Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 32: ------------ Die lange Pause tut mir Leid, aber ich hatte in den vergangenen paar Monaten einfach zu viel wegen meinem Schulabschluss um die Ohren. Jetzt wird es mit den nächsten Kapiteln wieder zügiger voran gehen. (Viele sind es ohnehin nicht mehr, bis wir zum vorläufig letzten bis jetzt veröffentlichten kommen.) Am nächsten Morgen sprach ich weder mit Holmes noch mit meinem Sohn mehr als ein zwei kurze Worte während des Frühstücks, ich war wohl einfach nicht dazu imstande. Es schien ein ganz gewöhnlicher Morgen mit uns dreien am Frühstückstisch – John Sherlock und ich aßen das Porridge, während Holmes es mit verschränkten Armen und einem finsteren Blick anstarrte, als wäre es vergiftet. Aber natürlich war jener Morgen alles andere als normal. Den roten und müden Augen der beiden nach zu schließen, konnte ich ziemlich sicher sein, dass sie die Nacht ebenso schlaflos verbracht hatten wie ich. Es war das letzte Mahl, das wir drei für sehr lange Zeit zusammen einnehmen würden und es ging schweigend vonstatten. Jedes Mal wenn ein Glas oder ein Teller klirrte klang es entsetzlich laut. Als ich schließlich irgendwann von meinem Teller aufsah, erkannte ich, dass die beiden mich anstarrten. „Dein Frühstück muss äußerst erquicklich sein, Doktor.“ Während ich ihn unhöflich ignorierte, langte ich nach der Kaffeekanne. Am jenem Tag würde ich mich nicht mit seinem verqueren Sinn für Humor herumschlagen. „Wirst du bald gehen?“, fuhr Holmes fort. „Ja. Ich habe vor, mir in meinem Klub vorerst ein Einzelzimmer zu nehmen.“ Joshs Löffel stockte mitten auf dem Weg vom Teller zu seinem Mund, aber ich fuhr fort, mehr an Holmes als an ihn gerichtet zu sprechen. „Der Junge wird hier unter Mrs. Hudsons Aufsicht bleiben. Bis ich eine passende Unterkunft gefunden habe, heißt das.“ „Du gehst?“, fragte Josh mit großen, ungläubigen Augen. „Ja.“ „Aber warum?“ Ich warf meine Serviette auf den Tisch und murmelte eine Entschuldigung. Dieser Moment war unbegreiflich. Wie konnte ich gezwungen werden, die letzte Nacht noch einmal zu durchleben? Er wusste. Er hatte gesehen. Er war der Hauptgrund, weshalb ich ging. Als ich die Schwelle überquerte, um mich anziehen zu gehen, hörte ich Holmes zu Josh sagen: „Mach dir keine Sorgen, mein lieber Junge. Es wird alles ein gutes Ende nehmen.“ Ich erstarrte augenblicklich, um zuzuhören. „Ich verstehe nicht, Onkel. Ich weiß, dass Papa wütend war, aber“— „Ja, das war er. Und ist es immer noch. Aber das Problem ist, dass er viel von dir hält. Tatsächlich zu viel von deinen Fähigkeiten. Ich es ihm kaum übel nehmen. Vieles davon ist meine Schuld. Aber selbst wenn ich es ihm sagen würde, würde er mir nicht glauben. Er würde andere Vorwände finden. Und deshalb muss ich ihn tun lassen, was er für das Beste hält.“ „Hä?“ Ich hörte, wie er dem Jungen den Kopf tätschelte. „Du musst mir vertrauen, Junge. Ich werde nicht zulassen, dass einer von euch vom Weg abkommt.“ Mit zusammengebissenen Zähnen setzte ich meine Reise nach oben fort. Ich entschied mich, zu glauben, dass er das alles zu meinen Gunsten gesagt hatte. Es wäre Holmes durchaus zuzutrauen. Oh, was für Narren wir Sterblichen doch sind! Ich ging gleich am nächsten Tag, dem letzten Tag im Oktober, der sich im Übrigen als überaus scheußlicher Tag herausstellte. Ich packte nur die unmittelbaren Notwendigkeiten ein und ging mit nichts als einer Reisetasche, einem Portmonee und meiner Arzttasche, die mich gewöhnlich begleitet. Nachdem ich mein neues Zimmer im Reform Club [1] in Pall Mall eingerichtet hatte, sah es kaum anders aus als zuvor und auch als alles an seinem Platz wirkte der Raum in der Tat wie eine fromme Gruft. Es gab nur ein kleines Bett, sehr hart noch dazu und ich wusste sofort, dass meine alten Wunden dagegen aufbegehren würden, ein Schrank für Kleider, ein Nachttisch mit einer einzigen Schublade für meine Bibel und einen Kamin. Ich vermisste augenblicklich die vertraute Behaglichkeit meines Zimmers in der Baker Street. Mit einem heftigen Kopfschütteln wies ich mich selbst zurecht. Dies ist das Leben, das du gewählt hast. Ich zog den letzten Gegenstand aus der Reisetasche und starrte ihn an. Er war erst kürzlich in meinen Besitz gekommen: eine Fotografie von Sherlock und John Sherlock. Es war im letzten Sommer aufgenommen worden und ein Geschenk an mich an meinem letzen Geburtstag gewesen. Es war wahrhaftig eine wundervolle Fotografie. Holmes saß seitlich auf einem gepolsterten Ottomanen, während Josh neben ihm stand, die eine kleine Hand auf die Schulter des Mannes gelegt und in der anderen den Stoffhund. Sie waren beide untadelig gekleidet, ein Matrosenanzug und dazupassende Kappe für den Jungen und ein Abendanzug und eine Krawatte aus Seide für den Mann. Seine Smaragdkrawattennadel[2], meines Wissens noch niemals getragen, glitzerte im Blitzlicht. Auf beiden Gesichtern lag ein Ausdruck der Überlegenheit. Und Schönheit. Ihre fahlen Augen schienen sich in meine Seele einzugraben. Wenn ich ein abergläubischerer Mann gewesen wäre, hätte ich geschworen, dass