Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 3: ----------- So, hier ist also Kapitel 3. Viel Spaß damit! Kapitel 3 Und so, werter Leser, kennen Sie nun die Details, die ich in meinen Veröffentlichungen zu einer einzelnen Zeile reduzierte und weshalb ich damals – nachvollziehbar wie ich meine – nicht der Mann war, der ich normalerweise bin. Auch nicht zwei Wochen später, als ich beschloss wieder in meine Praxis zurückzukehren. Ich muss zugeben, dass mein Assistent Parks ein recht bemerkenswerter Zeitgenosse war und ich sollte niemals dazu in der Lage sein, ihm meine Dankbarkeit dafür auszudrücken, dass er während meiner Abwesenheit alles geregelt hatte. Er war ein wundervoller Kerl und ich glaube, ich wusste ihn nie wirklich zu schätzen. Ich denke, dass meine Faszination für den Mord an Ronald Adair zumindest zum Teil von meiner Freundschaft zu Holmes ausging, der mein Interesse für Verbrechen mit so außergewöhnlichen Umständen erweckt hatte. In der Gegenwart meines Freundes war es unmöglich keine Leidenschaft für das Ungewöhnliche und Groteske zu entwickeln und auch ich war da keine Ausnahme. Aber ich denke auch, dass ich mich mit jenem Fall befasste, um meinen Schmerz zu lindern. Ablenkung ist die beste Methode, um mit Trauer fertig zu werden. Ich war gerade auf dem Rückweg von der Untersuchung anlässlich seines Todes, als ich durch Zufall mit einem alten Buchhändler zusammenstieß. Ich war recht abwesend zu jenem Zeitpunkt. In Gedanken ging ich die Fakten noch einmal durch und versuchte, meine Schlüsse daraus zu ziehen, so wie mein verstorbener Freund es getan hätte. Ich kannte seine Methoden nur zu gut, aber sie in der Praxis anzuwenden, schien weit jenseits meiner Fähigkeiten. Ohne Zweifel wissen all jene Leser, die auch meine Erzählung „Das Leere Haus“ kennen, dass ich völlig ahnungslos war, was die Identität des älteren Gentlemans anging, und ihn im selben Moment schon wieder vergessen hatte. Da mein Arbeitstag so gut wie zu Ende war, kehrte ich rasch zu meiner Praxis zurück, plauderte kurz mit Parks über den Fall, um dann mit ihm zusammen abzuschließen, ehe wir uns gegenseitig eine gute Nacht wünschten. Ich war kaum zu Hause in meinem Arbeitszimmer angelangt, als Ivy einen Besucher ankündigte. Es war derselbe alte Knabe, der Buchhändler, der sich für seine frühere Grobheit entschuldigen wollte. Ich hatte ihm gerade erklärt, dass er sich um eine solche Kleinigkeit keine Sorgen zu machen brauchte, als ich erneut aufblickte und niemand anderes vor mir stand als Sherlock Holmes. Es ist zweifellos klar, dass es dieser Schrecken gewesen war, der – zusammen mit meinen ohnehin schon stark strapazierten Nerven – daraufhin den einzigen Ohnmachtsanfall in meinem gesamten Leben verursachte. Aber was ich in meinen früheren Aufzeichnungen ausließ, war die Tatsache, dass ich meiner Intelligenz und jeglicher Vernunft zum Trotz davon überzeugt war, einen Geist zu sehen. Ich erwachte mit dem prickelnden Gefühl von Brandy auf der Zunge und einem geöffneten Kragen. „Mein lieber Watson“, erklärte Holmes. „Ich entschuldige mich tausendfach. Ich hatte nicht erwartet, dass du so betroffen sein würdest.“ „Holmes, bist du es wirklich?“ Ich packte ihn am Arm in der Erwartung, einfach durch ihn hindurch zu greifen. „Wie kann es sein, dass du am Leben bist?“ „Warte einen Augenblick. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich jetzt besprechen sollten. Mit meinem unnötig dramatischen Auftritt habe ich dir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“ Natürlich bestand ich darauf, dass es mir gut ginge und er mir sofort erklären müsse, wie er in mein Arbeitszimmer kam, wo ich ihn doch auf dem Grund Reichenbachs wähnte. Dies alles habe ich bereits an anderer Stelle erzählt. Aber während ich in meinem Bericht über die glorreiche Rückkehr des Sherlock Holmes nichts als freudige Erregung und maßloses Erstaunen empfand, ist nun schließlich der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zugeben muss, dass die Wahrheit vollkommen anders aussah. Er lehnte sich gegen meinen Schreibtischsessel und rauchte eine Zigarette – so selbstverständlich, als wären wir wieder in der Baker Street und diskutierten über einen Fall. „Und so geschah es, dass ich überlebte und alle außer meinem Bruder Mycroft mich für tot hielten.“ Während ich sein gleichgültiges Benehmen beobachtete, konnte ich spüren, wie sich mein Puls beschleunigte. „Wie kommt es, dass du es mir nicht erzählt hast?“, fragte ich. „Ich entschuldige mich, Watson, aber du musst verstehen, dass ich das nicht konnte. Es war unerlässlich, dass du die Öffentlichkeit von meinem vorzeitigen Ableben überzeugst. Wer sonst, als mein treuer Freund und Biograf wäre in der Lage ein solches tief empfundenes und authentisches Gefühl zu Papier zu bringen? Nein, nein, mein lieber Doktor, es gab wirklich keinen Weg, dich einzuweihen.