Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Bekenntnisse des Meisters Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D. (mit Überlegungen von Andrea Malcolm und Übersetzung von Yoru no Tenshi) Ich schreibe dies in dem ohne Zweifel letzten Kapitel meines Lebens, um etwas in Worte zu fassen, das ich nicht mit in mein Grab nehmen kann. Ich weiß nicht ob diese Zeilen jemals gelesen werden und vielleicht wäre es auch besser wenn nicht. Doch in jedem Falle muss ich diese Geschichte, von der die Öffentlichkeit nichts ahnt, niederschreiben. Es geht mir dabei gar nicht so sehr um mich, sonder viel mehr um Sherlock Holmes. Er musste in seinem Leben vieles ertragen und davon war der Druck der Öffentlichkeit nicht das Geringste. Er war - zeitweise - dazu gezwungen, jemand zu sein, der er nicht war. Ich kenne ihn besser als jeder andere und deshalb nehme ich meine Feder wieder auf, um eine teure Seele schlussendlich zur Ruhe zu betten und die Wahrheit über diesen Mann zu zeigen und nicht nur über den Meister. Kapitel 1 Rückblickend war das Jahr 1891 eines der glücklichsten und zugleich traurigsten Jahre meines Lebens. Niemals hatte ich solche Freude und solche Trauer im Zeitraum von nur wenigen Monaten erfahren und mehr noch, in jenem Jahr schien sich eine dunkle Wolke nicht nur auf meine Familie, sondern in der Tat auf London selbst zu senken. Doch dies soll noch rechtzeitig erzählt werden. Um die Ereignisse, die in jenem schicksalhaften Jahr und danach geschahen, völlig zu verstehen, ist es notwendig, auch zu verstehen, wie alles begann – an jenem Tag, an dem mein Leben eine unerwartete Wendung nahm. Es war Ende Februar, wie ich mich erinnere, ein kühler, grauer Tag, an dem man gemütlich zu Hause vor einem knisternden Feuer bleibt, in der Hand ein heißes Getränk und vielleicht ein gutes Buch. Doch obwohl ich mich an all das gut erinnere, weiß ich noch genau, dass ich mich nicht im Geringsten darum kümmerte. Es war kurz nach dem Mittagessen, als ich beschloss meine Praxis für heute zu schließen und meiner alten Unterkunft in der Baker Street und vor allen Dingen meinem alten Freund Mr. Sherlock Holmes einen Besuch abzustatten. „Ah, Doktor“, begrüßte mich die Wirtin Mrs. Hudson, als sie die Tür öffnete. „Was für eine angenehme Überraschung“ „Mrs. Hudson“, rief ich voller Bewegung, nicht nur weil ich mich freute sie nach vielen Monaten wieder zu sehen, sondern auch wegen der Neuigkeiten, die ich zu verkünden hatte. „Sie sehen reizend aus, wie immer!“ Ich küsste sie auf die Stirn und eilte die Treppe hinauf, ohne mich mit der Frage aufzuhalten, ob mein Freund zu Hause sei. „Dr. Watson!“, hörte ich ihren Ausruf hinter mir. Sie lachte vergnügt wie ein Schulmädchen. Als ich die Tür zum Wohnzimmer aufriss, sah ich sofort Holmes, der wie so oft in seinem Lehnstuhl am Feuer saß. Die schwarze Tonpfeife hing von seinem hageren Kinn. Seine grauen Augen waren blank und weit geöffnet – auf etwas gerichtet, was nur er sehen konnte. Zuerst dachte ich er hätte sich Kokain gespritzt, doch weil ich weder seine Spritze noch ein Kokain-Fläschchen herumliegen sah, entschied ich mich im Zweifel für den Angeklagten. Es war schließlich ein recht vertrauter Anblick für ihn, ob er nun unter Drogen stand oder nicht. Doch obwohl ich ihn in einem solchen Zustand für gewöhnlich in Ruhe gelassen hätte, tat ich an jenem Tag nichts Derartiges. „Holmes!“, rief ich, während ich die Tür hinter mir schloss. „Ich muss dir etwas erzählen!