Holmes, mit seinen glänzenden Augen und leicht nach oben gezogenem Mund, zu mir sprach. Ich konnte nicht ertragen, was auch immer er mir zu sagen versuchte. Aber was sollte ich damit tun? Sollte ich dem Bild erlauben draußen zu bleiben und damit riskieren, dass es genauer untersucht wurde? Würde es irgendjemandem seltsam erscheinen, dass ein Mann ein Bild besitzt, auf dem sein eigener Sohn so…vertraut mit einem anderen Mann war? Ich war unsicher. Niemand konnte nur anhand der Fotografie vermuten, dass die Motive dahinter nicht vollkommen unschuldig waren. Aber so viel wusste ich: Ich konnte es nicht ertragen, Holmes nicht jeden Tag sehen zu können, und sei es auch nur in einem eingefrorenen Augenblick. Ich wischte das Glas mit meinem Ärmel ab und stellte das Bild vorsichtig auf den Sims des kleinen geschwärzten Kamins. Sie starrten mich quer durch den Raum an und mein Herz verwandelte sich in Blei. Es würde mich immer daran erinnern, was ich getan – was ich aufgegeben hatte. Rückblickend betrachtet war mein Klub ein Ort, den ich seit mittlerweile zwei Jahren fast völlig verlassen hatte, denn mein öffentliches Leben war wesentlich mehr als das von Holmes’ Gefährten und Assistenten definiert, als das eines gewöhnlichen Gentleman der Mittelklasse, der sich mit anderen seines Standes umgab. Das war etwas, mit dem ich würde leben müssen, ebenso wie mit der Veränderung. Ich dachte, mein Herz würde aufhören zu schlagen, als ich die erste Person, die ich sah, als James Parks erkannte. Ich hatte ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und er wirkte, aus welchem Grund auch immer, vollkommen verändert. Älter. Weiser. Sein voller Schopf dunklen Haars hatte begonnen an den Schläfen leicht zu ergrauen, was mir seltsam erschien, denn ich hatte ihn immer als jung angesehen. Aber in Wirklichkeit war er nun auch in seinen Mittdreißigern und der Druck, unter dem ein hauptberuflicher Arzt steht, darf nicht zu leicht genommen werden. Als ich in jener ersten Nacht in eines der Esszimmer des Reform Clubs ging, sah ich ihn nahe des Kamins stehen, mit einem Brandy in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Er sprach gerade zu Joseph Blakely – aus unglückseligen Erinnerungen – und einem anderen Kerl, der mir vage bekannt vorkam. Wir sahen einander im selben Augenblick. Zuerst schien Parks verwirrt, als ob er mich nicht erkennen würde. Er runzelte die Stirn und er setzte seine Unterhaltung mit den beiden anderen Gentlemen fort, während er mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Ich selbst dagegen war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Ich wollte keine Szene verursachen, falls er beschlossen hatte mich zu ignorieren und ich wollte auch nicht so wirken, als würde ich mich verzweifelt nach Gesellschaft sehnen, daher wandte ich mich ab, suchte mir einen Tisch am anderen Ende des Raumes und bestellte mir selbst ein Abendessen. Das Essen war nicht im Geringsten mit Mrs. Hudsons Kochkünsten zu vergleichen, aber ich aß es trotzdem. Ich würde damit aufhören müssen, alles mit meinem Leben in der Baker Street zu vergleichen. In der Vergangenheit hatte mich Isolierung niemals gestört, zumindest nicht für kurze Zeitspannen. Aber verwechseln Sie mich nicht mit Holmes, den ich schätze Gesellschaft in der Tat, nur störte es mich auch nicht allein zu sein. Aber aus gewissen Gründen spürte ich an jenem Abend bitterste Einsamkeit. Außer Parks und Blakely kannte ich keinen einzigen im Zimmer und niemand – außer dem Kellner, der mit Essen und Trunk servierte – schenkte mir irgendwelche Beachtung. Ich sehnte mich verzweifelt nach jemandem, mit dem ich reden konnte. Aber es gab niemanden. Indem ich nach meinem Mann winkte, bestellte ich einen zweiten Scotch. Was für ein langes Leben das werden würde. Und was für einen grässlichen Anfang hatte es bis jetzt genommen. Ich konnte nicht leugnen, dass es das Richtige war, die Baker Street und Holmes zu verlassen, aber was war mit Josh? Er musste mit Sicherheit verwirrt sein und ich fand keine Worte, um ihm irgendetwas zu erklären. Vor weniger als einem Monat war ich im Wohnzimmer gesessen und hatte beobachtet, wie Holmes meinem Sohn das Schachspielen beibrachte. Zwei großartige Köpfe, von denen die Welt noch erfahren würde. Zwei großartige Herzen, von denen die Welt wohl niemals wissen würde. Sie waren sich so ähnlich, diese beiden. Ich sah Josh als den Jungen, der Holmes gewesen wäre, wenn seine Eltern ihn wie ein geliebtes Kind und nicht wie eine entsetzliche Kreatur behandelt hätten. Vielleicht war das der Grund, warum ich solche Angst vor der Liebe zwischen Holmes und mir hatte. Wenn Josh seinem Mentor so ähnlich war, bedeutete das dann auch, dass er auch zu eben jenem seltsamen Mann heranwachsen würde? So sehr ich ihn auch liebte, wollte ich nicht, dass mein Sohn ein Mann mit schwarzen Launen würde, ein Mann, der Drogen missbrauchte und der sich selbst so tief in seinem eigenen Gewissen vergrub, dass es Jahre über Jahre dauerte, bis er sich wieder daraus hervorziehen konnte. Ich wollte auch nicht, dass er Männer liebte. Als ich die goldene Flüssigkeit in meinem Becher studierte, sah ich eine wässrige Reflektion meiner selbst gebadet in Licht. Wie viel von dem, was wir sind, wird von der Natur, wie viel von der Erziehung bestimmt? War Joshs Zukunft bereits von seinem Genmaterial festgelegt. Wie viel von seiner Persönlichkeit und seinen intellektuellen Fähigkeiten? Und wie viel stopfte ich mit dem Leben, das ich führte, in ihn hinein? Wie konnte ich es wissen? Wie konnte ich irgendetwas mit Sicherheit wissen? „Watson.