“ „Wie kannst du es wagen!“, rief ich. Niemals zuvor hatte ich einen solchen Hass für jemanden verspürt, dem ich normalerweise nichts als tiefste Liebe und Respekt entgegenbrachte. „Wie konntest du nur? Ist dir nicht klar, wie sehr mich dein Tod verletzt hat? Dass ich teilweise mir die Schuld daran gab, weil ich dich nicht hatte retten können? Wie konntest du nur so grausam sein!“ Er war auf die Füße gesprungen. Auf seinem Gesicht waren deutlich Fassungslosigkeit und Trauer zu erkennen. „Watson, mein teurer Freund, es tut mir Leid. Das tut es wirklich. Aber du musst verstehen, dass es keine Möglichkeit gab, es dir zu verraten! Mein Leben hing davon ab, dass jedermann glaubte ich sei tot.“ Es erforderte jeden Funken von Beherrschung, den ich aufbringen konnte, um ihn nicht einfach ins Gesicht zu schlagen. Ich hatte so viel, so unglaublich viel verloren, mich selbst so heftig für seinen Tod beschuldigt und er besaß nicht einmal den Anstand, mich von dieser Schuld zu erlösen. „Und trotzdem hast du deinem Bruder vertraut. Ihn hieltest du für vertrauenswürdig aber mich nicht? Mir ist klar, dass ich nicht über die…Herzlosigkeit verfüge, die euch offensichtlich in der Familie liegt, aber mit Sicherheit bin ich nicht ein solcher Idiot, dass du mir in dieser Sache nicht hättest vertrauen können.“ Sogar in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme entsetzlich sarkastisch und verbittert. „Doktor, das ist deiner nicht würdig. Ich verstehe, dass dich die Tragödie, die ich vor kurzem inszeniert habe, sehr betroffen hat und ich versichere dir, dass du mein tiefstes Mitgefühl hast, aber du musst verstehen…“ „Mitgefühl!“, schrie ich. „Ich habe dein Mitgefühl! Was weißt du schon von Mitgefühl? Für dein kaltes, gefühlloses Herz ist das doch nur ein Wort, eine Definition für etwas, von dem du nicht die geringste Ahnung hast! Ich hätte niemals gedacht, dass du zu einer solchen…unmenschlichen Farce in der Lage wärst, aber nun…“ Ich hielt inne. „Nun erkenne ich, dass ich Unrecht hatte“ „Watson…“ Aber er konnte nur seinen Kopf schütteln. Für zumindest ein einziges Mal in seinem Leben hatte es ihm die Sprache verschlagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so mit ihm reden würde. Ihn so vor mir stehen zu sehen – wie ein ungehorsames Kind, das gescholten wird – erweckte beinahe Mitgefühl in meinem eigenen Herzen, das mich dazu gezwungen hätte, zu sehen, dass ich handelte ohne nachzudenken. Aber der Schmerz und der Verrat, die meine Wut immer weiter schürten, behielten schließlich die Oberhand. „Ich fürchte, Sir“, sagte ich mit kalter und ausdrucksloser Stimme. „Dass ich Sie bitten muss mein Haus zu verlassen.“ „Aber…“ „Sofort, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Sein Mund klappte zu und seine grauen Augen blinzelten mehrmals voller Entsetzen. Aber so still wie die tiefste Nacht, sammelte er die Überreste seines Buchhändlerkostüms und verließ mein Haus so zivilisiert wie immer. Damals hatte ich gedacht, ich würde ihn nun niemals wieder sehen. Und wäre es so gekommen, dann wäre es mir völlig Recht geschehen. In der Woche nach meinem Zusammentreffen mit Holmes, überlegte ich, ob ich die Baker Street aufsuchen sollte, und sei es nur um zu beweisen, dass ich mir die ganze Begegnung nicht nur eingebildet hatte. Mein Zorn war noch in derselben Stunde verraucht, als er mich verlassen hatte und wenn ich nun mit einem klaren Kopf darüber nachdachte, erkannte ich, dass das was ich gesagt hatte, nicht nur nicht der Wahrheit war, sondern auch grässlich und ganz und gar würdelos. Aber jedes Mal wenn ich dem Kutscher die wohlbekannte Adresse nennen wollte, versagte meine Zunge und ich konnte es nicht. Ich hatte Angst, dass er mich nach allem, was geschehen war, nie wieder würde sehen wollen. Aber ich hätte ihn besser kennen müssen und eine Woche danach, wurde mir das auch klar. „Sir, an der Tür ist ein Gentleman, der Sie zu sehen wünscht“, berichtete mir Ivy spät am Abend. Es waren jene Abende, an denen ich Mary am meisten vermisste. Einfach ihre Gesellschaft, wenn ich an meinem Schreibtisch arbeitete und das tröstende Geräusch ihrer Nähnadeln neben mir. Es gab keinen mehr, der sich nach meinem Tag erkundigte. Ich wand mich sofort von ihr ab, in der Hoffnung, dass sie meine Tränen nicht bemerkt hatte. „Bitte ihn zu gehen, Ivy, wer auch immer es ist. Ich bin einfach nicht in der Stimmung, mich mit jemandem zu unterhalten.“ „Nun…er ist ziemlich hartnäckig, Sir.“ „Es ist mir egal, was er ist“, schrie ich. „Bitte ihn zu gehen!