“ Wie es seine Gewohnheit war, befasste er sich noch mehrere Sekunden mit dem seltsamen Rätsel, das wohl gerade seinen großartigen Geist plagte, doch schließlich kehrte er in die Gegenwart zurück und seine Augen blitzten mich an. „Na, wenn das nicht mein alter Kollege ist, der verehrte Doktor Watson. Wie geht es dir, alter Freund?“ „Mir geht es wirklich ausgezeichnet.“ Ich konnte mich kaum davon abhalten, sofort mit meinen Neuigkeiten herauszuplatzen. „Und ich muss…“ „Bitte, nimm noch Platz“, unterbrach Holmes und deutete mit seiner Pfeife auf meinen alten Lehnstuhl. „Danke. Und nun muss ich dir etwas erzählen…“ „Oh, ja. Dein erstes Kind ist selbstverständlich eine aufregende Neuigkeit, in der Tat. Meinen herzlichen Glückwunsch, mein Freund, an euch beide, dich und Mrs. Watson.“ Er sprang von seinem Stuhl, wie ein Jagdhund auf die Beute und drückte meine Hand aufs Herzlichste. Ich muss zugeben, dass ich vollkommen sprachlos war. Nun bist du, werter Leser, dir zweifellos darüber im Klaren, dass Sherlock Holmes und ich uns vor meiner Heirat sehr nahe standen und ich bei zahllosen Gelegenheiten Zeuge seiner Brillanz geworden war. Ich habe gesehen, wie er nur von einem unscheinbaren Filzhut [1] oder einem gewöhnlichen Gehstock [2] genaue Details über das Leben eines Mannes herleitete – nur zu oft in genau diesem Raum, doch was mein eigenes Leben anging, so konnte ich nicht erraten, woher er dies hätte wissen können. Meiner Kehle entkam ein Laut, der dem eines Ochsenfrosches recht ähnlich war und ich bin mir sicher, wäre ich nicht gesessen, hätte ich recht weiche Knie bekommen. „Du musst in der Tat mehr als nur menschlich sein, Holmes. Übernatürlich, oder so ähnlich.“ Er brach in schallendes Gelächter aus. „Aber, aber, mein Freund. Ich hätte gedacht, dass wenigstens du von allen Menschen, mir nicht so etwas unterstellen würdest. Es ist alles ganz einfach, das versichere ich dir.“ „Für dich, Holmes, ist es immer ganz unbegreiflich einfach. Aber diesmal bist du zu weit gegangen. Irgendwie, “ Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf ihn, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Irgendwie musst du dieses Mal einen Wink bekommen haben. Ich weiß nicht wie, aber du konntest unmöglich wissen, dass meine Frau schwanger ist.“ „Ich versichere dir, Watson, es ist nichts in der Art geschehen. Wenn du so freundlich wärst, dich selbst aus meinem Humidor[3] zu bedienen. Ich habe einige ausgezeichnete Havannas, von denen ich sicher bin, du würdest sie genießen. Und dann will ich es erklären.“ Erwartungsvoll sank ich in meinen Sessel zurück und zündete meine Zigarre an. Ich konnte nicht im Geringsten erahnen, wie er das herausbekommen hatte, aber ich musste hören, was er zu sagen hatte. Holmes, dessen Gewohnheit es war, einen auf die Folter zu spannen, zündete sich eine zweite Pfeife an und nahm ein paar Züge. Als er damit zufrieden war, wand er sich mir mit einem schnellen Grinsen auf seinem Gesicht zu. „Mein lieber Doktor“, sagte er. „Ich habe deine Neuigkeiten schon seit genau jenem Moment vorhergesehen, als du begannst an meine Zimmertür zu klopfen[4].“ „Aber wie…“, begann ich, doch er hob seine Hand. „Die Uhrzeit, Watson, die Uhrzeit.“ „Wieso es…ist Viertel nach eins.