“ Beim Klang meines Namens sprang ich beinahe auf. Ich war so sehr in meine eigenen Gedanken und meinen Alkohol vertief gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie er sich langsam seinen Weg an meinen Tisch gebahnt hatte. Ich sah zu ihm auf. Er versuchte ein leichtes Lächeln, aber versagte kläglich. Er ließ unbehaglich seine Zigarre hin und her zappelen. Für die längste Zeit schien es so zu bleiben, er stand, ich saß, beide ignorierten wir den anderen. „Du kannst dich setzen“, sagte ich schließlich und trank den letzten Schluck aus meinem Glas. „Steh nicht einfach nur so da und starr mich an wie eine Missgeburt auf einem Jahrmarkt.“ Er tat es, wenn auch langsam und widerwillig. Seine Augen sahen überallhin, nur nicht in meine. „Ich bin…überrascht, dich hier zu sehen. Ich hatte gedacht, du habest die höfliche Gesellschaft aufgegeben.“ „Ich bin sicher, dass du das denken musstest.“ Schon wieder Schweigen. Was hatten wir einander schon wirklich zu sagen? Wir hatten mehr als genug gesagt, als wir vor zwei Jahren den Kontakt abgebrochen hatten. Parks winkte, um sich seinen Brandy nachfüllen zu lassen. Als das Bestellte ankam, trank er es in einem einzigen Zug. Es hatte einen dreisten Effekt auf seinen Gesichtsausdruck und er saß aufrechter auf seinem Stuhl. Mit verengten Augen fragte er: „Warum bist du hier?“ „Muss ich vor dir Rechenschaft über meine Taten ablegen, James?“ „Mit Sicherheit nicht. Ich war nur neugierig.“ „Du bist öfter neugieriger, als es gut für dich ist.“ Er hob die Augenbrauen. „Das wurde mir gesagt. Tatsächlich hat mich Dr. Blakely – du erinnerst dich doch sicher an Blakely – bei Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht. Blakely!“, rief er zum Doktor, der immer noch mit dem vage vertrauten Gentleman am Kamin stand. Er winkte leicht und beide kamen herüber. Ich kann nicht behaupten, dass ich überglücklich war, ihn zu sehen. Er erinnerte mich so sehr an den Tod meiner Frau. „Die Gentlemen erinnern sich doch an Dr. Watson“, sagte Parks. „Natürlich“, sagte Blakely mit einem warmen Lächeln und bot mir seine Hand an. Welche Gerüchte auch gewiss umgehen mochten, Joseph schien sie zu ignorieren. Er war ein wahrer Gentleman. „Wie geht es Ihnen, alter Freund?“ „Gut, danke, Blakely“, log ich. „Ich fühle mich im Moment nur ein wenig überwältigt.“ „Nun, hat es irgendetwas mit einem besonders anstrengenden Fall von Mr. Sherlock Holmes zu tun? Ich hoffe es sicherlich! Wir könnten ein paar neue Fälle in The Strand gebrauchen.“ Der dritte Mann lächelte strahlend und plötzlich erinnerte ich mich, wer er war. Ich glaubte sein Name war Davis. Holmes’ Bewunderer. Ich hatte jene Nacht vergessen, als eben wir vier in eben diesem Klub über den Mann gesprochen hatten. „Es hat nichts mit einem Fall von Mr. Holmes zu tun. Eigentlich sehe ich in letzter Zeit nicht mehr viel von ihm. Ich bemühe mich, wieder zur Medizin zurückzukehren. Ich suche außerdem nach einer Wohnung zu einem vernünftigen Preis, falls mir einer von euch Gentlemen dabei behilflich sein könnte.“ Ich sah vorsätzlich Parks bei diesen Worten an und bemerkte die misstrauische Überraschung auf seinem Gesicht. Sein Gläschen erstarrte direkt vor seinem Mund in der Luft und seinen Augen verengten sich ganz leicht. „Wirklich, Watson? Du würdest den armen Mr. Holmes ganz allein lassen?“ Zu einer bestimmten Zeit in meinem Leben hätte ich ein extremes Verlangen verspürt, ihm direkt auf sein sarkastisches Maul zu schlagen. Aber das Alter hatte mein heißes Gemüt etwas gekühlt und ich behielt meine Würde. „Ich denke, dass er ganz gut zurechtkommen wird, James.“ „Selbst wenn du nicht auf ihn Acht gibst?“ Parks lächelte mich wissend an. Bevor ich antworten konnte, lachte Davis und sagte: „Also wirklich, Dr. Parks, ich denke Sie unterschätzen Sherlock Holmes. Er ist kein Mann, der Anhänglichkeit oder Freundschaften entwickelt. Sie sind – wie haben Sie es formuliert, Dr. Watson? – ah, ja ‚störend für den Verstand’. Können Sie sich das vorstellen, Gentleman? Ein Mann der sich seinem Beruf sosehr widmet, dass er es nicht einmal Gefühlen erlaubt, den Fortschritt seiner Wissenschaft zu stören!“ „Vielleicht ist er die Zukunft“, sagte ich, vor allem an Parks gerichtet. „Die Art von Mann, der es seinen eigenen Neigungen nicht erlaubt, sein Urteilsvermögen zu trüben.