Kokain, die Anwesenheit des Kindes? Wenn man all das zusammennahm, ebenso wie die Tatsache, dass er hier war, dann war der Fall sicherlich hoffnungslos. Nun, es hätte offensichtlich sein müssen. Er hätte es deduzieren sollen. Er schob die Schuld auf die irritierende Anwesenheit des Kindes. „Ist das so, Sherlock?“ Sein Bruder nickte, das Gesicht geziert von Erschöpfung. „Am ersten September in der St. Micheal’s. Ich soll der“—er lächelte schief—„Trauzeuge sein. Zum zweiten Mal soll ich neben ihm stehen und ihn dazu beglückwünschen, dass er sich den Normen der Gesellschaft beugt.“ Er war schon immer ein verflucht guter Schauspieler. „Dazu dass er dich verlässt, meinst du wohl.“ „So ist es wohl.“ Sein Gesicht verzog sich zu jenem peitschenschnellen Grinsen und er tätschelte den Kopf seines Patensohns. „Aber er wird zurückkommen. Er ist der einzige Fixpunkt in einer Zeit, die im Wandel begriffen ist. Am Ende kommt er immer zu mir zurück.“ _________________________ [1] Ein Schlaganfall [2] In „Der Detektiv auf dem Sterbebett“ natürlich. [3] „Denn Jener, den wir dorthin ausgesandt, trägt das Gewicht der ganzen letzten Hoffnung!“ John Miltons Paradise Lost (Original „On whom we send, the weight of all and our last hope replies“.) [4] Anm. d. Übers.: Eine irische Spezialität: Ein reichhaltiges Brot aus Mehl, kandierten Obstschalen, Rosinen, Gewürzen und Hefe. Es ist meist rund und mit Zuckerguss überzogen. Hosted by Animexx e.V. 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