“ „Nein, nein. Ich wusste es wegen des Zeitpunktes, als du hereinkamst. Siehst du, Watson, es war genau zehn Minuten nach eins, als du hier ankamst. Ich versicherte mich dessen. Wenn man nun die übrigen Faktoren berücksichtigt – die Tatsache, dass es eine achtminütige Kutschenfahrt von deinem Büro zur Baker Street ist (außer bei zu heftigen Verkehr) und natürlich dass du dein Mittagessen immer von zwölf bis genau ein Uhr einnimmst – dann schließe ich daraus, dass dich deine Frau in deiner Praxis während der Mittagspause besuchen kam. Währenddessen erzählte sie dir zweifellos von ihrer Schwangerschaft. Und nach dem Essen suchtest du mich unverzüglich auf, um mir die Neuigkeiten zu erzählen – ich fühle mich selbstverständlich sehr geehrt, dass du sogleich hierher geeilt bist.“ „Aber…aber…“ Ich versuchte das alles im Geiste zu verbinden, aber ich muss zugeben, ich konnte es nicht. „Aber woher wusstest du überhaupt, dass meine Frau mich besucht hat? Ich kann die Verbindung nicht sehen.“ „Du kannst es nicht? Oh, komm schon, Watson. Du bist schließlich ein Doktor. Denkst du wirklich, dass sie, sobald sie sich über diese Sache erst einmal sicher sein würde, gewartet hätte, bis du am Abend nach Hause kämest? Und natürlich wärst du bereits am Morgen zur Arbeit gegangen. Nein, nein, sie würde dich in deiner Praxis besuchen. Besonders weil es euer erstes Kind ist. Die Aufregung, nehme ich an. Aber da ich weiß, dass sie eine Lady von ausgezeichnetem Benehmen ist, bin ich sicher, sie würde dich nicht stören wollen, während du einen Patienten hast. Daraus schließe ich: Mittagspause.“ „Na gut“, sagte ich. „Ich gebe zu, dass das Sinn macht. Dir sollte klar sein, dass du, mein teurer Freund, der erste wärst, dem ich davon erzählen wollte und dass ich sofort zu dir eilen würde, nachdem Mrs. Watson und ich gegessen hätten. Ich gebe auch zu, dass du von meinem Verhalten leicht auf aufregende Neuigkeiten schließen konntest. Aber ich verstehe immer noch nicht…“ „Parfum“, antwortete Holmes schlicht. „Parfum…was?“ „Du riechst nach Mrs. Watsons Parfum, mein Freund“ Seine Augen leuchteten – er genoss nichts mehr, als mir die Erklärung zu einem mysteriösen Geheimnis zu präsentieren. „Parfum haftet nur so lange am Jackett eines Mannes, Watson, bis der Geruch seiner Zigarre oder auch Zigarettenrauch es übertünchen. Da ich es aber an dir riechen konnte, war mir klar, dass du erst vor kurzem von deiner lieben Frau umarmt wurdest, irgendwann nachdem du zuletzt geraucht hattest. Von hier aus war es eine einfache Deduktion, dass du deine Frau zur Mittags-zeit sahst. Und da ihr normalerweise nicht zusammen esst, wusste ich, dass es einen besonderen Anlass haben musste. Und welcher besondere Anlass könnte eine Ehefrau sonst dazu bringen, ihren Mann während der Arbeit aufzusuchen? Sie erzählte dir die wundervollen Neuigkeiten, du umarmtest sie in einem Anflug von Freude, wobei ihr Parfum auf dein Jackett gelangte und dann riefst du dir - so schnell du konntest - eine Kutsche. Und hier bist du nun.“ „Hier bin ich in der Tat!“ sagte ich lachend. „Mein lieber Holmes, ich muss sagen selbst nach all diesen Jahren tiefster Vertrautheit zwischen uns, erstaunst du mich immer wieder. Ich hätte niemals gedacht, dass du so etwas so leicht herausfinden könntest.“ „An Dinge, für die es kein Heilmittel gibt, sollten auch keine Gedanken verschwendet werden[5], Doktor. Doch eigentlich war es kein so schwieriges Rätsel, wie es scheint. Und ich gestehe - nur dir, Watson, nur dir - dass ich zwar recht überzeugt von meinem Heilmittel war, aber ich war trotzdem nicht…“ Er lächelte kurz und kaum merklich, „komplett sicher.“ „Ha!“, rief ich aus. „Holmes, du verschlagener alter Teufel!