“ James wandte seinen Blick ab und antwortete nicht. Blakely, Davis und ich unterhielten uns einige Zeit lang herzlich, während wir uns unseren Weg durch mehrere ausgezeichnete Zigarren und ein paar weitere Gläser bahnten. Wir diskutierten Artikel über Röntgen, den Deutschen, und Pupin, den Amerikaner, und was an dieser neuen Theorie der ‚Röntgenstrahlen’ dran war, von der wir alle in medizinischen Zeitschriften gelesen hatten, während Davis fortwährend versuchte, die Unterhaltung zurück zu Holmes zu lenken. Nach einer Weile wurde es tatsächlich von entnervend zu ziemlich amüsant – der Mann musste jede Geschichte auswendig gelernt habe, die ich je veröffentlicht hatte! Wussten Sie, dass Sherlock Holmes tatsächlich nicht weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht? Ich brach beinahe in lautes Gelächter aus, als er das sagte. Parks und Blakely blickten einander verblüfft an. „Das kann doch mit Sicherheit nicht wahr sein?“, fragte Blakely. „Eine…dichterische Freiheit, das versichere ich Ihnen“, sagte ich. „Auch wenn es eine Zeit gab, kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten, da ich tatsächlich etwas Derartiges geglaubt hatte.“ [3] „Könnten wir bitte nicht über Sherlock Holmes reden?“, fragte Parks und starrte mich finster an. Wir wanden das Gespräch wieder aktuellen Themen zu, bis Blakely in etwa einer Stunde ankündigte, dass es für ihn Zeit war zu gehen. „Ich fürchte, wenn ich zu spät bin, macht sich meine Margaret Sorgen.“ Er lächelte und schüttelte jedem von uns die Hand. „Vierzig Jahre und sie traut mir immer noch nicht zu, dass ich jeden Abend meinen Weg nach Hause finde.“ Vierzig Jahre. Für mich schien es eine unfassbare Zeitspanne. Offensichtlich war es für Davis zu viel, denn er fügte hinzu: „Ich bin erst seit fünf Jahren verheiratet. Ich hatte gehofft, meine Frau würde mit der Zeit aufhören, auf mir herumzuhacken.“ Blakely lachte. „Sie sind sehr jung, nicht wahr, mein lieber Sanford?“ Davis’ Gesichtsfarbe änderte sich leicht. „Aber vielleicht liegen Sie ja richtig, Watson. Das Leben eines Junggesellen ist ein glückliches. Oder zumindest wurde mir das erzählt. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich erinnern kann. Ich war erst dreiundzwanzig, als ich geheiratet habe.“ Was sollte ich darauf erwidern? Ich versuchte, Parks nicht anzusehen. „Das Leben eines Witwers ist auch nicht so leicht, Blackely.“ Und es ist auch nicht leicht, wenn du erkennst, dass es ein Mann ist, den du liebst. Nachdem Blakely und Davis gegangen waren, war ich mit Parks allein. Und zur Hölle, wenn ich nicht das letzte Wort haben würde. „Ich weiß, dass wir das alles schon einmal durchgekaut haben, James. Du hast mit Sicherheit das Recht auf deine eigene Meinung. Über Sherlock Holmes. Und über mich selbst. Aber falls du jemals wieder sagst – nein, falls du auch nur noch einmal andeutest, dass einer von uns kein richtiger Mann wäre, dann werde ich dich wegen Rufmords verklagen!“ Nachdem ich meine Faust auf Tisch geschmettert hatte, stürmte ich hinaus, wobei ich die verschiedenen Seitenblicke der anderen Anwesenden ignorierte. Als ich es zurück in mein Zimmer geschafft hatte, war ich wütend. Ich verbrachte den Großteil der Nacht damit, in meiner Kammer auf und ab zu streifen, während ich vor mich hin murmelte. Ich wollte mehr Scotch. Ich wollte vergessen. Die Sonne war bereits aufgegangen, als ich schließlich auf mein Bett zusammenbrach. Das Leintuch fühlte sich seltsam fremd und kalt an meiner Haut an. Und leer. Ich blieb dort für den Großteil der nächsten zwei Tage. Als ich es schließlich verließ, wurde mir an der Rezeption gesagt, dass mir eine Nachricht hinterlassen worden war. Das Papier, auf dem sie geschrieben war, stammte vom Klub. Ich erkannte die Handschrift. John— (stand dort geschrieben) Ich schreibe das nicht, um zu sagen, dass ich all das, was ich mit Sicherheit über dich weiß, akzeptiere oder verstehe, denn das wäre eine Lüge. Aber ich schreibe dir, um zu sagen, dass ich mich schlecht benommen habe und dass ich es bereue. Du hast die Art, wie ich dich behandelt habe, nicht verdient und daher will ich mich dafür entschuldigen. Um dir zu zeigen, dass es mir wirklich Leid tut, lege ich diesem Brief die Karte eines Mannes bei, dessen Bekanntschaft ich erst vor kurzem gemacht habe. Er ist jung und hat gerade erst eine Praxis eröffnet und braucht eine erfahrene Hand, die Klienten einbringen und sie expandieren kann. Tu mit dieser Gelegenheit, die ich dir anbiete, was du willst. Wenn du dich entscheidest, sie zu ignorieren, werde ich es verstehen. Aber ich entbiete dir Meine besten Wünsche James Parks Ich hielt die Karte in der Hand, ohne sie anzusehen. Mein erster Impuls war, sie zu zerreißen. Ich hatte keinerlei Gefälligkeiten von jenem Mann nötig. Aber ich konnte es nicht. Ich musste alles tun, was notwenig war, um in meinem neuen Leben auf die Füße zu kommen. Meine Hand fand ihren Weg in meine Westentasche und ich ließ die Karte hineinfallen. Ich verbrachte eine Woche damit, auf die goldenen Lettern der Karte zu starren, bevor ich mich dazu entschied, hinzugehen. Ich ging langsam in die Paddington Street. Ich mied die Baker Street völlig trotz der unmittelbaren Nähe. Es war nur etwa fünf oder sechs Blocks von meiner alten Junggesellenwohnung entfernt. Sein Name war Dr. Linwood