“ „Watson“, hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Ich sah auf und erblickte Sherlock Holmes auf der Türschwelle. Zum ersten Mal gekleidet wie ich ihn in Erinnerung hatte, als er selbst und nicht als ein alter Buchhändler. Seinen Zylinder immer noch auf dem Kopf, den Anzug ganz in Schwarz und in der Hand, wie es typisch für einen anspruchsvollen Gentleman war, einen teuren Gehstock aus Silber und Mahagoni. Es war beinahe, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen, seit er mir das letzte Mal unter die Augen gekommen war (unter normalen Umständen, meine ich), als ob diese letzten drei Jahre nichts als eine schwache Erinnerung wären. Ein Teil von mir war bestürzt über seinen Anblick und das Wissen, wie ich ihn vor nur einer Woche behandelt hatte, brannte schmerzhaft in mir. Aber mehr als alles andere fühlte ich mich unglaublich dankbar und erleichtert, ihn hier, in meinem eigenen Haus, zu sehen, denn ich wusste nun, dass er mir nichts nachtragen würde. „Trotz meiner unerwünschten Hartnäckigkeit, Doktor, würdest du wirklich deinen ältesten Freund aus deinem Haus und auf die Straße werfen?“ Auf seinem Gesicht erkannte ich einen Anflug von Sarkasmus, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies einfach Teil seines bizarren Humors war. Mit einer schnellen Bewegung wischte ich mir über die Augen und hoffte, dass es keiner bemerkt hatte. „Nein, nein, natürlich nicht“, sagte ich mit einem Räuspern. „Komm herein, Holmes. Danke, Ivy.“ Er schob mein Hausmädchen beiseite und gab ihr kaum Zeit das Zimmer zu verlassen, bevor er die Tür hinter ihr schloss. Auch hielt er sich nicht damit auf Hut, Mantel oder Handschuhe abzulegen. Anstatt etwas zu sagen schritt er im Zimmer auf und ab, während er sich heftig die Hände rieb, ein sicheres Zeichen für seine Nervosität. In der Tat ähnelte er sehr einem ruhelosen Geist, wann immer er es wagte, etwas von seinem Herzen zu preiszugeben und nicht von seinem Genie. Und ich wusste genug, um zu wissen, dass er genau deshalb hier war. Ich stand von meinem Sessel auf und versuchte unter größter Anstrengung einigermaßen gelassen zu wirken, während ich zu meinem Spirituoseschrank ging; unverschlossen, wegen des Brandys, in dem ich damals gelegentlich Halt suchte. „Darf ich dir etwas anbieten?“, fragte ich ihn. Aber Holmes trank so gut wie nie Alkohol, außer wenn er in ruhiger oder ausgelassener Stimmung war. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern, versuchte er nicht, damit seine Nerven zu beruhigen. Dafür hatte er andere Mittel. „Nein, danke, das ist nicht nötig. Aber es stört dich doch sicher nicht, wenn ich eine Zigarette rauche?“ „Natürlich nicht.“ Ich bin mir sicher, dass diese gezwungene Unbefangenheit uns beiden sofort unangenehm wurde. Und tatsächlich, während er mein Wohnzimmer mit dicken Schwaden blauen Rauches füllte, erkannte ich, dass ich ihn anstarrte – und er mich – in einem wortlosen Tête-à-tête voller Unbehaglichkeit. Es war wahrscheinlich das einzige Mal in meiner Erinnerung, da weder er noch ich auch nur ein einziges Wort zu sagen wussten. Aber ich vermute, der einzige Grund dafür war, dass keiner von uns das sagen wollte, von dem wir wussten, dass es nötig war. Aber schließlich, getrieben von liebevoller Rücksichtsnahme und von – ich wage, es beim Namen zu nennen – tiefster Scham über mein Benehmen, begann ich als erster zu sprechen. „Holmes“, sagte ich. „Ich muss mich wirklich für letzte Woche entschuldigen. Ich…habe mich furchtbar benommen.“ „Nein, nein.“ Er wedelte abweisend seine Hand durch die Luft und wirbelte damit zirkulierende Rauchschwaden um sich herum auf. „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich habe dich furchtbar behandelt. Von dir zu erwarten, du würdest mich mit offenen Armen empfangen, nachdem ich dich in diesen letzten Jahren so grässlich hintergangen haben. Ich hätte dich niemals in dem Glauben lassen dürfen, ich sei wirklich tot.“ Nichtsdestotrotz erfüllte sein Ernst mein Herz mit noch weiterer Schuld. Denn ich wusste, auch wenn er sich in seinem Urteil über mich geirrt hatte, dass es entsetzlich selbstsüchtig von mir war, von ihm zu erwarten, sein Leben zu riskieren, nur um mein Gewissen zu erleichtern. „Holmes, du schuldest mir nichts. Keine Entschuldigungen, nein, nicht einmal Worte. Mein Benehmen letzte Woche war…“ Ich konnte kaum ein passendes Wort dafür finden. „Abscheulich. Alles, was ich dir als Erklärung dafür geben kann, ist, dass ich in letzter Zeit nicht ich selbst gewesen bin. Aber es ist nicht meine Absicht, dies als Entschuldigung zu missbrauchen.“ Seine darauf folgenden Taten waren, wie ich denke, von Mitleid gelenkt. Der Blick in seinen stahlgrauen Augen verlor etwas von seiner Härte und schien nun beinahe menschlich. Sein ganzes Auftreten entspannte sich. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf sie dann ins Feuer. „Mein lieber Watson“, sagte er mit seltsam sanfter Stimme. Eine Stimme, die ich niemals zuvor gehört hatte. „Dein Benehmen mag dir unentschuldbar vorkommen. Aber mir nicht. Dir ist so viel Schreckliches in einer so kurzen Zeitspanne widerfahren. Und ich darf wohl sagen, dass meine Liebe für alles Dramatische deinen Kummer noch vergrößert hat. Wenn ich gewusst hätte…“ Er hielt inne, versuchte zweifellos die richtigen Worte zu finden. Offenkundige Gefühlsäußerungen waren bei Gott nicht seine Stärke. „Ich denke, dass ich mich wohl genauso verhalten hätte, wenn unsere Plätze vertauscht gewesen wären.