“ Er schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter. „Und nun, Watson, müssen wir aber auch ein wenig feiern. Mrs. Hudson!“, rief er, dass es in meinen Ohren gellte. Meine alte Wirtin erschien - zuverlässig wie immer, trotz der etwas rohen Manieren meines Freundes. „Wir brauchen etwas von dem exzellenten Champagner, den Sie aufbewahrt haben, Madam. Wir müssen auf den bevorstehenden Abkömmling unseres werten Doktors anstoßen.“ „Abkömmling?“ fragte Mrs. Hudson. „Welcher Abkömmling?“ „Meine Frau und ich erwarten ein Kind, Mrs. Hudson.“ sagte ich von plötzlichem Stolz erfüllt. Sie nahm einen tiefen Atemzug und klatschte in die Hände. „Tatsächlich? Oh, das sind ja wundervolle Neuigkeiten, Dr. Watson! Wirklich wundervoll! Ich freue mich so sehr für Sie!“ „Vielen Dank, meine Liebe, vielen Dank.“ „Mrs. Hudson…“, unterbrach uns Holmes. „Der Champagner?“ „Ohh…“ sie runzelte ärgerlich die Stirn. „Zumindest Sie haben es für sich zu etwas gebracht, Doktor. Wir werden wohl niemals eine Frau oder Kinder von dem hier sehen. Ich weiß einfach nicht, was mit manchen Männern los ist. Sobald sie auch nur in die Nähe einer Lady kommen, können sie sich nicht mehr vernünftig benehmen. Können nicht einmal eine einfache Beziehung haben.“ Ich musste mich sehr hart am Riemen reißen, um nicht laut loszulachen. Der bloße Gedanke an Sherlock Holmes in einer Ehe mit kleinen Holmes' um ihn herum, schien völlig absurd! Ich war mir allerdings nicht ganz sicher warum. Oh, ich gebe gerne zu, dass es teilweise wohl daher stammte, dass Holmes bei mehreren Gelegenheiten von seiner Geringschätzung für das weibliche Geschlecht im Ganzen gesprochen hatte, doch ich hatte niemals wirklich darüber nachgedacht. Bis zu jenem Moment. Als Holmes kaum hörbar die seltsamste Aussage murmelte, die ich jemals von ihm gehört hatte. „Und Sie werden mich auch niemals in einer solchen Beziehung finden. Mit keiner Frau.“ - Ich erinnere mich an diese Begebenheit als den Anfang dieser Geschichte, denn sie war nicht nur für mein Leben sondern auch für das von Holmes von so unglaublicher Bedeutung. Nur Monate später zog uns das finstere Auftauchen Professor Moriatys in jenes Abenteuer, das schließlich zum scheinbaren Tod meines Freundes bei den Reichenbachfällen führte. Und ich muss zugeben, dass die Erinnerung, an jenem teuflischen Ort zu stehen mit seiner letzten Nachricht in der Hand, noch ohne mir wirklich darüber im Klaren zu sein, dass sein Genie, seine Schönheit für immer verloren sein sollte, mich bis heute verfolgt. Und es war noch schlimmer, dass niemand es verhindern konnte. Nicht einmal ich – sein engster Vertrauter und treuster Freund. Ich werde die Ereignisse, die zum Untergang meines Freundes führten, hier nicht noch einmal erzählen, da ich sie bereits vor langer Zeit veröffentlicht habe. Aber ich muss berichten, was im Winter des Jahres 1894 [6] geschah, dreieinhalb Jahre nach Sherlock Holmes Tod. Und zu einer Zeit als es mich kaum noch kümmerte, ob ich selbst leben oder sterben sollte. ______________________________________________________________________ [1] „Der Blaue Karfunkel“ [2] „Der Hund der Baskervilles“ [3] Eine Art Aufbewahrungsbehälter für Zigarren [4] Holmes zitiert Poe – „Der Rabe“ [5] aus „Macbeth“ (3.2.11) (Original: “Things without all remedy should be without regard”) [6] Ich weiß, dass Holmes eigentlich im Frühling 1894 nach London zurückkehrt, aber aus handlungstechnischen Gründen, habe ich mir die Freiheit genommen, es in Winter zu ändern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)