Askew und er war sehr jung, oder so schien es mir zumindest zu jener Zeit. Wahrscheinlich war er nicht jünger, als ich es gewesen war, als ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Er war von kleiner Statur, mager, und wirkte nervös, mit angeschwollenen braunen Augen, die ununterbrochen im Raum umher zuckten. Er trug einen leichten Schnurrbart, ein seltsam aussehendes Stück Gesichtsbehaarung, die den Eindruck eines jungen Mannes erweckte, der älter aussehen wollte. Sein ganzes Gesicht war rosa angelaufen. Er kannte mich mit Namen – Parks hatte ihn anscheinend davon in Kenntnis gesetzt, dass ich vorbei kommen könnte – und er schien voller jugendlicher Ausgelassenheit, als er mich in seinem Behandlungszimmer traf. „Nun, der Dr. Watson, nicht wahr? Du liebes Bisschen…“ Er lächelte nervös, als er mir die Hand anbot. „Es ist mir ein Vergnügen, Sir.“ „Nein, nein. Ich bestehe darauf, dass das Vergnügen ganz auf meiner Seite ist.“ Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass er eine knappe, sprunghafte Art zu lächeln hatte, die in mir sofort die Erinnerung an jemanden weckte, an den ich nicht denken wollte. „Ich habe alle Ihre Fälle im Strand gelesen. Was für ein aufregendes Leben Sie führen müssen! Mit…mit Mr. Sherlock Holmes. Er muss ein ganz schöner Kerl sein.“ Er flatterte herum wie ein Kanarienvogel im Käfig. „Ja, das ist er“, fühlte ich mich gezwungen, zu antworten. „Vollkommen…einzigartig. Könnte ich Sie darum bitten, unsere Aufmerksamkeit Ihrer Praxis zuzuwenden? James Parks erzählte mir, dass Sie ernsthaft nach jemandem suchen würden, um sie zu teilen.“ „Oh! Oh, natürlich.“ Wir verbrachten den Großteil des Nachmittags damit, zu besprechen, was genau Dr. Askew von einem Partner in seiner neu gegründeten Praxis verlangte und was genau ich zu diesem Arrangement beitragen wollte. Ich bekam den deutlichen Eindruck, dass er von meinem Wissen über Holmes’ Fälle wesentlich beeindruckter war als von meinem Wissen über Medizin. „Und…und Die Tanzenden Männchen…wie er diese unmögliche Verschlüsselung knackte! Nun, jeder Mann, der dazu in der Lage ist, sollte Linguistik an Oxbridge studieren! Und nicht…nicht in London herumstreifen und die verschiedenen Arten von Dreck auswendig lernen.“ „Ja, ich vermute, das sollte er. Aber wirklich, Sir – wenn ich hier arbeiten soll, dann muss ich darauf bestehen, dass wir nicht über Mr. Holmes sprechen. Das ist ein Teil meines Lebens, von dem ich mich gerade abwende. Es geht nicht, dass Sie mich ständig daran erinnern.“ Er wirkte erschrocken und sein Gesicht färbte sich von rosa zu rot. „Ich…ich bitte um Entschuldigung, Dr. Watson. Wirklich, ich habe nicht erkannt, dass sie so…unzufrieden über Mr. Holmes und seine Fälle sind. Ich verspreche, dass ich nie wieder von ihm anfangen werde.“ Er schenkte mir ein weiteres seiner eigentümlichen Grinsen, aber sein Gesicht blieb gerötet. Unzufrieden. Ja, dass war ein angemessenes Wort. Mir fiel kein besseres ein, um meine Gefühle zu beschreiben. Mehrere Wochen später fand ich eine kleine Wohnung in Wimpole Street. Mir wurde ein angemessener Preis angegeben. Der Wirt war ein Bewunderer von Mr. Holmes. Er war erfreut zu hören, dass er immer noch am Leben war. „Warum schreiben Sie nicht mehr über ihn?“, fragte er. „Wann können ich und mein Sohn einziehen?“ Ich ignorierte seine Frage. Er zuckte unverfänglich mit den Schultern. „Sofort, wenn Sie wollen. Aber warum sollte irgendjemand ein so aufregendes Leben mit Sherlock Holmes aufgeben? Wenn ich Sie wäre, würde ich mehr über Ihre gemeinsamen Abenteuer schreiben!“ Ich lächelte höflich, aber antwortete nicht. Zu jener Zeit erkannte ich es nicht und Josh sprach es niemals aus, aber Jahre später würde mir klar werden, dass diese Wohnung genauso angelegt war wie die 221B Baker Street. Und nun zu den beiden, die ich verlassen hatte. Es ist schwer, genau zu sagen, was in jenen ersten Wochen nach meinem Auszug aus der Baker Street geschehen war. Ich hatte Josh in der Obhut von Mrs. Hudson gelassen, aber das bedeutete natürlich auch, dass er ebenso in der Obhut von Sherlock Holmes war und ich habe wirklich keine Ahnung, was sie gesagt, getan oder gedacht haben mögen. Ich kann es mir vorstellen; ich kann Mutmaßungen anstellen; aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt eine Sache, die ich mit akkurater Sicherheit sagen kann: sie beide waren sehr verändert. Der Druck meiner Rückkehr in die Zivilisation, ganz zu schweigen meiner Rückkehr zu einer beständigen Karriere isolierte mich weiter von meinem Kind. Ich kann zugeben, dass ich mir damals nicht viel dabei dachte, einerseits weil ich so vollkommen damit beschäftigt war, mich meinem neuen Geschäftspartner zu beweisen und teilweise weil ich immer noch keine Ahnung hatte, was ich zu Josh sagen sollte. Ich denke, dass ich mir wahrscheinlich selbst einredete, dass Holmes die Sache bereits in die Hand genommen, es seinem Grad an Verständnis entsprechend erklärt hatte und es nicht notwendig war, die ganze Sache jemals wieder zu erwähnen. Warum ich das dachte, kann ich nicht sagen. Vielleicht dachte ich, Holmes habe sich mehr verändert, als es tatsächlich der Fall war. Ich dachte, es würde ihm gefallen, dass er nun sein eigenes Schlafzimmer hatte, ein ganz schönes Bisschen geräumiger als seine einengende Dachkammer und ich sogar die Hälfte meines neuen Wohnzimmers in sein privates Arbeitszimmer verwandelte, mit einem schönen neuen Schreibtisch, Büchern und einem bequemen Klubsessel. Er wirkte auf einzigartige Weise unbeeindruckt. Bis ich zu ihm sagte: „Du weißt, dass du so oft zurück in die Baker Street gehen kannst, wie du willst.