“ Vielleicht lag es an dem, was er gesagt hatte und ich so dringen hatte hören müssen, vielleicht aber auch an etwas ganz anderem, etwas verwandt mit dem zerrütteten Zustand meiner Nerven und meines Herzens in jenem Augenblick, aber warum auch immer, ich tat etwas, was ich nie zuvor in Gegenwart eines anderen Mannes getan hatte; ich begann zu weinen. Vermutlich schockierte es Holmes, mich so zu sehen, aber es ließ es sich kaum anmerken. Nur ein kaum merkliches Stirnrunzeln und ein leichtes Zucken der Unterlippe verrieten ihn. Ich kann nicht wirklich sagen, was als nächstes passierte, so sehr war ich damit beschäftigt inhaltslose Entschuldigungen zu plappern und, natürlich, mich unbeschreiblich zu schämen. Irgendwie war er plötzlich geradewegs neben mir. Im ersten Moment stand er noch neben dem Kamin und im nächsten direkt vor mir. „Ich…ich weiß nicht, was über mich gekommen ist“, sagte ich, als ich mich von ihm abwandte. Ich konnte es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Ich konnte fühlen, wie sich seine geschmeidigen Hände auf meine Schultern legten. Mein Körper erstarrte zu Eis, denn das Letzte, was ich wollte, war sein Mitleid. Geschweige denn diese Berührung. Mein Verhalten war eines englischen Gentlemans vollkommen unwürdig. „Watson“, sagte mein Freund in einer Stimme, die sehr sanft klang und so überhaupt nicht nach Holmes. „Dreh dich um.“ „Bitte geh einfach.“ Sein Griff wurde fester und bestätigte die Sturheit, die ich an ihm bereits kannte. Er würde erst gehen, wenn es ihm passte und es würde ihm erst dann passen, wenn er gesagt hatte, was er sagen wollte. Ich wurde von einer kurzen Wut erfasst, dass er sogar in meinem eigenen Haus die Überhand behalten sollte, aber dann begann er erneut zu sprechen. „Bitte, Doktor, dreh dich um.“ Und ich gab nach. Weil ich ihm niemals etwas abschlagen konnte, früher nicht und damals auch nicht. Er blickte auf mich herab mit all der Zärtlichkeit, zu der ein solcher Mann wie er fähig ist, blickte mich an trotz meiner Erniedrigung, und tat etwas vollkommen Schockierendes. Die Hand, die auf meiner Schulter gelegen hatte, zog mich dicht an ihn, während er die andere auf meinen Hinterkopf legte. Was auch immer ich von ihm in jenem Moment erwartet hatte, mich zu umarmen, gehörte ganz bestimmt nicht dazu. Ich war viel zu erschrocken, um auch nur an Gegenwehr zu denken, und so stand ich einfach nur da, meine Wange an seine Brust gepresst und atmete den vertrauten Geruch nach Pfeifentabak ein, den sein Jackett verströmte, während ich der Frage nachging, was in Gottes Namen bloß in über ihn gekommen war. „Mein lieber Watson“, sagte er schließlich. „Du sollst wissen, dass ich nicht schlechter von dir denke als früher. Wenn ein Mann jemals das Recht hatte, zusammenzubrechen.“ Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er mich wieder losließ und wieder zu jenem messerscharfen Wesen aus Stahl wurde, als das die Welt ihn sah. Es zog noch eine Zigarette hervor und stand da mit diesem seltsamen Lächeln, als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre. „Ich…ich danke dir, Holmes. Für dein Verständnis.“ Aber er zuckte nur die Achseln. „Das war nichts weiter“, meinte er. „Und nun.“ Er hielt inne, um sich die Hände zu reiben. „Nun haben wir Pläne zu machen.“ „Pläne? Was für Pläne…warte mal, du lieber Himmel! Du bist ja verletzt.“ Nun da ich seine Hände aus der Nähe sah, bemerkte ich den selbst gemachten Verband auf seinem linken Ringfinger. Der Schwellung nach zu urteilen, war er eindeutig gebrochen. Es sah aus, als hätte jemand versucht ihn aus dem Gelenk herauszureißen. Mit dem geübten Auge eines Doktors, inspizierte ich rasch und instinktiv den Rest von ihm. Auf den ersten Blick erkannte ich einen zweiten Verband, fast völlig von seinem Kragen verdeckt. Der Verband war nicht besonders sorgfältig gemacht, unverkennbar hatte er es selbst getan und das, was ich von der Wunde sehen konnte, zeigte mir deutlich, dass ihm tiefer Kratzspuren zugefügt worden waren. Zweifellos von einem Menschen, der Größe nach zu schließen. „Wurdest du in einen Kampf verwickelt?“, fragte ich. Er lächelte. „Es ist nichts. Die Visitenkarte eines Freundes, das ist alles.“ „Einem Freund? Wenn das ein Freund war, dann will ich nicht wissen, was ein Feind…“, ich brach ab und fühlte Hitze in meinem Gesicht aufsteigen, als ich merkte, was ich da sagte. Innerlich sah ich die Wassermassen Reichenbachs, die sich nicht auf einen, sondern auf zwei Körper ergossen. Vor meinen Augen zerfielen sie, bis nur noch die Knochen übrig waren, das Ergebnis von einem Jahrhundert von Verschwendung und Nachlässigkeit. Eilig räusperte ich mich und wand mich wieder seinen Verletzungen zu. „Ich könnte mich ein wenig besser darum kümmern.“ „Nein, nein, achte einfach nicht darauf. Eine Kleinigkeit sonst nichts. Das reizende Souvenir eines Shakari. Es war mir ein Vergnügen, London von dem Colonel zu befreien.“ Ich wollte ihn fragen, wovon er da überhaupt redete und Holmes erkannte das zweifellos, denn er wechselte sofort das Thema. „Und jetzt zu unseren Plänen.“ „Pläne…ach, ja. Von was für Plänen sprichst du überhaupt?“ „Für dich alter Junge. Für dich und deinen Sohn.“ „Für mich und meinen…warte mal, woher wusstest du, dass ich überhaupt einen Sohn habe? Hat dir dein Bruder von ihm erzählt?“ „Ha! Als ob Mycroft sich jemals mit häuslichen Ereignissen außerhalb seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigen würde! Das glaube ich kaum. Nein, nein, er hat ihn nicht mit einem Wort erwähnt. Es war eine ganz simple Deduktion.“ Mit einem schnellen Blick durchsuchte ich den Raum und versuchte den Hinweis zu finden, der ihm die Existenz meines Sohnes verraten hatte. „Ich sehe nichts, wovon du deduzieren könntest.“ Mein Blick streifte den Kamin und erinnerte mich daran, direkt vor einem Foto meines Sohnes zu sitzen. „Du sahst zweifellos das Bild.“ „In der Tat.“ „Aber das kann nicht alles sein.[1]“ „Nein, nicht ganz.“ Mit einem Lächeln deutete er auf den Boden neben meinen Schreibtisch. „Was meine Methoden betrifft, bist du wohl aus der Übung. Das hier war ziemlich einfach.“ Ich blickte zu meinen Füßen hinab und sah einen hölzernen Spielzeugsoldaten, ungefähr 5 Zoll groß mit einer schön gemalten roten Jacke sowie einer recht detailreichen Uniform und einem sorgsam gefertigten Gesicht. Er gehörte zu einem Satz, den ich dem Jungen erst vor einer Woche an seinem Geburtstag gekauft hatte. Kopfschüttelnd hob ich ihn auf und stellte ihn auf den Schreibtisch. „Nun erkennst du es, Doktor! Falls du also deine Tochter nicht mit Spielzeugsoldaten Krieg spielen lässt, würde ich sage, das Bildnis auf dem Kaminsims ist das eines männlichen kleinen Watson junior.“ „Ganz offensichtlich sind deine außergewöhnlichen Fähigkeiten über die Jahre nicht eingerostet.“ Er ließ das typische, pfeilschnelle Grinsen auf seinem Gesicht aufleuchten, während er Richtung Kamin schlenderte, um das Bild meines Sohnes in die Hand zu nehmen und es so eingehend zu betrachten, wie er es sonst mit Proben unter seinem Mikroskop zu tun pflegte. „Er…wird bald drei, nicht wahr?“ „Ist es gerade geworden“ Dies war einer der ganz seltenen Momente, in denen es mir erlaubt war ihn zu verbessern. „Sein Geburtstag war am fünften Oktober.“ „Ah, dann war er eine Frühgeburt.“ „Ja…fast einen Monat, soweit wir das sagen können. Aber woher weißt du das?“ „Eine einfache Rechnung, da ich mich noch an das Datum des Tages erinnere, als du voller Freude über deine bevorstehende Vaterschaft in mein Wohnzimmer gestürzt bist.“ Er wand seine Aufmerksamkeit erneut der Fotographie zu. „Dein Sohn ist ziemlich intelligent, würde ich sagen, bereits dabei das Schreiben zu lernen. Trotz seines Alters ist er ein ungeduldiges Kind, aber das muss nichts Schlechtes heißen. Ich sehe außerdem, dass er ein recht lebendiger Junge ist, aber noch recht wackelig auf den Beinen. Ah, und ein Tierfreund. Das ist gut, ja. Sehr gut.“ Ich hörte mein eigenes Lachen, mein Lachen darüber, wie er da stand und den Charakter meines Sohnes von einem drei Monate alten Foto beschrieb. „Ach Holmes. Ich weiß, ich sollte nicht überrascht sein. Ich bin sicher, du bist nicht überrascht, zu hören, dass du Recht hast – in jeglicher Hinsicht. Aber ich muss wahrlich blind sein, denn wäre er nicht mein Sohn, könnte ich nichts davon auf diesem Bild erkennen.“ „Aber, aber Watson. Schau genau hin. Nimm das Foto. Ja, so ist’s gut. Und jetzt.” Er verschränkte seine Hände vor seinem Gesicht und betrachtete mich gefühlvoll. „Sieh es nicht nur an. Erkenne.“ Ich versuchte es. Ich versuchte, das Bild nicht mit den Augen eines Vaters sondern denen eines geübten Beobachters zu sehen. „Nun, ich vermute, du wusstest von seiner Intelligenz, da er, wie ich zugeben muss, einen recht großen Kopf hat.“ „Und seine Augen, Watson. Darin schimmert geistige Aktivität. In Ordnung, mach weiter.“ „Ich erinnere mich, dass du einmal sagtest, an der Entwicklung der Handmuskulatur könne man einen Rechts- von einem Linkshänder unterscheiden. Und ich schätze, du konntest auf dem Bild sehen, dass seine rechte Hand von den häufigen Schreibübungen für ein Kind seines Alters ziemlich dünn und muskulös ist.“ „Sehr gut, Doktor!“ „Was den Tierfreund angeht, das ist er mit Sicherheit und du erkanntest es, weil er mit der linken Hand Blackie umklammert, äh…seinen Stoffhund.“ „Ganz recht…Watson…du kommst wieder in Übung. Bitte mach weiter.” Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich fürchte, mehr kann ich nicht sagen.