“ Er blickte mich misstrauisch an. „Jeden Tag?“ „Wenn du es wünscht. Holmes wird dich weiterhin unterrichten. Zumindest bis du alt genug für die Grundschule bist.“ Er saß auf seinem Bett in seinem neuen Zimmer, während wir sprachen. Es war ein herrliches Zimmer, wenn ich selbst das sagen darf. Alles, was ich als Junge in seinem Alter gerne gehabt hätte. Bücher in jeder Form und Größe. Ein riesiges Schaukelpferd aus Mahagoni, weit besser als das, das er mit drei besessen hatte. Ein neues Set Spielzeugsoldaten, Zinn statt Holz mit feindlichen französischen Soldaten, gegen die sie kämpfen konnten. Es gab ein fantastisches Set der Arche Noah, mehrere Stofftiere und an den Wänden in hellen Farben gehaltene Bilder von Tigern, Elefanten und Affen. Es gab eine Modelleisenbahn, ein Kreisel, eine richtige Trillerpfeife. Aber Joshs Finger glitten lautlos zu dem Schachspiel, das Holmes ihm geschenkt hatte, streichelten träge das schwarze Pferd. Er hatte alldem kaum einen einzelnen Gedanken gewidmet. „Ich schätze, dann wird das nicht so schlimm sein.“ „Das will ich wohl meinen! Du hast alles, was ein Kind sich nur wünschen könnte.“ Er nickte, ohne mich anzusehen. Ich wusste, was er fragen wollte. Was ist passiert, Papa? Warum sind wir hier? Bist du böse mit mir? Bist du böse mit Onkel? Aber er tat es nicht. Kinder, so scheint es mir, so neugierig sie auch sind, bleiben oft lieber auf eigenes Risiko still und unwissend, als die Wut oder die Trauer eines Elternteils zu riskieren. [4] Viele Male während der nächsten Monate dachte ich daran, mit ihm zu sprechen. Doch ich sah ihn nur sehr unregelmäßig. Ich war fort in meiner neuen Praxis von Sonnenaufgang bis zum Abendessen, fünf- oder manchmal sechsmal pro Woche. Ich hatte eine Putzfrau und Köchin engagiert und ihr dafür, dass sie auf meinen Sohn aufpasste, vier Pfund zusätzlich zu ihren jährlichen Einkommen versprochen, was wahrlich ein guter Preis war. Für sie heißt das. Er war alt genug, um morgens alleine aufzustehen, sich zu waschen und anzuziehen. Sie brauchte ihm meistens nur sein Frühstück zu machen und ihn in die Baker Street zu bringen. Er würde den ganzen Tag dort bleiben, manchmal zum Abendessen zurückkehren und manchmal auf dem Sofa in unserem alten Wohnzimmer schlafen. Und als er schließlich sechs geworden war, bat er mich, ganz auf seine Anstandsperson zu verzichten und behauptete, er könnte die Reise über vier Blocks leicht allein machen. Ich stimmte zu, und sei es nur, um ihn lächeln zu sehen. Er tat es so selten in jenen Tagen. Aber irgendwie hatte sich ein schwarzes Leichentuch des Schweigens über unsere neue Unterkunft gelegt. Ich würde ihn an jenen Abenden, da wir ein gemeinsames Abendessen zustande brachten, fragen, wie sein Unterricht voran ging, was er an jenem Tag getan hatte, was er gerade las und was er gerade schrieb. Er würde mir in kurzen Sätzen antworten und manchmal nur mit einem Wort. Eines Nachts fragte ich ihn, wie es Holmes so ging. „Vielleicht würdest du es wissen, wenn wir immer noch dort leben würden.“ Er starrte mich wütend über seine Suppenschüssel an. Seine Augen waren wie blauer, gehärteter Stahl. Er war noch nicht einmal sechs Jahre alt. Ich war geschockt. Zu geschockt, um ihn härter zu bestrafen, als ohne Abendessen ins Bett zu schicken. Für eine lange Zeit erkundigte ich mich nicht mehr nach Holmes’ Wohlbefinden. Tatsächlich war es im März ’97 – beinahe fünf Monate, nachdem ich gegangen war – da ich Holmes wiedersehen sollte. Und es geschah nur aufgrund der besorgniserregendsten Umstände. März markiert den Anfang des Frühlings und für den Arzt ist es in der Tat eine willkommene Zeit. Das Ende des Winters, der Anfang der warmen Temperaturen und das Zurückgehen von Grippe, Tuberkulose, Lungenentzündung und Bronchitis. Ich hatte mit Dr. Askew nun seit vier Monaten zusammengearbeitet und war mit meiner neuen Situation sehr glücklich. Ich erkannte meinen Partner als gesellig, großzügig und begierig sowohl zu lernen als auch zu gefallen. Unsere Praxis war nicht groß und bis jetzt gab es noch wenige nennenswerte Patienten, aber wir wuchsen recht ansehnlich und Linwood (er bestand darauf, so genannt zu werden) sah unseren Profiten mit nervösem Optimismus entgegen. Mein professionelles Leben hatte sich sehr verbessert. Mein privates Leben verblieb stagnierend. Eines Tages gegen Ende des Monats saß ich in meinem Behandlungszimmer und füllte einige Berichte aus. Es war dankenswerterweise eine ruhige Woche gewesen und ich genoss die allmähliche Wärme, die durch mein Fenster hereinsickerte. Ich fühlte mich glücklich. Zumindest redete ich mir wiederholt ein, dass ich es sein sollte. Ich hörte Schritte schnell den Gang hinunter rennen. „Jetzt warte einen Moment!