“ „Aber, aber…na ja, Ich schätze, da du vier Jahre lang überhaupt nichts getan hast…“ „Wie bitte? Da ich überhaupt nichts getan habe?“ Aber er winkte ab. „Du weiß, was ich meine. Wie ich gerade sagte, vier Jahre lang nichts zu tun, würde wohl jeden etwas aus der Übung bringen. Das sollte sich bei Zeiten wieder legen. Nun, seine Ungeduld ist ziemlich offensichtlich an der Art zu erkennen, wie er nach dem Stoff seines Kleides greift. Siehst du es? Er zerrt daran. Zweifellos war es schwer für ihn, so lange für den Fotografen stillzusitzen. Seine Beinmuskulatur ist sehr angespannt, ein deutliches Zeichen dafür, dass er dieser Situation überdrüssig ist. Und was die Aktivität angeht, bemerkte ich, dass sein rechter Ellebogen aufgeschürft ist. Das ist genau, was man bei einem Kind erwarten würde, das stürmisch und lebhaft, aber noch nicht ganz sicher auf seinen Füßen ist. Zweifellos sind auch seine Knie, die ich auf diesem Bild nicht erkennen kann, zerkratzt und ramponiert.“ Ich konnte spüren, wie sich gegen meinen Willen ein Lächeln auf meine Lippen schlich. Zum ersten Mal seit Holmes auf so unerwartete Weise wiederaufgetaucht war, begann ich mich in seiner Gegenwart wieder so zu fühlen, wie ich es früher getan hatte. Unbeschwert, fröhlich, aufmerksam, hin und wieder verwirrt und trotzdem...Es gibt keinen anderen Mann, dessen Gesellschaft ich mehr genoss als die seine. Sein bloßer Anblick – zurück und wieder bei der Arbeit…nun ja, es war genug, um mein Herz beinahe wieder in denselben Zustand zurückzuversetzen, in dem es vor meinem Verlust gewesen war. „Ich wage zu sagen, du hast Josh fehlerlos beschrieben, Holmes. Es ist fast so, als würdest du ihn schon sein ganzes Leben lang kennen.“ „Er heißt also Josh?“, erkundigte er sich. „Nun ja, eigentlich ist sein Name John Sherlock Watson. Mary kam auf die Idee mit Josh. Das ‚JO’ von seinem ersten und das ‚SH’ von seinem zweiten Vornamen.[2]“ „John…Sherlock? Zum Teu…Watson, ich fühle mich geehrt. Und du hast dein Kind wirklich nach mir benannt?“ Ich freute mich über seine Worte, auch wenn ich ihm übel nehme, dass er offensichtlich Mühe gab, nicht besonders geehrt zu wirken. „Nun ja, seinen zweiten Namen. Und außerdem hatte ich eigentlich gedacht, es ist dein Andenken, das ich ehre.” Er schenkte mir eines jener Grinsen, die so typisch für ihn waren. „Tja, was auch immer deine Motive waren, es ist, wenn ich das sagen darf, die wohlwollendste Geste, die mir jemals zu Teil wurde“ Da ein solche Anerkennung aus Holmes’ Mund wahrlich eine Seltenheit war, konnte ich nicht anders, als vor Freude zu erröten. Was den Namen meines Sohnes anging, hatte ich mir aus logischen Gründen niemals Gedanken über seine Reaktion gemacht, aber wäre er am Leben gewesen, als ich beschlossen hatte, meinem Sohn diesen Titel zu verleihen, wäre ich davor auf der Hut gewesen. Ungerechtfertigte Bezeugungen der Bewunderung waren etwas, worüber er die Nase rümpfte; einmal hatte er sogar einen Ritterschlag von der Queen höchst persönlich ausgeschlagen. Schlicht und einfach weil er sich selbst als nicht würdig für diesen Prunk und eine solche Stellung empfand [3]. Deshalb war ich sehr glücklich, dass er in diesem Fall offensichtlich viel davon hielt, dass ich meinem Kind diesen ehrenvollen Namen vermacht hatte. So glücklich, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, noch hinzuzufügen: „Außerdem bist du Joshs Taufpate, Holmes. Posthum natürlich, zumindest war es das, was ich dachte, aber ich konnte den Vikar davon überzeugen, dass dies ein besonderer Fall war.“ Holmes antwortete nicht sofort, sondern schien in seiner eigenen Welt gefangen und betrachtete die Flammen im Kamin, als enthielten sie irgendwelche wundersamen Geheimnisse, während er langsam an einer weiteren Zigarette sog. Ich wurde etwas beunruhigt, als bereits eine ganze Minute vergangen war und er noch immer nichts gesagt hatte. Ich wusste, dass Holmes’ religiöses Bekenntnisse im allerbesten Fall recht flüchtig waren und während ich zumindest hin und wieder die Messe besuchte, tat er es nie. Was dieses Thema betraf, hatte er seine Meinung eigentlich niemals genau geäußert, aber vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht hatte ich ihn mit meinem anmaßenden Handeln sogar gekränkt. Doch als schließlich seine Zigarette ausgeraucht war, warf er sie ins Feuer und schlug mir auf die Schulter, wodurch sich ein Anflug von Schmerz in meiner alten Wunde regte[4]. „Ich kann es kaum erwarten, den Jungen zu treffen!“, rief er aus. „Ich hätte nicht erwarten, jemals ein Patenkind zu bekommen.“ Erleichterung durchflutete mich und ich atmete unbemerkt auf. Trotz allem erschien es mir recht ungewöhnlich, dass Holmes sich darauf freuen sollte, ein Kind kennen zu lernen, selbst wenn es sich um mein eigenes handelte. Ich hatte in ihm nie einen Mann gesehen, der viel mit Kindern anfangen konnte, außer wenn er selbst einen Nutzen daraus zog, wie bei den Irregulars. Vielleicht schwang allerdings auch ein Hauch von Ironie in seinem Ausruf mit, aber ich beschloss, nicht darauf einzugehen. „Nun, das wirst du auf jeden Fall. Schon morgen, wenn es dir Recht ist. Ich, zumindest, würde mich sehr freuen meine alte Unterkunft wieder zu sehen. Wie ich das alte Wohnzimmer vermisse!“ „Ist das so?“ Auf diese Aussage hin, schien sich sein Gesicht vor Freude zu erhellen und er lehnte sich erwartungsvoll vor. „Hast du es auch genug vermisst, dass du einverstanden wärst zurückzukehren und es rund um die Uhr in Beschlag zu nehmen?“ „Rund um die Uhr…wovon sprichst du, alter Freund?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie kann ich es noch klarer ausdrücken, mein Bester? Ich bitte dich um deine Einwilligung, dir die 221B wieder mit mir zu teilen“ „Aber, Holmes, jetzt warte doch mal…“ Doch er schüttelte nur den Kopf und ich wusste, dass keine noch so große Masse an Protest, seine eiserne Hartnäckigkeit erschüttern konnte. „Aber, aber, ich habe die ganze Sache schon gut durchdacht und du wirst an meiner Überlegungen nichts auszusetzen finden. Du brauchst nun kein so großes Haus mehr, nur für dich und das Kind und wie ich dich kenne, hast du ohnehin schon daran gedacht, zu verkaufen und näher zu deiner Ordination zu ziehen, nicht wahr?“ „Nun ja, schon…ich habe daran gedacht…“ „Großartig! Die Baker Street ist nur drei Straßen davon entfernt und außerdem wirst du, wenn du als Arzt gerade nicht so viel zu tun hast, sicher wieder mit mir arbeiten wollen, nicht wahr?“ „Aber Holmes, was ist mit meinem Sohn? Oder hast du einfach keinen Gedanken an ihn verschwendet, weil er nicht in deine Pläne passt?“ Holmes schnaubte, was bei ihm ein sicheres Zeichen von Ärger war. „Selbstverständlich nicht. Ich habe bereits mit Mrs. Hudson darüber gesprochen. Sie ist einverstanden, die Dachkammer einzurichten und als Schlafzimmer für Josh zu nutzen.“ „Aber wo soll das Kindermädchen wohnen?“ „Wozu braucht er schon ein Kindermädchen? Mrs. Hudson wird sich um ihn kümmern, wenn du bei der Arbeit bist, und natürlich auch, wenn die Jagd wieder begonnen hat.“ „Aber nein, so etwas kann ich doch unmöglich von ihr verlangen.“ „Dann wirst du sie, fürchte ich, sehr enttäuschen, Watson. Als ich das Thema zum ersten Mal anschnitt, war sie begeistert. Alle ihre Kinder sind erwachsen und ausgeflogen und du weißt, wie viel sie ihr bedeuten.“ „Aber, Holmes, das ist es doch gar nicht.“ Obwohl in jenem Moment, das gebe ich zu, war ich mir nicht recht sicher, was es war. Ich vermute, es geschah alles zu schnell. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dazu war, das Zuhause meiner Frau so bald zu verlassen und mein altes Leben völlig zu ändern. Aber ich musste zugeben, dass die Idee einen gewissen Reiz auf mich ausübte. Zurück in der Baker Street, zurück zu Holmes’ Fällen, zurück zu meinem Lebenszweck…Gott, hatte ich das wirklich gerade gedacht? Mein Lebenszweck war die Kranken zu heilen, und nicht diesem exzentrischen, arroganten Kerl hinterher zu laufen und über ihn in einer Art kindlicher Heldenverehrung zu schreiben. Ganz sicher… „Watson…“ Holmes versetzte mir einen kleine Stoß, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. „Woran denkst du, Doktor?“ Ich schüttelte den Kopf, während ich die Hände in meine Hosentaschen steckte. „Ich weiß es nicht. Ich sollte mir etwas Zeit nehmen und die ganze Sache durchdenken. Du bist gerade erst zurückgekehrt und überhaupt…mein Leben ändert sich so abrupt. Gib mir eine Nacht und…“ „Aber natürlich! Nimm dir alle Zeit, die du brauchst! Und nun, Watson, wenn es dir nichts ausmacht, ich habe noch eine andere Verabredung. Bis morgen, zehn Uhr in der Baker Street, bring den Jungen mit und wir werden die Feinheiten über den Umzug klären. Ich wünsche dir eine Gute Nacht und Watson…“ Er hielt inne und sein Gesicht verwandelte sich für eine Sekunde von Stahl zu Fleisch…oder vielmehr zum dritten Mal in jener Nacht – nur für einen Sekundenbruchteil, ehe der Zynismus zurückkehrte. „Es ist wundervoll dich wieder zu sehen“ „Mir geht es genauso, alter Freund. Mir geht es genauso. Ich…äh, bin froh, dass ich das sagen kann, weißt du. Und ich entschuldige mich…“ „Unnötig. Ganz und gar unnötig, Watson!