“, ertönte Askews Stimme. Meine Tür wurde weit aufgestoßen. „Papa! Er ist sehr krank! Du musst kommen!“ Josh war in einer so vollkommenen Panik, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Gesicht war vom Laufen gerötet und mit langen schmutzigen Streifen überzogen, von den Tränen, die ihm über die Wannen tropften. Seine Knie zitterten leicht, selbst dann als mit den Füßen zappelnd auf meinem Schreibtisch hang. Ich stand auf um seine Hand zu ergreifen. „Ist schon gut, beruhig dich. Was ist passiert?“ Josh holte zitternd Atem. Selbst unter Druck war er ein logisches Kind und war in der Lage, mir genau zu berichten, was passiert war. „Wir haben mathematische Probleme gelöst. Onkel schrieb eine Aufgabe an die Tafel und ich war am Schreibtisch und schrieb es ab. Er schwitzte und…und klang so“—er machte ein Geräusch, als würde er sich räuspern—„Aber er machte weiter und plötzlich sah ich, wie seine Augen in den Kopf zurückrollten und er fiel auf den Boden. Ich habe nachgeschaut, ob er noch atmet. Er sah mich an, aber er hat nichts gesagt. Ich bin sofort und ohne anzuhalten hierher gerannt.“ Ich riss den Jungen augenblicklich mit mir. Ich hatte nicht vor sechs Blocks weit zu laufen, daher rief ich die erste Kutsche, der wir über den Weg liefen und wir waren innerhalb von zehn Minuten an der Tür der 221B. Erst als wir dort ankamen erkannte ich, dass ich losgelaufen war, ohne auch nur ein einziges Wort an Dr. Askew zu richten. Ich rannte die siebzehn Stufen zum Wohnzimmer hinauf. Mein einziger Gedanke galt Holmes. Mrs. Hudson war bei ihm, aber er war immer noch ohne Bewusstsein und sie hatte nicht die Kraft, ihn zu bewegen. Ein müder Ausdruck der Sorge lag auf ihrem Gesicht, das sich merklich erhellte, als sie mich sah. „Gott sei Dank, Dr. Watson“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich hörte einen Rumms und dann rannte Ihr Sohn aus dem Haus, als ob der Teufel hinter ihm her wäre.“ Die beiden sahen einander und augenblicklich rannte Josh zu ihr und warf die Arme um die alte Dame. „Mein lieber Junge…“, murmelte sie, während sie seine nasse Wange streichelte. Ich zog Holmes hinüber aufs Sofa und entfernte Jackett und Kragen. Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, wie leicht er sich in meinen Armen anfühlte. Er war immer dünn gewesen, aber nun war er kaum mehr als Haut und Knochen. Ohne mich gab es niemanden, der sicher ging, dass er regelmäßig aß. Ich fühlte seinen Puls: unregelmäßig. Seine Atmung: flach. Seine Pupillen: geweitet. Seine Haut: gerötet und feucht. Seine Muskulatur…ich betastete seinen linken Arm. Etwas war falsch. Sogar durch seinen Ärmel konnte ich es fühlen. Die Haut rau und uneben. Als ich den Ärmel hoch rollte, erkannte ich sofort das Problem. Er war mit Einstichstellen übersäht. Mehr als ich jemals gesehen hatte. Manche schienen auf alten zu liegen, wenn der Platz es nicht erlaubte. „Gott…“, hörte ich mich selbst murmeln. Ich wollte heulen, ehrlich gesagt. Zuerst weinen und dann diesen Narren bewusstlos prügeln. Nachdem ich mich geräuspert hatte, bat ich Mrs. Hudson, mir eine kleine Menge Brandy zu bringen. Josh blieb, wo er war, beobachtet mich und schniefte leise. „Was fehlt ihm?“, fragte er. Wie konnte ich es ihm sagen? „Ich…ich bin nicht sicher. Aber es ist nichts Ernstes, das ist gewiss. Vermutlich nur die einfache Folge von Überarbeitung und Unternährung. Sogar die Besten unter uns können einen Riss in ihrer eisernen Konstitution verursachen, wenn sie sich zu wenig Ruhe und Erholung erlauben. Hat er in letzter Zeit dir gegenüber irgendwelche Fälle erwähnt?“ Josh schüttelte langsam den Kopf. „Er spricht nicht viel über seine Fälle. Er sagte, ich sollte mich auf…andere Dinge konzentrieren.“ Mrs. Hudson erschien und ich zwang ein wenig von der Flüssigkeit in seine Kehle. Seine Augen – selbst in diesem Zustand stechend und gebieterisch – flatterten und rollten in seinem Kopf herum, als ich im half, sich ein wenig aufzusetzen. Er stöhnte und stieß meine Hand beiseite, als ich versuchte mehr Brandy in ihn zu zwingen. Seine Hand hielt immer noch mein Handgelenkt umklammert und unsere Augen trafen sich. „Nun“, hörte ich ihn flüstern. „Sie sagen, was für Träume in diesem Schlaf des Todes kommen mögen [5] …und wie es scheint, werden sie manchmal sogar wahr.“ „Was um Himmelswillen hast du dir angetan?”, fragte ich und ignorierte das Rätsel. „Wir sind in dunkle Zeiten geraten, Watson.“ Er lächelte kurz. „Ja, das würde ich wohl sagen. Wie konntest du dir das nur antun?