“ Er unterbrach mich einmal mehr, aber angesichts seiner guten Stimmung konnte ich ihm kaum böse sein. Und ich muss zugeben, dass es meinem alten Herzen verdammt gut tat, ihn hier zu sehen, in meiner Diele, wie er sich den Stock auf die Schulter schwang und sich mit einem breiten Grinsen an die Hutkrempe tippte, ehe er in der Kälte von Londons nebliger Nacht verschwand. Nachdem Holmes und ich nun also unseren Streit bereinigt hatten, erwartete ich in jener Nacht friedlich wie ein Baby zu schlummern. Der Zustand meiner Nerven schien sich wieder einigermaßen normalisiert zu haben und trotz allem was geschehen war, geschweige denn was in naher Zukunft noch geschehen sollte, erfüllte mich ein tiefer Frieden, wie ich ihn seit Monaten nicht mehr gekannt hatte. Aber mit einem Mal war ich überhaupt nicht mehr müde und hatte viel zum Nachdenken. Ein schneller Blick auf das Feuer zeigte mir, das es in der Zeit, die ich mit meinem Freund verbracht hatte, zu knisternder Schlacke zusammengesunken war. Ich bewahrte die Zeitungen der vergangenen Wochen stets in einem Korb auf, um das Feuer damit anzufachen. Es muss Schicksal gewesen sein, dass die, nach der ich griff, fünf Tage alt war und ich aus irgendeinem Grund von der Schlagzeile auf der Titelseite angezogen wurde. Adairs Mörder gefasst, hieß es da. Ich war so in meine eigene verzwickten Angelegenheiten verwickelt gewesen, dass ich die ganze Woche lang auf keine einzige Zeitung geachtet hatte. Dennoch hatte Ivy, pflichtbewusst wie immer, nicht aufgehört sie zu sammeln und hier aufzubewahren. Schnell überflog ich den ganzen Artikel. Inspektor Lestrade von Scotland Yard gab heute bekannt, dass Colonel Sebastian Moran – ehemals tätig in der Indischen Armee Ihrer Majestät – unter Arrest gestellt wurde. Er beging den Mord an Ronald Francis Adair, der am Abend des 30. Septembers in seinem eigenen Haus zu Tode kam. Obwohl diese Verhaftung Lestrade zugeschrieben wird, beharrt dieser darauf, dass ein Gutteil des Erfolgs einem anonymen Dritten zu verdanken ist. Bei Colonel Moran wurde eine Art von Luftgewehr gefunden, von dem angenommen wird, dass es sich dabei um die Mordwaffe handelt. An diesem Punkt hielt ich im Lesen inne, denn plötzlich traf mich ein Gedanken daran, was Holmes über seinen verletzten Hals und den gebrochenen Finger gesagt hatte. Es war mir ein Vergnügen, London von dem Colonel zu befreien. Er musste von Colonel Sebastian Moran gesprochen haben. Aus verschiedenen Gründen erinnerte mich dieser Name an etwas. Der Band ‚M’ des Namensverzeichnisses, das Holmes über alle berichteswerten Personen führte, mit denen er eines Tages beruflich zu tun haben könnte, war mit besonders schweren Verbrechern gefüllt. „Nach Moriaty“, hatte mir mein Freund vor einiger Zeit erzählt. „Ist Colonel Moran der zweitgefährlichste Mann in London.“ Ich hatte mir in all dieser Zeit nichts dabei gedacht, aber nun konnte sogar ich die Verbindung erkennen. Holmes hatte mich in jener Nacht gebraucht, gebraucht um diese letzte Bedrohung, die seiner sicheren Rückkehr im Weg stand, zu eliminieren und was hatte ich getan? Ihn aus meinem Haus geworfen! Mein Körper versteifte sich leicht, als ich in einen Sessel niedersank und nach meiner Pfeife aus Kirschholz griff. „Oh, Holmes, ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn dir ein wirkliches Unglück geschehen wäre“, murmelte ich. Die Pfeife fühlte sich glatt und angenehm warm in meinen bloßen Händen an. Um die Wahrheit zu sagen, war sie ein Weihnachtsgeschenk, das ich vor fünf Jahren von meinem teuren Freund bekommen hatte. Hin und wieder gönnte ich mir den Genuss einer guten Pfeife, aber der eigentliche Pfeifenliebhaber war er. Diese spezielle war ein besonders schön gearbeitetes Stück und auch wenn ich nie etwas gesagt hatte, fand ich, dass er nicht so viel für mich hätte ausgeben sollen. Und in jenem Moment, als ich das ‚Tschack’ des Streichholzes hörte und die Rauchschwaden sah, die um meinen Kopf wirbelten, wurde mir klar, dass ich mich irgendwie bei ihm für all das revanchieren musste. Ich musste zurück. Zurück zur Baker Street, zurück zu The Strand und mehr als alles andere zurück meiner Aufgabe als Assistent und – egal wie eigensinnig es auch war – zurück zu Sherlock Holmes. ------------------------------------------------------------- [1] Watsons Aussage bezieht sich darauf, dass zu jener Zeit bei kleinen Kindern kaum zwischen Jungen und Mädchen unterschieden werden konnte. Joshs Haare waren wahrscheinlich lang und bis zu einem Zeitpunkt zwischen drei und sieben Jahren trugen alle Kinder eine Art Kleid. [2] Na gut, dass ist wahrscheinlich ein sehr verbreiteter Name für einen Sohn von Watson in Fanfiction. Aber es passte einfach so perfekt. Und um wenigstens ein bisschen Kreativität zu zeigen, gab ich ihm den Spitznamen Josh. [3] Eigentlich hat nicht Viktoria sondern Edward Holmes den Ritterschlag angeboten und es geschah im Jahr 1902 (in „Die drei Garridebs“), acht Jahre nach dieser Gesichte. Allerdings habe ich mir die dichterische Freiheit genommen, es etwas vorzuziehen. [4] Es gibt einiger Diskussionen darüber, an welcher Stelle Watson im Canon nun verwundet wurde. In „Studie in Scharlachrot“ ist die Wunde in seiner linken Schulter, aber in „Im Zeichen der Vier“ ist sie in seinem Bein. Für diese Geschichte habe ich mit einem recht beliebten Kompromiss begnügt und der arme Watson wurde an beiden Stellen verletzt. Hosted by Animexx e.V. 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