“ Ich flüsterte, um Mrs. Hudson und dem Jungen die ganze Sache zu ersparen, aber ich fühlte ein mächtiges Bedürfnis zu schreien. Sein Gesicht war in meinen Händen und in meinem Bauch erwachte ein Gefühl von Übelkeit. Ein einziger Gedanke wiederholte sich in meinem Geist: Es ist allein deine Schuld…Es ist allein deine Schuld…Es ist allein deine Schuld. Beinahe als ob er meine Gedanken lesen könnte (und es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn er es könnte), wurde mein Handgelenk freigegeben und er riss sich von mir los, setze sich ganz auf und knöpfte seinen Kragen zu. „Ich weiß eure entsetzten Gesichter als Zeichen euerer Sorge um meine Gesundheit zu schätzen, aber ich kann euch versichern, dass es mir gut geht. Ihr braucht nicht so erschrocken dreinzuschauen.“ „Einen Dreck brauchen wir nicht“, fluchte ich trotz der gemischten Gesellschaft. „Du bist krank, Holmes, und trotz der Einwände, die du ohne Zweifel erheben wirst, werde ich einen Spezialisten hinzuziehen.“ Sein Gesichtsausdruck wurde sofort von beinahe schon amüsiert und ruhig zu einschüchternd. „Du bist kaum in einer Position, um mir deinen Willen aufzwingen zu können, Doktor.“ Sein Körper zuckte leicht zurück, als hätte jemand eine Faust gegen ihn erhoben. „Du hast dir dieses Recht versagt.“ Ich merkte, wie ich mich losriss und vor ihm aufrichtete. Mit wenigen Worten und einem Wedeln mit der Hand bat ich unsere Zuseher, freundlicherweise den Raum zu verlassen. Mrs. Hudson sagte irgendetwas über Tee und Suppe und Josh protestierte, aber schließlich waren wir allein. Es lagen schwere Gefühle der Frustration in der Luft. Er beobachtete mich, während ich vor ihm auf und ab schritt. Er hasst diese Gewohnheit an mir für gewöhnlich, auch wenn er selbst hin und wieder auf den Füßen dachte. Diesmal sagte er nichts, beobachtete mich einfach nur. „Ich werde Dr. Moore Agar aus der Harley Street bitten, sobald als möglich vorbeizukommen. Er ein führender Spezialist in Sachen nervliche Störungen“— „Ich habe keine nervliche Störung.“ Aber in dieser Angelegenheit war ich erbarmungslos. Moore Agar wurde gerufen und als er am nächsten Tag erschien, warf er nur einen Blick auf meinen Freund und erzählte mir im Vertrauen, dass er Glück habe, immer noch auf Erden zu wandeln. Ich erwähnte das Kokain nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nötig war. „Er braucht völlige Ruhe und Erholung“, sagte Agar. „Für zwei Wochen, wenn nicht länger. Nichts darf seinen Verstand belasten, falls er den Wunsch verspürt, ihn zu behalten.“ Holmes für seinen Teil leistete keinen so heftigen Widerstand, wie ich erwartet hätte. Es gab ein paar gemurmelte Sätze über Harley Street Spezialisten, aber er stimmte zu. Es schien – oder zumindest mir schien – dass er einfach froh über meine Anwesenheit war. Es gab ausgedehnte Blicke und er lächelte heimlich zu sich selbst. Aber es gab auch Brustschmerzen und Übelkeit. Er sagte, er würde nach Cornwall gehen, wenn ich ihn begleiten würde. Ich überlegte zuerst, Josh mitzunehmen, denn die Vorstellungen von uns beiden allein, schien mir nicht unbedingt die klügste, aber er wollte nichts davon hören. Es würden er und ich sein müssen oder er würde direkt hier in London bleiben. Krankheit oder nicht. Tod oder nicht. „Warum um Himmelswillen solltest du nach Cornwall fahren wollen? Nach allem, was dort geschehen ist“— „Wenn du mich schon dazu zwingst Urlaub zu machen, Doktor, dann werde ich nach Cornwall fahren oder überhaupt nirgendwo hin. Es ist diene Entscheidung.“ Er erzählte mir niemals, warum er so sehr auf Cornwall bestand. Ich habe meine Vermutungen. Dort gab es das Meer und die Heide, ein trostloses Gebiet voller neolithischen Grabstätten und die Wellen die an den Klippen verendeten, was an seinen wissenschaftlichen Verstand und seine Abneigung gegenüber der Menschheit appellierte. Wir würden beinahe völlig isoliert sein, nur wir beide. Und natürlich hatte Cornwall die Ehre, der letzte Ort zu sein, an dem wir zusammen und glücklich gewesen waren, egal wie kurzzeitig und merkwürdig jenes Glück gewesen war. Ich bin mir sicher, dass Sie, mein Leser, wissen, woran ich mich damit annähre, denn ich habe die Einzelheiten jenes Falles, der zunächst als „Der Schrecken von Cornwall“ und später als „Der Teufelsfuß“ bekannt war, bereits anderweitig besprochen. Ich reservierte augenblicklich ein kleines Cottage für uns beide in Poldhu Bay in der Nähe des kleinen Dorfes Tredanick Wollas. ___________________________________________________________________________ [1] Einer der populärsten Klubs im 19. Jahrhundert, seine Mitglieder schlossen auch Sir Arthur Conan Doyle ein. Manche spekulieren, dass Watson ein Mitglied dieses Klubs gewesen war. Andere bezweifeln es wegen seiner Nähe zum Diogenes Klub, auf die Watson (ihrer Meinung nach) sicher eingegangen wäre. [2] Natürlich die eine, die ihm von Queen Victoria geschenkt wurde. [3] Siehe „Studie in Scharlachrot.“ Doyle (oder Watson) muss erkannt haben, wie schwierig es sein würde, Holmes nur Dinge wissen zu lassen, die für seinen Beruf relevant wären, denn später machte er Bemerkungen über Dinge, die er laut „Studie“ nicht wissen dürfte. Und natürlich hätte keinem Mann, der so clever ist wie Holmes, die Tatsache entgehen können, dass sich die Erde um die Sonne dreht. [4] Ob das noch der Fall ist, bleibt erstmal offen. : ) [5] Aus Hamlet Akt 3, Szene 3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)